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Ausbrüche aus der Konvention

Händels Pasticcio „Orest“ an der Komischen Oper Berlin · Von Frank Kämpfer

Unerkannt kommt der Flüchtling Orest. Iphigenie, partiell Prostituierte, versorgt ihn hinterm Grenzübergang. Philoktetes, der Wachmann in Jeans und Lederblouson, denunziert: Unter Thoas’ Regime sind alle Fremden dem Opfer geweiht. Denn, so ist prophezeit, ein Orest soll König Thoas stürzen und töten. Hermione, Orests zu junge Geliebte, anfangs ein Girl im Tenniskostüm, wird vom Diktator begehrt. Gibt sie sich hin, darf der Ankömmling leben. Zwei Matrosen akkompagnieren auf Akkordeon und Balalaika – Möwen patroullieren die See.

 
Orest (Charlotte Hellekant) und Pylades (Finnur Bjarnason). Foto: Monika Rittershaus
 

Orest (Charlotte Hellekant) und Pylades (Finnur Bjarnason). Foto: Monika Rittershaus

 

Sebastian Baumgartens Optik setzt Händels Stück in herbe Gegenwart. Tauris ist bei ihm die (geographisch identische) post-sowjetische Halbinsel Krim. Das Bühnenbild-Duo Robert und Ronald Lippok hat auf der Einheitsbühne einen Checkpoint gebaut – Videokünstler Stefan Bischoff projiziert ein Ausländerwohnheim samt Wachturm und vorn links auf die Videowand eine Gastarbeiterin im Schlachthaus. Das Orchester agiert von fern aus der Tiefe der Bühne. Davor entlädt sich Szene um Szene turbulente Figurenaktion – zunehmend disparat zur musikalischen Sprache, zum gesungenen Wort. Das so mehrfach aufgesplittete Bild-Angebot stört den konventionellen „Opern-Genuss“, verwandelt Handlung, Gesang und Musik in Begleitsound. Der von Euripides, Racine, Goethe und Gluck überlieferte Mythos scheint hier heruntergeschaltet zu TV-news: Das alte Europa schließt seine Pforten vor gefährlichen Gästen aus der übrigen Welt.

Orest, uraufgeführt 1734, wiederentdeckt 1988 in Halle/Saale, entstand für Händels erste Spielzeit am Covent Garden Theatre. Es ist ein Pasticcio – der Komponist hat für ein neues Szenario Arien seiner früheren Opern entlehnt. Diese Form der Entstehung versteht Regisseur Baumgarten als Angebot für eine offene Dramaturgie, die Eingriffe gänzlich anderer Art erlaubt und verlangt. Dirigent Thomas Hengelbrock, der das Orchester der Komischen Oper wie ein Spezialensemble Alter Musik handhabt, setzt genau an diesem Punkt an. Die musikalische Form des Abends fand sich experimentierend – nicht unter der Frage der Werktreue, sondern beim Improvisieren, das Varianten, Ironie und Distanzen zulässt. Rezitative zum Beispiel werden statt vom Cembalo von Akkordeon und Balalaika grundiert und weisen so ins Moderne und Populäre. Arien brechen unverhofft ab, werden gesprochen, nur angerissen, betont rüde gesungen, in zu hohem Tempo gespielt. Fremde Texte – Bataille, Kluge, Masséra – vom Tonband geflüstert, schwemmen herein. Und auf der Szene mischen sich Trash, Kitsch und Klamauk. Oper als geschlossene Kunst- und Wahrnehmungsform wird auf diese Weise gestört, ja gesprengt. Gekoppelt mit Videofetzen und Live-Projektion, überrollt das Publikum ein sehr komplexes, multiples Angebot, in dem sich Oper, Schauspiel und Multimedia verkreuzen – und das in dem, der es vom Parkett aus erlebt, einen höchst tief greifenden, ja verstörenden Selbstreflexionsprozess auslösen kann.

Händels „Orest“-Partitur erzählt ihre Handlung auf eine für das Spätbarock ungewöhnlich stringente, unverschnörkelte Art. Ein Diktator wird in kollektiver Erhebung gestürzt, wenn die Bedrohung ins Unerträgliche wächst. Regisseur Baumgarten und sein Team legen eine „Ästhetik der Oberflächen“ auf das alte Szenario. Sie spiegeln die aktuelle Gesellschaftserfahrung, dass Revolution wie Restauration am Gang (das meint: am Abstieg) der Geschichte Europas nichts ändern. Diktator wie Flüchtling, Wachmann und Priesterin stehen heute auf einer Stufe. Wenn sie gemeinsam auf Miniatur-Wohnblocks schlafen, und wenn auch König Thoas um sein Leben zu fürchten beginnt, dann ist ein jeder von ihnen ein Flüchtling, ein Gestrandeter, ein Asylant.

Mit dieser Botschaft kehren Baumgarten und Thomas Hengelbrock im dritten Akt in die Opernkonventionen zurück. Die Tempi beginnen zu sinken, Text und Musik rücken zusammen, es wird auf Inhalte hin musiziert – in meist schmerzlichen Arien werden Händels Gesänge als auch Figuren mit neuer Tiefenschärfe beredt. Die schwedische Sopranistin Maria Bengtsson (Iphigenie), die rumänische Sopranistin Valentina Farkas (Hermione), vor allem jedoch Mezzo-Sopranistin Charlotte Hellekant in der Titelpartie erweisen sich spätestens hier in der Langsamkeit als Sängerdarstellerinnen von großem Format. Zum Aufbruch aus der Depression verschlissener Ideale ruft von diesen allerdings nur Hermione, die anfangs Unbedarfte, die jetzt eine Arie lang Individuum sein darf. Vor grauem Videohimmel wird sie von den eigenen Leuten jedoch schnell passgerecht gestutzt für das Schlussbild, in dem Orest, Iphigenie, Hermione, Pylades – die Sieger – wie auf einem Werbeplakat für eine Zukunft der Marken, Zitate und Accessoires posieren. Europas zivilisatorischer Bogen – das opulente Theater- und Medien-Patchwork des ganzen Abends mündet schließlich in diese These – Europas zivilisatorischer Bogen, der einst auf Tauris begann, neigt und vollendet sich jetzt nach dem Einsturz der Sowjetunion ohne Zukunftsvision auf der Halbinsel Krim.

Frank Kämpfer

 

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