Subjektivität ist kein Makel
Die Werkstatt des Choreografen Gregor Zöllig · Von
Christian Tepe
Aber das ist doch gar kein Ballett! Diesen Stoßseufzer kennt
Gregor Zöllig bereits von seinen zurückliegenden Anfängen
als Leiter des Tanztheaters der Städtischen Bühnen Osnabrück.
Zu Beginn dieser Spielzeit verpflichtete Bielefelds neuer Intendant
Michael Heicks den Choreografen mitsamt der zehnköpfigen Compagnie
an sein Haus. Und prompt bekam Zöllig auch hier nach einem
glänzenden Einstand mit dem dreiteiligen Tanzabend „Gestern
werde ich das Morgen für Heute bestimmen“ die vornehme
Reserviertheit des Abonnement-Publikums zu spüren, als er sich
zuletzt an eine moderne Deutung von Willibald Glucks Orpheus wagte
(siehe unser Bericht auf S. 26). Es ist schon erstaunlich, wie schwer
es die Essentials des Tanztheaters – zum Beispiel die ungeschönte
Darstellung seelischer Subjektivität und die tänzerische
Aufarbeitung zeitgenössischer Probleme – selbst 30 Jahre
nach der Institutionalisierung dieser Kunstgattung in Deutschland
mancherorts immer noch haben.
Junges Publikum
Wenn Zöllig die Arbeit mit den Tänzern als „eine
Recherche nach körperlichen Ausdrucksformen für die Innerlichkeit
eines Menschen, die das Wort, der Gesang und das Bild so nicht haben“
umschreibt, dann klingt darin unverkennbar die Verwurzelung des
Folkwang-Absolventen im German Dance an. Nach Engagements als Tänzer
und Solotänzer in Aachen und Münster assistiert Zöllig
unter anderem am Bremer Tanztheater bei Urs Dietrich und wird 1997
zum Leiter des Tanztheaters in Osnabrück bestellt, wo er durch
seine unverbrauchten und unangepassten Stücke in kurzer Zeit
besonders das jüngere Publikum für sich gewinnt und als
Geheimtipp die Aufmerksamkeit der Fachwelt genießt.
Lebendiger Diskurs
Charakteristisch für Zölligs Choreografien ist die Teilautorenschaft
der Tänzer. In deren Ausdrucksindividualität steckt eine
unerlässliche Voraussetzung für die künstlerische
Überzeugungskraft seiner Produktionen: „Bevor wir ein
Stück entwickeln, überlegen wir uns sehr genau, was wir
damit inhaltlich mitteilen wollen. Angeleitet von diesen Themen
gehen wir in den Saal und erkunden, was jeder der einzelnen Tänzer
dazu zu sagen hat. Dann beginnt ein Suchprozess, bei dem es darum
geht, dass jeder Tänzer individuelle Ideen und Bewegungsformen
findet. Jede Bewegung trägt einen Ursprung in sich, diesen
Bewegungsanfang muss der Tänzer bei sich persönlich aufspüren.
Hierbei ist die Improvisation ein Supermittel, um seine eigenen
Gefühle kennen zu lernen und sie so zu analysieren, dass man
am Ende festgelegte Formen und Zeitabläufe findet.“ Von
seinen Zuschauern erhofft sich Zöllig ebenfalls einen lebendigen
geistigen Diskurs: „Wenn ich dem Zuschauer gleich alles sage,
so dass seine Fantasie gar nicht mehr wächst, dann habe ich
mein Ziel nicht erreicht.“
Eigenständigkeit
Um den damit verbundenen Anspruch auf nachhaltige, nicht vom Diktat
der Kassenbilanz bestimmte Arbeitsformen zu untermauern, definiert
Zöllig das Bielefelder Tanztheater gerne als einen „Forschungsraum“.
Dieser Begriff verdeutlicht überdies die Öffnung seiner
dialogorientierten künstlerischen Praxis zu einem umfassenden
Pluralismus nach innen und außen. So steht das Ensemble im
ständigen Austausch mit internationalen Choreografen, die mit
den Tänzern eigene Stücke einstudieren. Das Publikum lernt
dadurch andere tänzerische Bewegungssprachen kennen, während
die Compagnie nicht in die Gefahr gerät, sich in bestimmte
Formen, Gedanken und Herangehensweisen einzuspuren, wie Dramaturgin
Christine Grunert erläutert. In der laufenden Saison repräsentieren
der Norweger Jo Strom-gren sowie das israelische Choreografenpaar
Roni Haver und Guy Weizman Aspekte des globalen Tanzes in Bielefeld.
Kooperation pflegt Zöllig zugleich nach innen: Im Stadttheater-System
erkennt er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen keine Einengung
der Kreativität, sondern eine Bereicherung, jedenfalls solange
wie in Bielefeld die künstlerische Eigenständigkeit des
Tanztheaters von der Intendanz ohne Wenn und Aber gewollt ist. Auf
dieser Basis sind für Zöllig spartenübergreifende
Projekte mit dem Schauspiel und dem Musiktheater eine willkommene
Herausforderung, sich einmal ganz auf eine Komposition einzulassen,
während man es im Tanztheater sonst oft gewohnt sei, nach Belieben
zur Tonkonserve zu greifen.
Ob das Team die eher ballettsozialisierten Bielefelder überzeugen
wird? „Man muss dem Publikum und auch sich selbst Zeit geben“,
weiß Zöllig. Die Erfahrung gibt ihm Recht. Nach 21 Stücken
in 8 Osnabrücker Spielzeiten organisieren die inzwischen längst
tanztheaterbegeisterten Osnabrücker ganze Busse zur neuen Wirkungsstätte
des Choreografen.
Christian Tepe
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