Intellektuell versucht sich Rasche dem Phänomen von verschiedenen Seiten zu nähern. Auszüge aus drei ganz verschiedenen Texten werden während der Aufführung abwechselnd rezitiert. Friedrich Hölderlins „Hyperion“ steht hier für die romantisch-poetische Seite, Max Webers „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ für die nüchtern-analaytische. Ein Interview mit Joseph Beuys unter dem Titel „Christus Denken“ beleuchtet mit mystischem Einschlag die emanzipatorisch-kreative Komponente. Die Auswahl wirkt durchaus treffend. Die Worte werden im Chor von den Schauspielern beim Schreiten gesprochen – langsam, meditativ, ohne besondere Akzentuierung. Für den Zuhörer ist es anstrengend, hier den roten Faden zu behalten. Was er zunächst vor allem wahrnimmt, ist der unerbittliche Puls, der die Aufführung 75 Minuten lang beherrscht – als durchdringender elektronischer Tonimpuls, und als Lichteffekt, der die quadratischen Segmente der Bühne wechselweise in die Farben Schwarz und Weiß taucht. In konzentrischen Kreisen schreiten Schauspieler und Sänger in einzelnen Gruppen auf verschiedenen Stufen um die erhöhte Bühnenmitte. Manchmal zählt jemand kurz den Takt, dann steigen sie auf, wechseln die Ebene oder verlassen die Bühne wieder. Alle tragen stilisierte Alltagskleidung in gedämpften Farben. Chorgesang soll zu den Sprechchören hinzutreten. Von Felix
Mendelssohn Bartholdy, dem entschiedenen Protestanten, erklingen
Auszüge aus „Jesus, meine Zuversicht“, „Mitten
wir im Leben“ und „Richte mich, Gott“. Für
die römisch-katholische Annäherung an die protestantische
Chortradition steht Max Reger mit den Kompositionen „Der Mond
ist aufgegangen“, „Der Mensch lebt und bestehet nur
eine kleine Zeit“, „Schönster Herr Jesu“,
„Mein Odem ist schwach“ und „Ach, Herr, strafe
mich nicht“. Auch hier scheint die Auswahl prinzipiell sinnvoll,
denn sie bündelt verschiedene stilistische Facetten und Inhalte.
Als die erste Chorstimme einsetzt, nach einer Weile die zweite,
dann die restlichen beiden, glaubt man zunächst, hier werde
der Klangwerdungsprozess im Chorsingen nachgezeichnet. Doch der
Gesang erschöpft sich dann in der ein- oder mehrstimmigen Wiederholung
je einzelner Phrasen als Endlosschleifen. 75 Minuten lang wechseln
auf diese Weise Texte und Gesänge in meditativer Kreisbewegung,
dann bricht die Aktion plötzlich ab. Soll es das gewesen sein? Das Programmheft endet mit John Cages „Vortrag über Nichts“, und auch Dramaturg Christian Holtzhauer zitiert im Publikumsgespräch begeistert Cages Schweigestück „4’ 33“. Doch Cages buddhistisch geprägte Absichtslosigkeit ist weit entfernt von dem abendländisch-christlichen Zielbewusstsein, dem es hier nachzuspüren gälte, und auch weit weg von dem geistig-intellektuellen Anspruch, der den Protestantismus schon seit Luther charakterisiert. So offenbart die Stuttgarter Aufführung außer beachtlicher handwerklicher Perfektion zweierlei: einerseits die Unerfahrenheit von Theaterleuten im Umgang mit Religion und Religiosität, andererseits jedoch deren neu erwachtes Interesse. Andreas Hauff |
||||||||||||||||||||||||||
|