|
Liebe als Passion
„Orpheus und Eurydike“ als Tanz-Oper in Bielefeld
· Von Christian Tepe
Wer mit Glucks „Orpheus und Eurydike“ ein Hohelied
auf den Triumph der Gattenliebe, den ätherischen Reigen seliger
Geister oder gar eine Winckelmann-Antike von „edler Einfalt
und stiller Größe“ assoziiert, der wird an Gregor
Zölligs Tanzversion der Oper nur wenig Gefallen finden. Wie
jede Generation nehmen der Choreograf und seine Tänzer für
sich in Anspruch, den Mythos vor dem eigenen Erfahrungshorizont
neu zu entdecken. Doch gerade in der Entschiedenheit, mit der dies
in Bielefeld geschieht, hält Zöllig der Gluck‘schen
Reformtat, modern empfindende Menschen anstelle konventioneller
Figuren auf die Bühne zu bringen, noch dort die Treue, wo er
am Buchstaben des Werkes zweifelt.
Orpheus 2006 – das ist eher Strindberg als das humane Ethos
der Vorklassik, das ist das alltägliche Liebesmartyrium, der
selbstzerstörerische Kampf der Geschlechter und die letzte
schwache Hoffnung auf den Trost durch die Kunst. Schon gleich zu
Beginn entbrennt der Konflikt. Für die satztechnisch noch traditionell
wirkende Unverbindlichkeit der Ouvertüre hat Zöllig einen
angriffslustigen, sportiven Bewegungsduktus kreiert: Liebe und Vertrauen
werden im eröffnenden Paartanz leichtfertig einer rigiden Ichbezogenheit
geopfert. Alles Folgende erscheint wie ein nacherzählender
Angsttraum Orpheus’ über den erlittenen Liebesverlust,
wobei die Erinnerungssequenzen im Vexierspiel der fünf Orpheuse
und sechs Eurydiken zu einer wahnhaften, gespenstischen und gelegentlich
sogar komischen Fantastik eskalieren. Bei aller Virtuosität,
Rasanz und Hingabe der Tänzer wird die pathetische bodenverhaftete
Choreografie von einem gebremsten, in sich gebrochenen Gestus dominiert.
Unentwegt knicken die Tänzer in sich zusammen, unerbittlich
lässt Zöllig seine Orpheuse immer neue Verzweiflungstode
erleiden, wobei ein mitleidloser Amor zusammen mit dem hinzuerfundenen
Tod als Spielleiter und Menschenfänger fungiert.
Äußerst hellhörig reagiert die Compagnie auf die
tiefenpsychologischen Innervationen der Musik, so dass sich plötzlich
hinter der so gepriesenen erhabenen Schlichtheit der Komposition
ein seelisches Chaos auftürmt. Wenn im Elysium die versehrten
Eurydiken sich in autistischer Weltabgeschiedenheit krümmen
und winden, reflektiert das Beunruhigende und Irritierende daran
sehr präzise den verborgenen schwermütigen Unterton des
Orchesterklangs. Am gewagtesten gerät der qualvolle Aufstieg
zur Erde: ein Kreuzweg des Eros mit allen Missachtungen, Demütigungen
und Verletzungen, die passioniert Liebende einander antun können.
Der gekränkte Stolz Eurydikes entfesselt eine wilde Rebellion
der Frauen: Bewusst wird durch die ruhelose Expression der Gefühle
eine optische Überforderung des Betrachters riskiert, der die
vielen subtilen Grausamkeiten kaum alle zugleich wahrnehmen kann.
Da mutet das rätselhafte Giocoso von Orpheus’ Arie „Che
farò senza Euridice?“ wie die vorsichtige Verheißung
einer Erlösung durch die reine, allen Schmerz zum befreienden
Ausdruck sammelnde Musik an.
Die Mezzosopranistin Kaja Plessing beglaubigt diese Idee durch
die Schlichtheit, Natürlichkeit und Schönheit ihres liedhaft
intensiven Gesangs. So bedenkenlos Zöllig das versöhnende
Rokokofinale von Calzabigis Fabel preisgibt, so sehr bemüht
er sich andererseits darum, die vokale Interpretin des Orpheus‘
durch ein dezent entrücktes Bewegungsvokabular mit der mythologischen
Aura des Sängers zu überhauchen. Die szenische Führung
der Chöre wirkt dagegen unmotiviert. Was als ein Kontrast zur
gehetzten Ausdruckssprache der Tänzer gedacht sein mag, retardiert
oft zu holzschnittartiger Steifheit und ist allein bei den Furien,
die Orpheus am Tor zur Unterwelt als Bürokraten-Ttribunal empfangen,
halbwegs überzeugend. Hagen Enke hat den Chor sorgsam präpariert.
Nur gehen bei der stilgerechten Absicht, jeden Anflug rhetorischen
Singens zu vermeiden, vereinzelt zu viel Farbe und Temperament verloren.
Einen frühlingszarten Duft verströmen die Bielefelder
Philharmoniker unter der Leitung von Carolin Nordmeyer, aber auch
hier vermisst man mitunter die dramatischen Impulse der Partitur.
Die finden sich, höchst eigenwillig ins Irrationale transformiert,
dagegen um so mehr im existentiellen Tanz wieder. Mit ihrer ersten
Opernadaption haben Gregor Zöllig und seine Compagnie eine
inhaltlich aufwühlende, choreografisch kühne Arbeit zur
Diskussion gestellt und das Theater Bielefeld in die vordersten
Reihen zeitgenössischer Tanzkunst gelotst.
Christian Tepe
|