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Keine Angst vor Kontroversen
Ein Porträt der Staatsoper Hannover · Von Christian
Tepe
Nach fünf Spielzeiten verlässt Intendant Albrecht Puhlmann
zum Saisonende Hannover, um in Stuttgart die Nachfolge von Klaus
Zehelein anzutreten. Für die Staatsoper geht damit eine turbulente
Zeit zu Ende, in der das Haus mit allen Höhen und Tiefen zu
einem radikalen Experimentierfeld zeitgenössischer Musiktheaterästhetik
auserkoren wurde. Einem gerade für den Chor so epochalen Triumph
wie mit Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“
standen umstrittene Klassikerinszenierungen gegenüber, die
gezeigt haben, dass Aktualität nicht um den Preis einer mutwilligen
Ignoranz gegenüber der musikalischen Substanz der Stücke
erzwungen werden kann. Auch die Belastbarkeit des Publikums ist
an ihre Grenzen geraten. Puhlmann hat die Zuschauer, die Presse
und bisweilen sogar die Künstler polarisiert, aber vielleicht
ist gerade das in einer Zeit, in der kaum noch eine öffentliche
demokratische Streitkultur existiert, vor aller Kritik am Detail
als sein Verdienst anzuerkennen.
Chor im Vordergrund
Dramaturgisch hatte die Oper in Hannover den Rang eines utopischen
Gewissens der bürgerlichen Gesellschaft: ein Ort expressiver
Schmerzartikulation, wo die Wunden, die eine durchkapitalisierte
Welt den Menschen schlägt, sich erneut öffnen und zu sprechen
beginnen, auf dass die Sehnsucht nach einem anderen besseren Leben
wach bleibe. Überzeugen konnte diese Ästhetik besonders
bei Werken des 20. Jahrhunderts und der Avantgarde, etwa bei der
Erprobung einer von der Informationssprache und ihrem „Inhaltsschutt“
befreiten Artikulation in Hans-Joachim Hespos’ „iOPAL“
oder mit Nonos Frauen- und Revolutionsoper. Zum Durchbruch verhalf
besonders der letzteren Produktion die eminente vokaldramatische
Ausstrahlung des Chores, hier in der akribisch ausgefeilten Personenregie
von Peter Konwitschny. Als Herausforderung erlebten die derzeit
56 Opernchorsänger auch die rigoros auf die Sichtbarmachung
sozialen Elends zielende Inbesitznahme des italienischen Erbes durch
Calixto Bieito: „Während der Probenarbeit fand eine starke
Emotionalisierung des Chores statt. Wir haben wieder angefangen
sehr intensiv über Theater und über Inszenierung zu sprechen“,
berichtet Chorvorstand Veronique Walter. Ungeachtet der kontroversen
Diskussionen attestieren alle Gesprächspartner aus dem Chor
Konwitschny und Bieito, „dass sie die Chorsänger niemals
nur als Hintergrund, sondern als individuelle Darsteller eingesetzt
haben. Das hat uns sehr motiviert.“ So kann der Chor aus den
letzten fünf Jahren einen Zuwachs an künstlerischer Reife
und Selbstbewusstsein mitnehmen: „Wenn wir an einer Stelle
etwas nicht liefern können oder wollen, treten wir in den Dialog
und empfinden uns als mündige Sänger, die Nein sagen können“,
stellt Veronique Walter klar.“
Verwandelter Verdi
Nein sagen muss manchmal auch der Rezensent. Beispiel „La
Traviata“, 3. Akt: Violetta mimt, unterstützt von ihrer
lesbischen Freundin und Zuhälterin in Personalunion, einer
gewissen Flora Annina, nur zum Schein die Sterbende, um aus der
für sie enttäuschenden Beziehung zu Alfredo auszusteigen.
Bieito präsentiert das als Persiflage auf die vertrauten, gewiss
oft mit allzu großer Theatralik ausgekosteten Lebensabschiede
der Prostituierten. Zuletzt verlacht Violetta Alfredo, bevor sie
gemeinsam mit ihrer Freundin nach Südamerika abreist. Jenseits
der Versuchung, diese Story mit dem seinerseits höchst verfänglichen
Werktreue-Postulat zu befehden, bleibt hier ganz simpel eine arge
Publikumstäuschung zu konstatieren: Auf dem Spielplan steht
„La Traviata“, tatsächlich wird die Oper durch
ein Bieito-Stück substituiert, bei dem die Musik zur beiläufigen
Tonspur abrutscht. So nimmt der in die Tausende gehende Massenexodus
des Publikums seinen Lauf. Wie viele Skandale verkraftet ein Opernhaus?
Publikumsverlust
Dennoch warnt Chorvorstandskollege Peter Michailov vor einer rein
buchhalterischen Ergebnisbewertung: „Man sollte die Besucherzahlen
nicht als Maßstab für die Qualität der Arbeit, die
hier gemacht worden ist, nehmen. Nicht immer ist die Mehrheit für
die bessere Kunst. Sonst sollten wir lieber gleich Popkonzerte machen.“
Auf der anderen Seite registriert der VdO-Ortsdelegierte Richard
Johns mit Sorge den Verlust eines festen Zuschauerstamms: „Man
sagt, dass wir für die verlorenen Abonnenten jetzt neue Leute
im Theater hätten. Doch ich befürchte, dass wir einen
Publikumstyp herangezogen haben, der nur einmal ins Theater kommt,
um spektakuläre Aufführungen zu sehen und dann nicht wieder.
Von der alten Garde, die ihre Enkelkinder ins Theater mitbrachte,
damit wir auch in der nächsten Generation Liebhaber bekommen,
sind viele weg.“ Freilich sitzen die richtig professionellen
Skandalmacher auch in Hannover nicht im Theater, sondern im Ministerium,
wo man dem Staatstheater (Oper, Ballett und Schauspiel) eine dreijährige
Einsparauflage von 5 Millionen Euro auferlegte und den jährlichen
Zuschuss ab 2007 auf 46 Millionen Euro kappte. Erst damit ist die
Skandalfähigkeit der Oper ganz gewiss überfordert.
Ballett-Klassiker
Auf den designierten Opernintendanten Michael Klügl wartet
also die schwierige Aufgabe, das verlorene Publikum zurückzugewinnen,
ohne die besonders unter dem Dirigenten und Komponisten Johannes
Harneit erkämpften hohen Standards bei der Pflege zeitgenössischen
Musiktheaters auszuhöhlen. Den derzeitigen GMD Shao-Chia Lü
wird Wolfgang Bozic ablösen. Intendantenwechsel sind stets
mit einer hohen Personalfluktuation und oft auch mit Unruhe unter
den Künstlern verbunden. Seinen Ballettdirektor Jörg Mannes
bringt Klügl aus Linz mit, so dass die „Thoss-TanzKompanie“
vor Ort in ihrer jetzigen Zusammensetzung aufgelöst werden
muss. Eine Kooperation mit der neuen Leitung scheiterte an dem althergebrachten
Streit um die Tanzeinlagen in den Aufführungen anderer Disziplinen.
Zwar wäre Thoss prinzipiell zu den gewünschten Musicaldiensten
bereit gewesen, jedoch nicht in einem Umfang, der die eigenen Tanzarbeiten
marginalisiert hätte. Wie groß der künstlerische
Aderlass ist, zeigt eine Aufführung von „Giselle M.“.
Thoss’ Neuschöpfung des Balletts aller Ballette hat inzwischen
bereits selbst den Stellenwert eines Klassikers erlangt. Seine Choreografie
erzählt, wie sich Giselle aus einer wohlgeordnet aufgestellten,
verkrusteten und lustfeindlichen Gesellschaft befreit und über
die Entdeckung ihrer eigenen Körpersprache zu sich selbst und
zu seelenverwandten Menschen findet. Den 2. Akt choreografiert Thoss
als ein neuzeitlich-eigensinniges Ballet blanc: eine reine Tanzoffenbarung
mit schwerelos fließenden und doch kraftvollen Bildern, die
sogar die Betrachter sich wie neugeboren fühlen lässt.
Wer der famosen Masa Kolar in der Titelrolle zuschaut, beginnt Nietzsches
Gedanken zu verstehen, dass jeder Tag, an dem man nicht getanzt
habe, ein verlorener Tag sei.
Abschied für Mikkelsen
Abschiednehmen von der Staatsoper heißt es auch für
Chordirektor Johannes Mikkelsen. Nach fast 50 Jahren ununterbrochener
Tätigkeit an führenden Opernhäusern mit Stationen
unter anderem in Kopenhagen, Amsterdam, Brüssel und Frankfurt
sowie 22 Jahren musikalischer Assistenz in Bayreuth gibt es nur
wenige große Köpfe der europäischen Musiktheaterszene,
mit denen der hochgebildete und herzerwärmend humorvolle Kosmopolit
bisher nicht zusammengearbeitet hat. Zu seinen Arbeitspartnern gehörten
die Protagonisten der Felsensteinschule ebenso wie Gérard
Mortier oder Sylvain Cambreling. Als künftigen Pensionär
kann man sich diesen Homo Musicus schwer vorstellen. Sein schier
unerschöpflicher künstlerischer und menschlicher Erfahrungsreichtum
hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Chor der Staatsoper
mit die nachhaltigsten Erfolge der Puhlmann-Ära einfahren konnte.
Christian Tepe
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