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Zornige Festrede
Nikolaus Harnoncourt zur Eröffnung des Mozartjahres
Es war keine betuliche Huldigung, die der Dirigent Nikolaus Harnoncourt
zur Eröffnung des Mozartjahres in Salzburg zum Besten gab.
Vielmehr ein flammender Aufruf, diesen Geburtstag nicht als Beschwichtigung
eines saturierten Publikums misszuverstehen. Als Nachdruck aus der
neuen musikzeitung (3/06) drucken wir Harnoncourts im Mozarteum
gehaltene Rede leicht gekürzt ab. Nach einigen eröffnenden
Kommentaren zur zuvor erklungenen Musik, der großen g-Moll-Sinfonie,
kam der streitbare Musiker gleich zum Punkt:
Und jetzt, nach dieser unfassbaren Musik, wo jede Sprache arm wird,
wo wir schweigen müssten, jetzt soll ich noch etwas über
Mozart sagen und womöglich auch über dieses Jahr. Nein
– zu dieser Musik passen keine Festreden. Wie kann ich da
noch etwas über Mozart sagen? Niemand kann es; aber alle tun
es jetzt. Österreich heißt in diesem Jahr Mozart. Aber,
das hat nichts mit ihm zu tun, ich fürchte, mehr mit Geld und
Geschäft. Eigentlich müssten wir uns ja genieren. Denn
was Mozart von uns verlangt und seit mehr als 200 Jahren verlangt,
wäre so einfach: Wir müssten ganz still und aufmerksam
zuhören, und wenn wir seine wortlosen Beschwörungen und
Plädoyers verstünden, dann müssten wir uns, wie schon
gesagt, eigentlich eher genieren, als uns stolz zu brüsten.
Jetzt bejubeln wir ihn und das klingt fast so, als wollten wir
uns selbst bejubeln. Wir haben aber überhaupt keinen Grund,
auf irgendetwas stolz zu sein, was mit Mozart zusammenhängt.
Schon seit damals, als er hier in Salzburg und in Wien lebte. Er
verlangt etwas von uns mit der unerbittlichen Strenge des Genies
und wir bieten ihm unsere Jubiläen mit ihren Umwegrentabilitäten
und Geschäften und lassen seine Töne zerstückelt
aus allen Werbekanälen tropfen. Das dürfte einfach nicht
sein – das ist ein Skandal und eine Schande – wie kann
man das tolerieren? Aber wenn so ein Besinnungsjahr trotz alledem
einen Sinn haben soll, dann müssen wir hören – hören
– hören – und können dann vielleicht einen
kleinen Teil der Botschaft verstehen. Mozart braucht unsere Ehrungen
nicht – wir brauchen ihn und seinen aufwühlenden Sturmwind.
So ein Jahr ist in Wirklichkeit unsere Chance.
Was ist denn der Inhalt seines Plädoyers? Es ist die Kunst
selbst, es ist die Musik, und wir haben Rechenschaft darüber
abzulegen, was wir mit ihr gemacht haben und immer noch machen –
und darüber, was wir versäumen und nicht machen. Die Kunst
und mit ihr die Musik ist ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen
Lebens, sie ist uns geschenkt als Gegengewicht zum Praktischen,
zum Nützlichen, zum Verwertbaren. Es leuchtet mir ein, was
manche Philosophen sagen, dass es die Kunst und eben die Musik ist,
die den Menschen zum Menschen macht. Sie ist ein unerklärliches
Zaubergeschenk, eine magische Sprache.
Die letzten Generationen haben ihr Schwergewicht immer mehr und
mehr auf das unmittelbar Verwertbare gelegt. Man meint wohl, die
Glückserwartung scheine nur im Materiellen zu liegen: Glück
wird mit Wohlstand und Wohlstand mit Besitz gleichgesetzt: Es geht
mir besser, je mehr ich besitze. Und diese Einstellung wirkt sich
bereits in der Erziehung und in den Lehrplänen der Schulen
aus. Nach und nach wird alles Musische verdrängt, alles, was
die Fantasie fördert und was unverzichtbar ist – fast
müsste man schon sagen: wäre – für ein menschenwürdiges
Leben.
Heute können hier die meisten Kinder nicht einmal mehr singen,
weil sie nie dazu angeleitet wurden, sie wissen nicht, wie man die
Töne formt, und sie kennen keine Lieder. Da fängt aber
das Musik-Machen, das Musik-Verstehen an, mit drei, vier, fünf
Jahren schon. Später überlässt man es sowieso dem
Radio und dem Walkman. (…)
Es geht mir jetzt nicht so sehr um eine größere Beachtung
der Kunst in ihrem erlauchten Spitzenbereich, es geht darum, dass
diese höchsten Formen schließlich ins Leere rufen, wenn
niemand mehr die Sprache versteht. Die Musik ist ja keineswegs die
abgehobene Geheimsprache einer arroganten, selbstbewussten und privilegierten
Minderheit, nein, jeder kann ihre Botschaft mitbekommen, kann teilnehmen
an ihren Reichtümern, wenn die Antennen von klein auf richtig
eingestellt werden.
Da die Kunst im Bereich der Fantasie zuhause ist, hat sie etwas
Rätselhaftes, nicht Erklärbares, ihre unsichtbare Macht
ist gewaltig und gefährlich, ihre Wirkung subversiv. Deshalb
haben Machthaber immer wieder versucht, sich ihrer zu bedienen.
Ohne Erfolg, denn Kunst ist stets oppositionell und souverän,
sie lässt sich weder zähmen noch einverleiben. Die Musik
ist eine Sprache des Unsagbaren – die aber manchen letzten
Wahrheiten wohl eher nahe kommt als die Sprache der Worte, der Verständigung
mit ihrer Logik, mit ihrer Eindeutigkeit, ihrem schrecklichen Ja
oder Nein.
Die Rolle, die wir der Kunst zubilligen ist vielfach, sie uns
dienstbar zu machen, sie zu zähmen, aber auch uns mit ihr zu
brüsten. In unserem schönen, geförderten Musikleben
sollen die Menschen nach aufreibender Arbeit Freude und Erholung
finden, sollen wieder Kraft finden für den Alltagsstress. (…)
Ein gefährlicher Schritt im langen und illegalen Prozess, Kunst
„nutzbar“ zu machen.
Die Musik der großen Komponisten hat diesen Trend fast nie
bedient, sie war schon immer viel mehr: nämlich sensible Reaktion
auf die geistige Situation der Zeit. Sie war und ist ein Spiegel,
der den Hörer sich selbst zu erkennen half, der ihn auch in
Abgründe blicken ließ. Als man Mozarts g-Moll-Sinfonie
zum ersten Mal hörte, wurde gefragt, ob derartige Erschütterungen
zulässig seien. Diese Sinfonie ging ja für die Menschen
damals bis in die Extreme der musikalischen Sprache. (…) Damals
ist wohl keiner beruhigt nach Hause gegangen.
Durch die Kunst werden wir ja zu Erkenntnissen geführt, oft
geradezu gestoßen: Sie ist der Spiegel, in den wir schauen
müssen. Um dem zu entkommen, hat man eine bloß ästhetisierende,
manche sagen „kulinarische“ Art, mit Kunst umzugehen,
angenommen: Man hört „schöne“ Musik, man sieht
„schöne“ Bilder – aber man lässt sich
lieber nicht von ihr erschüttern, oder gar umkrempeln. (…)
Wie fast alle großen Künstler bleibt Mozart als Person
rätselhaft, ja geradezu unheimlich. Man meint alles über
ihn zu wissen – sein Leben ist ja bestens dokumentiert –,
aber wenn man etwas über ihn sagen soll, bemerkt man, dass
man ihn überhaupt nicht kennt. (…)
Wir werden die Wahrheit über Mozart nie erfahren. Es ist
unser selbst gemachtes Bild, das wir dafür halten. Nur das
Werk birgt die Wahrheit. Den Menschen zu verstehen scheint unmöglich
– so gelangen wir, wie bei vielen Künstlern, zu einer
Art Doppelgängersicht. Als gäbe es zwei Mozarts: das Wunderkind,
den heiteren, extrovertierten jungen Mann, von dem seine Freunde
sagten, er sei niemals mürrisch gewesen, der von Jugend an
seine Briefe in einem geschliffenen Stil schrieb, gebildet, schlagfertig
und sicher. Den Mozart der Biografien, mit seinen finanziellen,
familiären und künstlerischen Krisen; war er reich oder
arm? Zerkracht mit seinem Vater oder in liebevoller Harmonie? Wurde
er kläglich verscharrt oder entsprach sein Begräbnis den
damaligen Vorschriften? War er künstlerisch gescheitert nach
dem Wiener Misserfolg von „Le Nozze di Figaro“?
Ich glaube kein Wort von alledem, denn wie Oswald Spengler sagt:
„Natur soll man wissenschaftlich traktieren, über Geschichte
soll man dichten“ – und das tat man über die Maßen.
Aber der andere Mozart ist der Eigentliche, ist ungreifbar und
unbegreifbar. Wenn wir ihn erfassen wollen, müssen wir beschämt
erkennen, dass unsere Elle nicht in sein Maßsystem passt.
Er kommt von einem anderen Stern. Er lebt nur durch sein Werk –
ernsthaft in jedem Augenblick, auch im Witz beklemmend: der „Musikalische
Spaß“, ein ebenso dunkles Stück wie die gespenstische
Lach-Arie in „Zaide“.
Was muss das für ein Schock gewesen sein im Hause Mozart,
als der Vater im Kleinkind das Genie erkannte: Man meint ein herziges,
gescheites Kind zu haben und sieht unvermittelt ein Krokodil. Ein
Genie wie Mozart wird nicht, das ist, – paff – wie ein
Meteor aus dem Universum. Kein spielendes Kind, eher ein spielender
Erwachsener.
Es ist in der menschlichen Gesellschaft nicht vorgesehen, ein
Genie großzuziehen, dafür gibt es keine Vorbilder. So
ein dämonisches Wesen okkupiert selbstverständlich seine
Umgebung, man kann es nicht „erziehen“, es ist ein geliebter
und zugleich beängstigender Hausgenosse. Von seinen ersten
musikalischen Äußerungen an ist Mozarts Weg als Künstler
von einer Unbeirrbarkeit, von einer atemberaubenden Sicherheit –
genau konträr zu seinem Lebensweg. Schon als Kind komponierte
er Werke, deren emotionaler Inhalt weit über das hinaus geht,
was er erlebt und erfahren haben konnte. So können wir von
dem Jüngling, der er wohl immer war, die letzten und tiefsten
Geheimnisse von Liebe und Tod, von Tragik, Schuld und Glück
erfahren.
Er zwingt uns, in seelische Abgründe zu schauen und kurz darauf
in den Himmel: vielleicht ein Griffel in der Hand Gottes.
Nikolaus Harnoncourt
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