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Klassiker des Tanztheaters
Zwei neue Tanz-DVDs · Von Malve Gradinger
Dornröschen
Pyotr Ilyich Tchaikovsky: „The Sleeping Beauty“, The Kirov Ballet. Arthaus Musik
Kein großes Ballettensemble, das nicht Tschaikowskys „Dornröschen“ im Repertoire hat – mehr oder weniger getreu der Originalchoreografie von Marius Petipa. Der Meister hatte das Charles-Perrault-Märchen von der Prinzessin Aurora und ihrem 100-jährigen Schlaf 1890 für das Ballett des St. Petersburger Marientheaters entworfen. Somit ist anzunehmen, dass diese jetzt auf DVD vorliegende Neuinszenierung von 1952 des langjährigen Mariinsky-Ballettleiters (von 1951 bis 1956 und von 1960 bis 1970) Konstantin Sergeyev, bekannt als ausgesprochener Traditionalist, dem Original am nächsten kommt. Sergeyevs Version beinhaltet noch Szenen, die in jüngeren Neuinszenierungen gestrichen wurden. So das Zwischenspiel mit den jungen Dörflerinnen, die wegen ihrer Stricknadeln zunächst vom König zum Tode verurteilt werden. Oder die Darbietung „Rotkäppchen und der Wolf“ bei den Hochzeitsfeierlichkeiten. Sergeyevs Werktreue, die wohl auch auf die einzelnen Variationen zutrifft, macht diese DVD historisch interessant.
Allerdings ist der Mitschnitt (mit offensichtlich zu wenigen Kameras) anlässlich des Montreal-Gastspiels 1989 bei dunklem Bühnenlicht und bei häufigen Supertotalen und daher zu Winz-Playmobils geschrumpften Tänzern ziemlich ermüdend. In der Halbtotalen sind die Füße oft abgeschnitten. Und trotz Nahaufnahmen bleiben die Solisten im Liliput-Format. Eingefleischte Ballettomanen werden das verschmerzen. Und immerhin ist die damals 20-jährige Larissa Lezhnina, die 1994 zum Holländischen Nationalballett wechselte, eine technisch filigrane und mit barock-höfischer Allüre sehr anmutige Aurora. Und der exotische Farukh Ruzimatov, wenn auch eher der rassige Typ „Corsaire“, ein Sprung-eleganter Prinz Désiré.
Cloud Gate Dance
Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan: „Songs of the Wanderers“, Arthaus Musik.
Lin Hwai-min ist einer der ungewöhnlichsten Choreografen der Tanzmoderne. Der 1947 in der taiwanesischen Provinzstadt Chiayi geborene Sohn eines Ministers der Kuomintang-Regierung nimmt – neben dem Journalismus-Studium – gegen den Willen der Familie heimlich Tanzunterricht. Ein Literaturstipendium Anfang der 1970er-Jahre in den USA bietet ihm die Gelegenheit, sich bei Martha Graham und Merce Cunningham im Modern Dance weiterzubilden. 1973 gründet er mit zwanzig engagierten Tänzern und privaten Sponsorengeldern Taiwans erste moderne Compagnie, das Cloud Gate Dance Theatre. Der Name „Wolkentor“, entlehnt einem 5.000 Jahre alten rituellen chinesischen Tanz, hat programmatische Bedeutung für Lins sich hoch künstlerisch entwickelnde Arbeit: In seinen Modern-Dance-Stil fließen die klassischen Tanztechniken der Peking Oper, der koreanischen und japanischen Hoftänze und die klassische indische Tanzkultur ein. Und zwar choreografisch so intelligent, dass sich ein ganz neuer, im Grunde nur dem Cloud Gate Dance Theatre eigener Stil herausbildet – wie er gerade in „Songs of the Wanderers“ von 1994, einem der wichtigsten Werke in Lins umfangreichem Repertoire, zu bewundern ist.
Westliche Ungeduld muss man abstreifen, muss sich einlassen auf diese in meditativer Langsamkeit fließende Tanzbewegung. Meditation ist tatsächlich – wie man im Bonusteil erfährt – als kreative Quelle in den choreografischen Prozess integriert. Inspiriert vom Zen-Buddhismus, schickt er hier seine Tänzer auf eine Zeit-aufhebende Wanderschaft. In ihren schlichten Gewändern mit ihren knorrigen Wanderstöcken werden sie zu Sadhus, Indiens heiligen Männern, die ein Leben in Armut und Disziplin gewählt haben. Und wenn sie sich auf der mit Reis (Asiens Symbol für Leben) bedeckten Bühne fortbewegen, manchmal mit rituell ekstatischem Aufbäumen und Hinstürzen, meist jedoch trancehaft langsam in ihren zwischen Martha-Graham-Moderne und Tai Chi zart gebrochenen Bewegungen, umhüllt vom chorischen Klang georgischer Volkslieder, wird man mitgenommen auf eine Pilgerfahrt zu sich selbst. Diese 1999 bei einem London-Gastspiel exzellent mitgeschnittene Arbeit ist ein besonderer Klassiker des zeitgenössischen Tanztheaters.
Malve Gradinger |