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Auf ein Wort mit...

Fabrice Bollon, Generalmusikdirektor des Theaters Freiburg

Am 5. Januar 2014 wurde am Theater Freiburg die Oper „Oscar und die Dame in Rosa“ uraufgeführt (O&T Heft 1/2014). GMD Fabrice Bollon hat das Libretto von Clemens Bechtel nach der gleichnamigen französischen Erzählung von Éric-Emmanuel Schmitt als Oper für die ganze Familie vertont. Die durchschnittliche Auslastung der zunächst angesetzten 11 Vorstellungen mit über 90 Prozent macht eine Wiederaufnahme in der kommenden Spielzeit zu einer Selbstverständlichkeit, die allein für eine zeitgenössische Oper schon als großer Erfolg gelten muss. Die Freiburger Opernchorsänger Jörg Golombek und Pascal Hufschmid haben sich zu einem Gespräch über Entstehung und Anliegen seiner Familienoper mit dem Komponisten getroffen.

Jörg Golombek: Seit der Uraufführung wurde Ihre Oper inzwischen siebenmal gespielt – Kritiker und Zuschauer sind sich in ihrer Zustimmung einig wie selten! Gestern startete die zweite Aufführungsserie mit noch einmal vier nahezu ausverkauften Vorstellungen.Wie geht es Ihnen mit diesem Zuspruch des Publikums und der einhelligen Zustimmung der Kritiker?

Fabrice Bollon. Foto: Maurice Korbel

Fabrice Bollon. Foto: Maurice Korbel

Fabrice Bollon: Erst einmal bin ich froh und auch überrascht, denn natürlich wünscht man sich das. Es war schon mein Ziel, möglichst verständlich zu schreiben, ohne mich mit Klischees anzubiedern, eine Referenz an frühere Komponisten und Stile nicht auszuschließen, aber auch nicht zur Hauptsache zu machen. Meine grundsätzliche Haltung zum Komponieren ist an derjenigen der Komponisten des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts orientiert, die mindestens gleichstark auf Handwerk wie Konzept vertrauen. Ich höre alles, was es um mich herum gibt, und was mich interessiert und fasziniert, findet von selbst Eingang in meine kompositorische Sprache.

Golombek: Spielt es dabei eine Rolle, woran Sie als Dirigent gerade arbeiten?

Bollon: Ich hoffe nicht, kann das aber natürlich nicht ausschließen. Bewusst geschieht es jedenfalls nicht. Natürlich hat es für mich direkte Inspirationen gegeben. Es gibt Stellen, bei denen ich Anregungen aus der Popmusik bezogen habe. So zum Beispiel im Zweiten Teil am Vierten Tag, wenn Oma Rosa über das Lächeln ihrer Mutter beim Sterben erzählt, wie diese sich auf den Tod gefreut hat – da habe ich lange überlegt, welche Musik ich dazu schreiben könnte, damit es nicht kitschig wird, damit es glaubhaft ist. Ich habe lange nach einem Motiv gesucht und irgendwann im Auto lief Peter Gabriel, ein afrikanisch-javanisch geprägter Song, das gab mir die zündende Idee.

Pascal Hufschmid: Trotz allem ist es ja nicht selbstverständlich, dass es dann so erfolgreich läuft. Hat man nicht auch Angst und Bedenken bei so einem großen Projekt?

Bollon: Bis zum Ende der Premiere, ja, da hatte ich Riesenangst. Auch weil der Klavierauszug wenig darüber erzählen kann, was klanglich kommen wird. Die Klänge des Orchesters sind wesentlicher Teil des Ausdrucks, zum Beispiel gibt es in der großen Chornummer viel Schlagzeug, viele klangliche Effekte, die sehr, sehr wichtig sind, oder in der Arie der Oma Rosa, die als Rap geschrieben ist, läuft im Orchester nur ein Drumset – wie soll man das am Klavier realisieren? So war es für den Probenprozess besonders wichtig, dass die Sänger so früh wie möglich das richtige Klangbild kennenlernen. Man kann dieses Stück ohne Vertrauen auf das, was musikalisch kommen wird, einfach nicht gut lernen. Ich habe gespürt, dass dieses Vertrauen trotz aller Professionalität zunächst nicht sehr groß war.

Hufschmid: Bei einer Uraufführung fehlt auch jede Vergleichsmöglichkeit und Erfahrung...

Bollon: Genau. Jeder wartet auf das Orchester mit der Hoffnung, dass sich dann das Stück erschließen wird. Deshalb muss das Orches-ter gleich etwas präsentieren, das schon sehr nah an dem ist, was geschrieben steht. Ansonsten entsteht Unruhe und für mich auch die Angst, ob ich mich geirrt habe und ob es richtig ist, was ich mir gedacht habe. Wie Sie wissen, wollte ich die Uraufführung ursprünglich nicht dirigieren, weil man als Dirigent einen anderen Blick auf das Werk haben muss als der Komponist. Gott sei Dank habe ich aber die Haltung als Dirigent finden können.

Golombek: Wir beide standen gestern beim Schlussapplaus hinter Ihnen und Sie hatten Oscar an der Hand. Wie ist es, sein eigenes Geschöpf an die Hand nehmen und auch nach sieben Vorstellungen einen mehr als höflichen Applaus entgegennehmen zu können?

Bollon: Das ist das Schöne: dass alles so wunderbar aufgegangen ist. Wenn ich Oscar an die Hand nehme, fühle ich mich als Dirigent, viel weniger als Komponist. Ich habe jetzt die Aufnahmen vom SWR bekommen, aber ich schaffe es nicht sie anzuhören – unmöglich! Da spricht wieder der Komponist in mir, der merkt: O.k., es ist vorbei. Vergleichen Sie das mit einem Koch, der ein Rezept über Monate entwickelt hat, den es natürlich sehr froh macht, wenn es von den Leuten bestellt wird – ich weiß nicht, ob er dann selber noch davon essen wird. Ich denke, nach drei bis vier Jahren kann das wieder möglich sein.

Starke literarische Vorlage

Golombek: Weder das Sujet noch Ihre Musik machen es dem Publikum besonders bequem. Wie kam es dazu, dass Sie dieses Thema für Ihre erste Oper ausgesucht haben? Sollte es ein so anspruchsvolles Thema sein?

Bollon: Ich empfinde es nicht als so anspruchsvoll. Die Geschichte an sich ist banal. Es sind die Art, wie sie erzählt wird, und die enthaltenen Parabeln, die das Stück ausmachen. Die Stärke der literarischen Vorlage ist, dass jeder sich darin erkennen kann – egal ob 10 oder 80 Jahre alt. Ich wollte als erste Oper eine Oper für die ganze Familie schreiben. Das Paradebeispiel dafür, „Hänsel und Gretel“, ist allerdings hauptsächlich eine Oper für Kinder, zu der die Eltern gern mitgehen.

Hufschmid: Sie haben also quasi Neuland betreten mit dieser Form des Operneinstiegs?

Auch der Kinderchor singt mit... Foto: Maurice Korbel

Auch der Kinderchor singt mit... Foto: Maurice Korbel

Bollon: Das ist der Punkt. Ich wollte bewusst eine Oper für die Familie schreiben, denn mit Schulklassen wird es so nicht funktionieren. In Oscar ist der Stoff sehr intim und es braucht eine besondere Konzentration, die man mit Schulklassen nur schwer erreichen kann. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es bei Kindern mit Eltern super funktioniert – sie halten bis zum Schluss die Konzentration.

Golombek: Besonders finde ich auch, dass man sich in dieser ernsten Geschichte zum Beispiel darüber freuen kann, in welchem Ton Oscar mit seinen Eltern redet – eben „frech wie Oscar“. Man vergisst beinahe die Traurigkeit der Geschichte.

Bollon: Aber Oscar ist nie traurig. Er hat sein Schicksal verstanden und dass er damit umgehen muss.

Golombek: Er ist erwachsener als alle Erwachsenen.

Bollon: So ist das. Oscar ist eine Lebenslektion. Auf das Buch bin ich zufällig in einer Freiburger Buchhandlung gestoßen und hätte es beinahe nicht gekauft, weil der Inhalt eigentlich falsch angegeben war – es ist nämlich nicht die Geschichte eines krebskranken Jungen, der stirbt und an Gott schreibt. Es ist die Geschichte eines Jungen, der durch die Begegnung mit einer alten Dame einen Sinn in seinem Leben findet, obwohl dieses nur noch auf elf Tage begrenzt ist. Wir lernen ihn als jemanden kennen, der wahnsinnig viel Mut hat und sich den Dingen stellt...
Ich habe also das Buch gelesen und war schon vom ersten Satz total fasziniert: „Lieber Gott, ich heiße Oscar und bin 10 Jahre alt, ich habe die Katze, den Hund und das Haus angezündet, ich glaube, ich habe sogar die Goldfische gegrillt…“ Das ist nicht das, was man erwartet hätte, und man ist sofort in der Geschichte drin. Ich konnte einfach nicht aufhören zu lesen und wusste danach: Ja, daraus muss man eine Oper machen, das ist ganz klar!
Ich habe mit der Freiburger Intendantin Barbara Mundel über das Projekt gesprochen und sie sagte, dass sie die Uraufführung gerne hier am Haus haben möchte. Das Profil des Theaters war schon damals stark auf Musikvermittlungsarbeit für Kinder und Jugendliche ausgerichtet. Wir haben entschieden, dass es ein Geschenk für das Freiburger Theater werden sollte, ganz nach der alten Kapellmeistertradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als jeder Kapellmeister für sein Haus etwas geschrieben hat.

Golombek: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Librettisten Clemens Bechtel, der sicher nicht zufällig die Regie übernommen hat?

Bollon: Er ist eigentlich spezialisiert auf Dokumentar-Theater nach seinen eigenen Texten. Dass er in ganz verschiedenen Stilen schreibt, fand ich sehr gut für unsere Sache und sprach ihn auf Oscar an. Er hat das Buch gelesen und war auch begeistert von der Idee. Was er aus der Oper machen wollte, war genau das Gegenteil von dem, was mir vorschwebte. Deswegen wollte ich unbedingt mit ihm zusammenarbeiten. Dass wir uns von verschiedenen Standpunkten der Geschichte nähern, ist zwar der schwierigere Weg, aber uns beide hat animiert, dass es uns nicht um unser jeweiliges Konzept ging, sondern dass wir eine Oper realisieren, die den Stoff gut rüberbringt. Den gemeinsamen Weg dann immer wieder zu finden war sehr spannend.

Eine Oper für die Familie

Hufschmid: Gibt es in Bezug auf die Komposition auch Kompromisse? Es gibt ja einerseits die Kunst und andererseits die Möglichkeiten, die man am Haus vorfindet.
Bollon: Der Kompromiss ist besser für die Kunst. Ich will eine Oper für die Familie, die muss überall mit einem gängigen Apparat spielbar sein. Manchmal hätte ich gerne die 4. Trompete gehabt, aber da hab ich mir mit Horn oder Oboe für die Akkordbildung geholfen – so ist eben die Arbeit am Theater, das ist Oper. Seit Schönberg haben wir ein viel zu starres Bild vom Komponisten. Wenn Sie Mahler oder Bruckner ansehen, wie oft die noch geändert haben... – diese Flexibilität ist für das Theater doch elementar wichtig. Natürlich habe ich mir beim Schreiben bestimmte Sänger vorgestellt – ich habe für Xavier Sabata (Oma Rosa) geschrieben, also für einen Altus und keinen Sopran-Counter, und ich wusste, dass Kammersänger Neal Schwantes Doktor Düsseldorf singen wird.

Golombek: Im Klavierauszug bedanken Sie sich unter anderem bei Ihrer Frau und Ihren Kindern, die sicher die ersten kritischen Zuhörer gewesen sind. Wie darf man sich Ihre Arbeitsweise als Komponist vorstellen?

Ein Höhepunkt, der richtig fetzt: der „Alptraum“ in „Oscar und die Dame in Rosa“.  Foto: Maurice Korbel

Ein Höhepunkt, der richtig fetzt: der „Alptraum“ in „Oscar und die Dame in Rosa“. Foto: Maurice Korbel

Bollon: Ich habe immer geschrieben wenn ich gerade Zeit hatte, arbeite viel am Computer, weil ich hauptsächlich vom Orchesterklang und der Vorstellung des Gesangs ausgehe. Das Klavier verwende ich, um Harmonien richtig zu checken. Wenn ich nach vielen Skizzen und Notizen merke, dass eine Idee reif ist, entwickle ich diese und dann geht es fast in einem Zug. Die erste schwierige Szene, die ich zu knacken hatte, war das erste Duett zwischen Oscar und Oma Rosa. Das ist Konversation, die schnell langweilig werden kann, aber sie ist wahnsinnig wichtig für das ganze Stück. Die Musik darf die Handlung nicht ersticken und muss die Leichtigkeit und Frechheit der Oma Rosa zeigen. Dabei muss man berücksichtigen, dass ein Counter einfach nicht das Volumen eines Wotan oder Siegfried hat und dass in dieser Szene der Text unbedingt verstanden werden muss, da man sonst den restlichen Abend aufgeschmissen ist.

Golombek: ...weil mit dieser Szene die Geschichte ihren Lauf nimmt.

Bollon: An diesem Duett habe ich in drei Wochen fast täglich vier bis fünf Stunden gearbeitet. Aber als ich das hinter mir hatte, wusste ich, dass ich die Oper schaffen würde.

Golombek: Wir haben schon über Familienoper gesprochen. Denken Sie als GMD dabei ganz bewusst an das Publikum von morgen? Geht es Ihnen besonders um das familiäre Erlebnis in der Oper?

Bollon: Ich sehe, dass wir in den letzten 40 Jahren etwas ganz Wichtiges versäumt haben – wir haben keine Brücken zu uns gebaut. Wir haben uns in unserem großen Kunstturm eingesperrt und gesagt: Wir sind fantastisch und wenn du uns nicht verstehst, bist du null. Natürlich muss das Kunstideal hochgehalten bleiben, weil es zeigt, was der Mensch alles Schönes erreichen und erzeugen kann. Wir sind die Einzigen, die Stufen in den Turm bauen können, weil wir wissen, wie es da oben funktioniert und weil wir die Stufen selbst ersteigen mussten. Dafür müssen wir aber auch Werke haben, die das ermöglichen. Deswegen machen wir auch den „Kleinen Freischütz“ und die „Kleine Zauberflöte“ ...

Hufschmid: ...und man muss auch Repertoirestücke haben, die man noch erkennen kann.

Bollon: Wenn ein Regisseur so komplex arbeitet, dass ein Zuschauer, der zum ersten Mal kommt, nichts versteht, wird er nicht noch einmal kommen – das halte ich für ein ganz großes Problem.

Golombek: Man braucht schon das Original, um mit einer anderen Version überhaupt etwas anfangen zu können.

Bollon: Wenn mehr funktionierende neue Opern auf die Bühne kämen, hätte man die nötige Erneuerung, ohne vielleicht das „Alte“ zu sehr verbiegen zu müssen.

Hufschmid: Und woran liegt es, dass moderne Stücke fehlen? Am Geld?

Bollon: Nein, es liegt sehr an der mangelnden Bereitschaft der Komponisten und Librettisten, Kunst für die Menschen und nicht Kunst für die Kunst schaffen zu wollen – auch im Bereich Konzert. Die Neue-Musik-Szene ist viel zu sehr spezialisiert. Neben der überintellektuellen Annäherung gibt es viel zu populistisch Komponierende – ich spreche nicht vom Musical – und dazwischen ist nix. Ich selbst gehöre zu keiner dieser Strömungen und bewege mich dazwischen. Natürlich ist die Problematik viel komplexer, als dass man sie so in Klischees zusammenfassen könnte.
Hufschmid: Spielt auch die Angst, die The-ater nicht füllen zu können, eine Rolle?
Bollon: Gehen wir zurück zu Puccini. Da wurde kaum etwas gespielt, was nicht modern war. Natürlich Verdi, vielleicht mal Rossini – ansonsten hat man die Opern der Zeit gespielt.
Bis in die 30er-, 40er-Jahre hat man immer Neue Musik gespielt. Nach dem 2. Weltkrieg hat sich das geändert. Die radikale Stellungnahme, die Boulez und andere eingenommen haben, kombiniert mit dem Starsystem à la Karajan, hat zu einer sehr schwierigen Situation geführt: wenig Arbeit auf lange Sicht, viel Kurzlebigkeit mit möglichst viel Effekt in vorhersehbaren künstlerischen Mustern – das wird auf Dauer das Ende der deutschen Theater bewirken! Stattdessen sind doch eher Mut, Offenheit, Zeit und Engagement so nötig! Aber langsam merkt man, dass es so nicht mehr funktioniert, das Geld wird knapp, und den Festivals fehlt mehr und mehr das Publikum.

Golombek: Gerade vor diesem Hintergrund wäre ja Ihrem „Oscar“ ein langes, erfülltes Bühnenleben zu wünschen. Gibt es in dieser Richtung schon Pläne, wie es mit „Oscar“ weitergeht?

Bollon: Es gibt Interesse – auch wenn wir mehr erhofft hätten. Viele Theater haben die Position Neue Musik für die nächsten drei bis vier Jahre damit bedient, dass sie Aufträge vergeben haben. „Oscar“ ist nicht die Position Neue Musik, auch weil ich als Komponist abseits der Tendenzen stehe. „Oscar“ wäre, wie „Hänsel und Gretel“, die Position Familienoper. Vielleicht dauert es zehn Jahre, bis sich das herumgesprochen hat. Dafür müsste es an ein paar Theatern mit Erfolg gespielt werden.
Golombek: Wenn es Pläne gibt, dass „Oscar“ auch anderswo gespielt wird, wäre Frankreich dafür nicht besonders prädestiniert, weil die Erzählung dort ein so großer Erfolg war, weil Sie Franzose sind...

Bollon: ...und Schmitt auch Franzose ist.

Golombek: Eigentlich spricht doch einiges dafür?

Hufschmid: Wahrscheinlich ist die französische Opernlandschaft nicht so...

Bollon: ...nicht so ausgeprägt – es gibt 15 Opernhäuser in Frankreich. Der Verlag hat viel geschrieben und versucht in Bewegung zu setzen, aber die Szene in Frankreich ist sehr verschlossen. Neben einigen offiziell unterstützten jungen französischen Komponisten gibt es nichts.

Golombek: Sie wünschen ja die Aufführung in der jeweiligen Landessprache...

Bollon: Eine französische Fassung gibt es schon.

Golombek: Gibt es neben dem „Oscar“ auch Pläne für eine weitere Oper?

Bollon: Es gibt zwei Projekte, die parallel laufen. Gemeinsam mit Éric-Emmanuel Schmitt, der selbst viel am Klavier arbeitet, versuche ich eine Oper zu schreiben, etwas ganz Neues, nicht auf der Basis eines schon von ihm geschriebenen Textes. Mit Clemens Bechtel gibt es Pläne für eine antipolitische Oper um das Ende von Gorbatschow, aber mit vielen Insider-Geschichten. Eine Hinterfragung des Helden Gorbatschow und der Thematik, ob wir in Westeuropa so demokratisch und objektiv sind, wie wir uns verkaufen.
Golombek: Lassen Sie uns nun noch über die Funktion des Opernchores in „Oscar“ sprechen.

Die Rolle des Chors

Bollon: Obwohl die große Chorszene „Der Alptraum“ im Buch nicht vorkommt, brauche ich für die Oper diesen theatralisch-musikalischen Höhepunkt. Für eine Oper dieser Länge braucht man eine Nummer, die fetzt – das ist mit Chor fast schon vorprogrammiert.Obwohl der Freiburger Opernchor, auch für seine Repertoire-Aufgaben, viel zu klein besetzt ist, gehört er für mich zur absoluten deutschen Spitze! Und wenn ich als Komponist einen so motivierten, super disziplinierten Opernchor habe, kann ich mir solch eine Chornummer nicht entgehen lassen.
Hufschmid: Die Theaterbesucher freuen sich eigentlich immer, wenn der Chor auftritt.
Bollon: Das gibt einfach immer ein anderes Leben auf der Bühne. Falsch wäre aber gewesen, die Oper mit einer riesigen Trauerchor-Nummer enden zu lassen...

Golombek: Das hätte das Ende erstickt.

Bollon: Genau, es ist so diffizil und zerbrechlich wie durchsichtiges Porzellan, dazu muss man sich auch bekennen. Aber zwischendurch mal richtig mit „Bier und Wurst“, das tut auch gut.
Eine ganz wichtige Funktion hat der Chor auch hinter der Bühne. Bei den Briefen, wenn Oscar mit sich selbst beschäftigt ist, hilft mir der Chor, klanglich das Magische zu erzeugen, was das Kindsein ausmacht. In der Geschichte wird Oscar immer älter, bleibt aber auch immer ein zehnjähriger Junge. Deswegen gibt es in seiner inneren Welt den Kinderchor und dann einen Opernchor, der von der Vorstellung der Stimmen her immer älter wird, also zunächst Sopran/Alt, dann Alt/Tenor, Tenor/Bass, schließlich nur noch Bass, und dem Kinderchor bleibt der allerletzte Ton.

Golombek: Hat Ihre Erfahrung mit der eigenen Oper Ihren Begriff von Werktreue gegenüber anderen Komponisten verändert?

Bollon: Wenn ich als Dirigent an einem Stück arbeite, versuche ich, aus der Musik den Ges-tus zu verstehen, den der Komponist der Figur unterlegt hat: Wie ist die Psychologie der Figur, welche Entwicklung nimmt sie? Mitunter kann es leider passieren, dass auf der Bühne nicht das inszeniert ist, was die Musik uns erzählt. Da stehe ich als Dirigent manchmal da und denke, was ich denn mit meinen Tönen machen soll. Ich muss sie bringen, aber sie sind nicht im Einklang. Bei „Oscar“ war mir deshalb wichtig, dass man ihn zum ers-ten Mal auf der Bühne so bekommt, wie es gedacht ist – auch wenn man sich bestimmte Details anders wünschen könnte.

Golombek: Erkennen Sie „Ihren“ „Oscar“ wieder, ist er so, wie Sie ihn sich vorgestellt haben?

Bollon: Ja, vielleicht nicht in jedem Detail, aber ich bin sehr froh, auch mit der Ausstattung, eine ganz tolle Arbeit. Ja, ich erkenne den Oscar!
Golombek/Hufschmid: Vielen Dank für das Gespräch, weiterhin viel Erfolg für Ihren „Oscar“ und toi, toi, toi für Ihre nächsten Projekte!


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