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Portrait

Keine Angst vor Kontroversen

Ein Porträt der Staatsoper Hannover · Von Christian Tepe

Nach fünf Spielzeiten verlässt Intendant Albrecht Puhlmann zum Saisonende Hannover, um in Stuttgart die Nachfolge von Klaus Zehelein anzutreten. Für die Staatsoper geht damit eine turbulente Zeit zu Ende, in der das Haus mit allen Höhen und Tiefen zu einem radikalen Experimentierfeld zeitgenössischer Musiktheaterästhetik auserkoren wurde. Einem gerade für den Chor so epochalen Triumph wie mit Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ standen umstrittene Klassikerinszenierungen gegenüber, die gezeigt haben, dass Aktualität nicht um den Preis einer mutwilligen Ignoranz gegenüber der musikalischen Substanz der Stücke erzwungen werden kann. Auch die Belastbarkeit des Publikums ist an ihre Grenzen geraten. Puhlmann hat die Zuschauer, die Presse und bisweilen sogar die Künstler polarisiert, aber vielleicht ist gerade das in einer Zeit, in der kaum noch eine öffentliche demokratische Streitkultur existiert, vor aller Kritik am Detail als sein Verdienst anzuerkennen.

Chor im Vordergrund

 
Überraschende Traviata: Natalia Ushakova als Violetta, Will Hartmann als Alfredo, Daniel Henriks als Grenvil, Chor und Statisten der Staatsoper Hannover. Foto: Matthias Horn
 

Überraschende Traviata: Natalia Ushakova als Violetta, Will Hartmann als Alfredo, Daniel Henriks als Grenvil, Chor und Statisten der Staatsoper Hannover. Foto: Matthias Horn

 

Dramaturgisch hatte die Oper in Hannover den Rang eines utopischen Gewissens der bürgerlichen Gesellschaft: ein Ort expressiver Schmerzartikulation, wo die Wunden, die eine durchkapitalisierte Welt den Menschen schlägt, sich erneut öffnen und zu sprechen beginnen, auf dass die Sehnsucht nach einem anderen besseren Leben wach bleibe. Überzeugen konnte diese Ästhetik besonders bei Werken des 20. Jahrhunderts und der Avantgarde, etwa bei der Erprobung einer von der Informationssprache und ihrem „Inhaltsschutt“ befreiten Artikulation in Hans-Joachim Hespos’ „iOPAL“ oder mit Nonos Frauen- und Revolutionsoper. Zum Durchbruch verhalf besonders der letzteren Produktion die eminente vokaldramatische Ausstrahlung des Chores, hier in der akribisch ausgefeilten Personenregie von Peter Konwitschny. Als Herausforderung erlebten die derzeit 56 Opernchorsänger auch die rigoros auf die Sichtbarmachung sozialen Elends zielende Inbesitznahme des italienischen Erbes durch Calixto Bieito: „Während der Probenarbeit fand eine starke Emotionalisierung des Chores statt. Wir haben wieder angefangen sehr intensiv über Theater und über Inszenierung zu sprechen“, berichtet Chorvorstand Veronique Walter. Ungeachtet der kontroversen Diskussionen attestieren alle Gesprächspartner aus dem Chor Konwitschny und Bieito, „dass sie die Chorsänger niemals nur als Hintergrund, sondern als individuelle Darsteller eingesetzt haben. Das hat uns sehr motiviert.“ So kann der Chor aus den letzten fünf Jahren einen Zuwachs an künstlerischer Reife und Selbstbewusstsein mitnehmen: „Wenn wir an einer Stelle etwas nicht liefern können oder wollen, treten wir in den Dialog und empfinden uns als mündige Sänger, die Nein sagen können“, stellt Veronique Walter klar.“

Verwandelter Verdi

Nein sagen muss manchmal auch der Rezensent. Beispiel „La Traviata“, 3. Akt: Violetta mimt, unterstützt von ihrer lesbischen Freundin und Zuhälterin in Personalunion, einer gewissen Flora Annina, nur zum Schein die Sterbende, um aus der für sie enttäuschenden Beziehung zu Alfredo auszusteigen. Bieito präsentiert das als Persiflage auf die vertrauten, gewiss oft mit allzu großer Theatralik ausgekosteten Lebensabschiede der Prostituierten. Zuletzt verlacht Violetta Alfredo, bevor sie gemeinsam mit ihrer Freundin nach Südamerika abreist. Jenseits der Versuchung, diese Story mit dem seinerseits höchst verfänglichen Werktreue-Postulat zu befehden, bleibt hier ganz simpel eine arge Publikumstäuschung zu konstatieren: Auf dem Spielplan steht „La Traviata“, tatsächlich wird die Oper durch ein Bieito-Stück substituiert, bei dem die Musik zur beiläufigen Tonspur abrutscht. So nimmt der in die Tausende gehende Massenexodus des Publikums seinen Lauf. Wie viele Skandale verkraftet ein Opernhaus?

Publikumsverlust

 
„Giselle“-Choreografie des scheidenden Stephan Thoss. Ballettensemble der Staatsoper. Foto: Bettina Stöß
 

„Giselle“-Choreografie des scheidenden Stephan Thoss. Ballettensemble der Staatsoper. Foto: Bettina Stöß

 

Dennoch warnt Chorvorstandskollege Peter Michailov vor einer rein buchhalterischen Ergebnisbewertung: „Man sollte die Besucherzahlen nicht als Maßstab für die Qualität der Arbeit, die hier gemacht worden ist, nehmen. Nicht immer ist die Mehrheit für die bessere Kunst. Sonst sollten wir lieber gleich Popkonzerte machen.“ Auf der anderen Seite registriert der VdO-Ortsdelegierte Richard Johns mit Sorge den Verlust eines festen Zuschauerstamms: „Man sagt, dass wir für die verlorenen Abonnenten jetzt neue Leute im Theater hätten. Doch ich befürchte, dass wir einen Publikumstyp herangezogen haben, der nur einmal ins Theater kommt, um spektakuläre Aufführungen zu sehen und dann nicht wieder. Von der alten Garde, die ihre Enkelkinder ins Theater mitbrachte, damit wir auch in der nächsten Generation Liebhaber bekommen, sind viele weg.“ Freilich sitzen die richtig professionellen Skandalmacher auch in Hannover nicht im Theater, sondern im Ministerium, wo man dem Staatstheater (Oper, Ballett und Schauspiel) eine dreijährige Einsparauflage von 5 Millionen Euro auferlegte und den jährlichen Zuschuss ab 2007 auf 46 Millionen Euro kappte. Erst damit ist die Skandalfähigkeit der Oper ganz gewiss überfordert.

Ballett-Klassiker

 
Scheidender Chordirektor Johannes Mikkelsen. Foto: Matthias Horn
 

Scheidender Chordirektor Johannes Mikkelsen. Foto: Matthias Horn

 

Auf den designierten Opernintendanten Michael Klügl wartet also die schwierige Aufgabe, das verlorene Publikum zurückzugewinnen, ohne die besonders unter dem Dirigenten und Komponisten Johannes Harneit erkämpften hohen Standards bei der Pflege zeitgenössischen Musiktheaters auszuhöhlen. Den derzeitigen GMD Shao-Chia Lü wird Wolfgang Bozic ablösen. Intendantenwechsel sind stets mit einer hohen Personalfluktuation und oft auch mit Unruhe unter den Künstlern verbunden. Seinen Ballettdirektor Jörg Mannes bringt Klügl aus Linz mit, so dass die „Thoss-TanzKompanie“ vor Ort in ihrer jetzigen Zusammensetzung aufgelöst werden muss. Eine Kooperation mit der neuen Leitung scheiterte an dem althergebrachten Streit um die Tanzeinlagen in den Aufführungen anderer Disziplinen. Zwar wäre Thoss prinzipiell zu den gewünschten Musicaldiensten bereit gewesen, jedoch nicht in einem Umfang, der die eigenen Tanzarbeiten marginalisiert hätte. Wie groß der künstlerische Aderlass ist, zeigt eine Aufführung von „Giselle M.“. Thoss’ Neuschöpfung des Balletts aller Ballette hat inzwischen bereits selbst den Stellenwert eines Klassikers erlangt. Seine Choreografie erzählt, wie sich Giselle aus einer wohlgeordnet aufgestellten, verkrusteten und lustfeindlichen Gesellschaft befreit und über die Entdeckung ihrer eigenen Körpersprache zu sich selbst und zu seelenverwandten Menschen findet. Den 2. Akt choreografiert Thoss als ein neuzeitlich-eigensinniges Ballet blanc: eine reine Tanzoffenbarung mit schwerelos fließenden und doch kraftvollen Bildern, die sogar die Betrachter sich wie neugeboren fühlen lässt. Wer der famosen Masa Kolar in der Titelrolle zuschaut, beginnt Nietzsches Gedanken zu verstehen, dass jeder Tag, an dem man nicht getanzt habe, ein verlorener Tag sei.

Abschied für Mikkelsen

Abschiednehmen von der Staatsoper heißt es auch für Chordirektor Johannes Mikkelsen. Nach fast 50 Jahren ununterbrochener Tätigkeit an führenden Opernhäusern mit Stationen unter anderem in Kopenhagen, Amsterdam, Brüssel und Frankfurt sowie 22 Jahren musikalischer Assistenz in Bayreuth gibt es nur wenige große Köpfe der europäischen Musiktheaterszene, mit denen der hochgebildete und herzerwärmend humorvolle Kosmopolit bisher nicht zusammengearbeitet hat. Zu seinen Arbeitspartnern gehörten die Protagonisten der Felsensteinschule ebenso wie Gérard Mortier oder Sylvain Cambreling. Als künftigen Pensionär kann man sich diesen Homo Musicus schwer vorstellen. Sein schier unerschöpflicher künstlerischer und menschlicher Erfahrungsreichtum hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Chor der Staatsoper mit die nachhaltigsten Erfolge der Puhlmann-Ära einfahren konnte.

Christian Tepe

 

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