Menschliche Implosion
Yuki Moris „Intime Briefe“ und „Sacre“ in Regensburg · Von Vesna Mlakar
Yuki Mori ist ein Kommunikator des Intimen. Seine Tanzstücke dieser Spielzeit, die der Regensburger Ballettchef unter das Motto „Zwischenwelten“ gestellt hat, strahlen die verhalten meditative Poesie japanischer Kunst aus. „Am Rande der Stille“, Moris Referenz an den Schriftsteller Haruki Murakami (UA 8.11.2013), wusste Ausstatterin Dorit Lievenbrück fantastisch surreal in Szene zu setzen: eine auch medial bespielte architektonisch verschachtelte Augenweide als Forum für die bei allem sportiven Drive fein in den Raum ziselierten Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer. Ob bewusst oder unbewusst – Mori ist ein Grenzgänger der Kulturen. Und was die Wahl seiner Sujets angeht, ein charmant-eigenwillig Suchender dazu. Minimalistische Handlungsstränge fordern ihn heraus – und seinem Publikum Konzentration auf das Bühnengeschehen ab.
Intime Briefe: Ina Brütting und Streicher des Philharmonischen Orchesters Regensburg. Foto: Bettina Stöß
Für seinen jüngsten Ballettabend „Intime Briefe / Le Sacre du printemps“ tat Mori sich mit Bühnenbildnerin Claudia Doderer zusammen. Ihr wie dreidimensional dahingetuschter, leicht windverwehter Baum mit einer Krone aus geknülltem Papier war dann auch dekorativer Hingucker und Zentrum einer frühlingsfrisch-verspielten Liebeserklärung an die zusammenführende Kraft von Briefen.
Bevor Mori im zweiten Teil Strawinskys berühmt-berüchtigte „Sacre“-Hölle losbrechen lässt, wiegt er sein Publikum bei kammermusikalischen Klängen von
J. S. Bach – live auf der Bühne musiziert – in harmonischer Sicherheit. Eine in weißen Stoff verpackte Tänzerin (Ina Brütting) erhebt sich langsam vom Boden: der personifizierte Brief als stiller Vermittler zwischen Mann (Riccardo Zandonà) und Frau (Harumi Takeuchi), wobei vor allem ihre Arme Mittel zum Ausdruck sind. Auf Bachs flinkere Melodien wirbelt, zuerst allein, dann im Duett, das schwarz-grün gewandete Menschenpaar um den Baum. Im Trio mit Brütting spürt man ihre wachsende Verbundenheit. Doch erst am Ende finden beide auch physisch zueinander. Schade, dass gerade da der solistisch aufspielende Geiger technisch an seine Grenzen geriet und der Musik etwas von ihren partitur-immanenten Emotionen entzog.
Diesen Verlust machte nach der Pause das Philharmonische Orchester Regensburg aus seinem Graben heraus mehr als wett. Mori muss die Musiker und ihren GMD Tetsuro Ban mit seinen Visionen regelrecht angesteckt haben: 1995 erlebte er persönlich mit, wie ein schweres Erdbeben seine Heimatstadt Kobe erschütterte. Aber auch das Reaktorunglück von Fukushima inspirierte den Japaner zu seiner Interpretation des modernen Klassikers.
Blicken wir kurz zurück, nach Paris, wo die Uraufführung von „Le Sacre du printemps“ das mondäne Premierenpublikum am 29. Mai 1913 in Aufruhr versetzte. Zu ungewohnt waren die Klänge, zu peitschend repetitiv die sich fortwährend in Takt und Akzentuierung wandelnden Rhythmen. Dazu hüpfte und stampfte, mit einwärts gedrehten Füßen und seitlich geneigtem Kopf, ein in knöchellange Kostüme folkloristisch verpacktes Ensemble – aufgeteilt in Kreise, verkettete Linien und Blöcke. Alles trippelte auf Zehenspitzen, ließ die Glieder hängen, schlurfte, schlug die Handflächen auf den Boden oder riss, nach vorne gebeugt, einen Arm in die Luft: ein rauschhafter Frühlingsreigen, der damit endete, dass das auserwählte Opfer eines frühslawischen Ritus sich, vom elektrisierenden Puls der Musik regelrecht durchströmt, zu Tode tanzte.
Vaslaw Nijinsky, Startänzer der Ballets Russes und für die völlig neuartige Choreografie verantwortlich, hatte nicht nur mit der gängigen klassischen Haltung und Technik gebrochen, sondern durch den Verzicht auf Solisten und Pas de deux die Konventionen des herkömmlichen Balletts unterlaufen. Bis heute haben die 35 Minuten Musik eine nicht abreißende Anzahl choreografischer Auslegungen erfahren. Yuki Mori selbst hat als Tänzer in vier Produktionen (darunter der von John Neumeier) mitgewirkt. „Strawinskys strenges rhythmisches Empfinden ist das Zeichen seiner Autorität: über die Zeit und – über seine Interpreten. Der Choreograf sollte dieser Führung unbegrenztes Vertrauen entgegenbringen. Strawinskys Rhythmik, und sei es nur fester Ausgangspunkt, wird seinen eigenen Ideen die größtmögliche Steigerung bieten.“ Prägnante Worte von George Balanchine, Diaghilews letztem Choreografen, der im „Sacre“-Skandal-Jahr seine Ballettausbildung an der kaiserlichen Ballettschule in St. Petersburg begann.
Was Moris „Sacre“ auszeichnet, ist neben seiner kraftvollen Bewegungsdynamik der Verzicht auf das Opfer. Damit kippt er die gängige, ein Individuum selektionierende Herangehensweise. Seine Deutung simuliert stattdessen Weltuntergangsstimmung. Eingesperrt in grau-düstere Schutzräume schweißt eine von außen drohende Gefahr sein Ensemble einerseits zusammen. Andererseits lösen sich immer wieder Einzelne aus der Gruppe der Wartenden heraus. Ein Rohr, das in den Bühnenhimmel führt, scheint Informationen zu liefern – wer diese „lesen“ kann, verbessert womöglich seine Chance. Kein uninteressanter Ansatz, die gesellschaftsübergreifende Frage nach dem Preis, den die Menschheit für die Zerstörung der Umwelt und den ignoranten Umgang mit der Natur bezahlen muss: das Risiko, nicht zu überleben.
Für die wechselnden Impulse aus der Musik findet Mori schöne Entsprechungen im Tanz. Mal stampfen seine Interpreten auf, mal operieren sie mit Hockern oder formen scharfe Linien, um den Raum systematisch zu durchkämmen. Dabei bleibt genug Zeit für jeden Interpreten, in solistischen Passagen eigene tänzerische Qualitäten zu zeigen. Von der Decke entfaltet sich ein mobiler Rost. Musikalisch braut sich ein regelrechter Wirbelsturm zusammen, der die Tänzer im Marsch und Stolperschritt über die Bühne hetzt. Die dramatische Klimax ist erreicht, als es Asche regnet und ein Portal aus dem Boden fährt. Finale Knaller aber sind Moris Sache nicht. Niemand stürzt. Dafür verlässt der Choreograf in den letzten Takten den musikalisch vorgegebenen Fluss. Erst drei, dann alle suchen unter dem neuen Tor Schutz, das – vielleicht einfach zu sachte – im Untergrund versinkt.
Vesna Mlakar
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