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Auf ein Wort mit…
„Die Menschen hinter den Künstler*innen“

Der neue Direktor des Leipziger Balletts Rémy Fichet im Gespräch mit Stefan Moser, Rainer Nonnenmann und Gerrit Wedel

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Auf ein Wort mit…
„Die Menschen hinter den Künstler*innen“

Der neue Direktor des Leipziger Balletts Rémy Fichet im Gespräch mit Stefan Moser, Rainer Nonnenmann und Gerrit Wedel

Nach den ersten Opernhäusern in Venedig und Hamburg wurde am Leipziger Brühl 1693 das dritte bürgerliche Musiktheater Europas eröffnet. Zu allen Vorstellungen von Oper und Ballett spielt seit 1840 das renommierte Gewandhausorchester. Neben dem 1960 erbauten Haus am Augustusplatz verfügt die Oper Leipzig über eine zweite Spielstätte im Stadtteil Lindenau für Operette und Musical mit eigenen Ensembles. Mit über 720 Beschäftigten ist das Thea-ter der größte kulturelle Eigenbetrieb der Stadt mit Oper, Musikalischer Komödie, Junger Oper/3600, Theaterwerkstätten und dem Leipziger Ballett. Diese internationale Kompagnie wurde in den 1940erJahren durch den Ausdruckstanz von Mary Wigman geprägt und nach 1991 maßgeblich durch den Ballettdirektor und Chefchoreografen Uwe Scholz. Auf diesen folgten 2004 Paul Chalmer, 2010 Mario Schröder und seit der aktuellen Spielzeit 2024/25 Rémy Fichet. Geboren im französischen Amiens, absolvierte Fichet seine Tanzausbildung an der Ballettschule der Pariser Oper. Nach zwei Jahren am Ballet de l’Opéra national de Paris war er von 2000 bis 2008 Ensemblemitglied und zuletzt Solist des Leipziger Balletts. Anschließend wirkte er hier als Disponent und Projektkoordinator sowie seit 2012 als künstlerischer Produktionsleiter. 2023 schloss er die pädagogische Ausbildung an der Palucca Hochschule für Tanz Dresden sowie ein berufsbegleitendes Managementstudium ab.

Oper & Tanz: Herr Fichet, Anlässlich Ihrer Berufung betonte Intendant Tobias Wolff, dass das Leipziger Ballett mit Ihnen „bewusst den Wechsel zu einer kuratorisch-künstlerischen Leitung“ vollzieht. Was meint das?

Rémy Fichet. Foto: Kirsten Nijhof

Rémy Fichet. Foto: Kirsten Nijhof

Rémy Fichet: Das bedeutet vor allem, dass ich nicht selbst als Choreograph mit dem Ensemble arbeite. In Leipzig gab es zuvor immer die Doppelfunktion Direktion und Chefchoreografie, das wurde jetzt getrennt. Das ist in Deutschland etwas ungewöhnlich, in der Tanzwelt aber gar nicht.

O&T: Sie waren zuvor selbst als Tänzer Mitglied des Leipziger Ensembles. Welche Vorteile und welche Schwierigkeiten resultieren daraus für Ihre jetzige Arbeit?

Fichet: Ich wechsle nicht zum ersten Mal die Funktion. Als ich mit dem Tanzen aufgehört habe, war ich ein halbes Jahr im künstlerischen Betriebsbüro der Musikalischen Komödie und auch im Marketing.

Dann bin ich als Disponent zum KBB nach Gera gegangen und schließlich 2010 zurück zum Leipziger Ballett ins Management. Die letzten 14 Jahre war ich Produktionsleiter. Ich kenne das Haus sehr gut, die Abläufe, die Kolleg*innen, Haustechnik und Bühnenarbeit. Der neue Funktionswechsel heißt für mich, dass ich jetzt meine eigenen Visionen umsetzen kann und nicht für Sachen kämpfen muss, von denen ich vielleicht nicht ganz überzeugt war. Meine größte Verantwortung liegt bei den Mitgliedern der Kompagnie.

O&T: Was heißt das genau?

Fichet: Mein größtes Anliegen ist es, Arbeitsprozesse effizienter zu gestalten. Wie alle großen Häuser in Europa ist die Oper Leipzig eine große Institution. Und diese Apparate sind sehr stark hierarchisch geprägt, bewegen sich manchmal langsam und reagieren zu schwerfällig auf wirtschaftliche Veränderungen, auf neue Bedürfnisse, auf neue Erkenntnisse der Sport- und Tanzwissenschaft. Es ist mir ein großes Anliegen, das zu aktualisieren, Arbeitsprozesse besser und alle Abläufe in unserem Haus für die Tänzer*innen gesünder zu machen. Gleichzeitig möchte ich sie auch mehr in die künstlerische Arbeit einbeziehen, damit sie nicht nur mit dem Körper arbeiten. Es gibt die Erwartung der Künstler*innen, einerseits gesagt zu bekommen, was sie zu tun haben, und andererseits wollen sie selbst mehr wahrgenommen werden. Da sind Veränderungen in der Personalführung nötig. Das ist meine Aufgabe, die im Ballett heute eine viel größere Bedeutung bekommen hat als noch vor 20 Jahren.

O&T: Nach welchen Kriterien laden Sie Choreografinnen und Choreografen ein?

Fichet: Ich gehe nicht nach einer Auftrags- oder Checkliste vor. Aber es gibt natürlich viele Aspekte. Als erstes stelle ich mir vor, was ich in den kommenden Spielzeiten und Jahren an Stücken, Werken, Dichtungen realisieren möchte und wie ich das mit der Kompagnie aufbauen kann, technisch und künstlerisch, und wie kann ich diese Planung durch neue Produktionen ergänzen oder Wiederaufnahmen eine neue Farbe geben. Wichtig ist auch, abzuschätzen, was unser Publikum erwartet und sich wünscht. Wie können wir das erfüllen oder auch nicht, und trotzdem unser Publikum mitnehmen? Es ist gerade auch für große Kulturinstitutionen wichtig, die breite Öffentlichkeit anzusprechen und das Haus zu füllen und zugleich auch Neues zu versuchen, Reflexionen anzustoßen, auch wenn das vom Publikum vielleicht einmal weniger gut besucht wird. Je nach Idee wähle ich dann für diesen oder jenen Abend Choreograf*innen aus, mit denen ich dann auch immer in engem Austausch darüber stehe, was sie jeweils gerade selbst beschäftigt und gerne einmal machen möchten und wie das ins Programm passen könnte. Ein sehr großes Anliegen ist es mir, viel mit Choreograf*innen zu sprechen, die ich noch nicht persönlich kenne, weil der menschliche Faktor extrem wichtig ist. Denn ich bin der Meinung, man kann tolle Ballettstücke kreieren, ohne dass die Kunst dabei zu einem schmerzhaften Prozess wird, bloß weil man meint, in der Kunst sei alles erlaubt und dann womöglich in eine Energie hineinkommt, die für die Beteiligten verletzend ist. Davon müssen wir weg kommen, indem man gut und respektvoll miteinander arbeitet und auch alle Parameter beachtet. Denn enorm wichtig sind die Menschen hinter den Künstler*innen.

O&T: Das Thema Nachhaltigkeit wird an der Oper Leipzig groß geschrieben. Gibt es dazu auch im Ballett spezielle Projekte oder Formate?

Rémy Fichet und de Kompagnie des Leipziger Balletts, Foto: Kirsten Nijhof

Rémy Fichet und de Kompagnie des Leipziger Balletts, Foto: Kirsten Nijhof

Fichet: Ja, das Thema beinhaltet auch soziale Nachhaltigkeit – also nach und nach zu erarbeiten, wohin das Ballett sich entwickeln möchte und dabei möglichst alle mitzunehmen. Wir sind aus der Geschichte heraus – im Gegensatz zu Berlin und Dresden – ein bürgerliches Theater und Ballett. Wir machen Programme und neue Kreationen für Leipzig, sei es klassisch oder ganz modern und zeitgenössisch. Das ist Teil der DNA und Identität unserer Kompagnie. In dieser Spielzeit habe ich ein neues Format eingebracht, das auch eine meiner persönlichen Säulen ist. Ich will nicht selbst choreografieren, aber es geht mir darum, den choreografischen Nachwuchs zu fördern. Dazu habe ich die neue Reihe „Black Box“ eingeführt, die im Juni 2025 startet. Der Aspekt Nachhaltigkeit ist hier insofern wichtig, als die choreografische Arbeit im Zentrum steht und nicht opulente Bühnenbilder und viele Kostüme. Stattdessen werden wir bereits bestehende Kostüme und Bilder aus dem Fundus auswählen. Und ich wähle drei Tänzer*innen der Kompagnie und gebe ihnen die Gelegenheit, als Choreograf*innen jeweils für etwa zwanzig Minuten mit dem Orchester ein Programm zu arbeiten. Dabei geht es nicht vorrangig um „junge“ Choreograf*innen, sondern um die „nächsten“ Choreograf*innen, die schon erste Erfahrungen haben und das Potenzial zeigen. Meine Idealvorstellung ist, dass in 20 Jahren die großen internationalen Choreograf*innen der Tanzszene aus dem Leip-ziger Ballett kommen, weil wir sie heute dazu nachhaltig vorbereiten und aufbauen.

O&T: Tänzerinnen und Tänzer sind Hochleistungsathlet*innen und zugleich expressive Künstler*innen. Verletzungen und gesundheitliche Probleme sind dabei ein großes, angstbesetztes Thema. Sie haben an der Oper Leipzig eine spezielle tanzmedizinische Betreuung des Ballettensembles etabliert und legen – so liest man auf der Website des Ensembles – „großen Wert auf eine langfristige, individuell abgestimmte Förderung der Tanzenden und der nächsten Generation choreografischer Kreativer“. Was heißt das konkret?

Fichet: Das ist ein fortlaufendes Projekt. In der Tanzszene liegt der Fokus auf Rehabilitation. Was fehlt, ist aber die Prävention. Es geht darum, nicht nur auf Probleme zu reagieren, die bei der Arbeit auftreten, sondern darum, das Verletzungsrisiko von vorneherein zu minimieren. Ein wichtiges Modul meines Masterstudiums an der Palucca-Hochschule war Tanzmedizin. Da habe ich enorm viel gelernt. Ich dachte zuvor, ich weiß schon, wie der Körper funktioniert. Aber dann habe ich gesehen, es ist viel mehr dahinter und wir müssen sehr viel mehr wissen und machen. Dann kam 2020 Corona, und Gesundheit war plötzlich überall im Fokus, auch bei der Opernleitung und was den Beruf von Tänzer*innen betrifft. Jetzt haben wir eine langfristige Betreuung mit Screenings aller Mitglieder der Kompagnie, auch Workshops für Tänzer*innen und Probenleitungen zu Ernährung und Erkenntnissen der Sportmedizin. Zudem haben wir ein Netzwerk aufgebaut, in dem wir sehr schnell auf Spezialisten, Physiotherapie, Schmerztherapie, Medikationszentren zugreifen können. Und wir haben ein kleines Fitnesszentrum mit einigen Geräten und einem Katalog an speziellen Übungen für Tänzerinnen und Tänzer. Nach den Proben geht es dann auch nicht gleich schnell-schnell zurück ins Privatleben, sondern erst einmal noch in die Regeneration, wofür wir eigens die Arbeitszeiten geändert haben. Für die Regeneration ist zentral, dass man nicht bis 22 Uhr eine Probe hat und dann nicht vor 1 Uhr nachts schlafen kann. Jetzt ist bei uns an normalen Probentagen um 18 Uhr Schluss, und man kann sich bis zum nächsten Tag ausreichend regenerieren.

O&T: Das klingt nach einem vorbildlichen Konzept in Sachen körperliche Gesundheit und physiologische Nachhaltigkeit. Auch am Bayerischen Staatsballett in München gibt es seit einigen Jahren einen Inhouse-Physiotherapeuten und fünf externe medizinische Betreuende für die Kompagnie.

Fichet: Ich finde den Austausch über solche Betreuungsmöglichkeiten zwischen den Theatern und Kompagnien sehr wichtig. Bei uns betreut Anja Hauschild seit 2021 als „Ärztliche Leitung Health Program“ die Kompagnie. Immer mehr Kompagnien in Deutschland sind sensibilisiert und werden aktiv. Ein großes Vorbild für uns in Leipzig ist das Royal Ballet London, das in Sachen Nachhaltigkeit und Prävention schon seit Jahren sehr aktiv ist.

O&T: Alle Häuser und Ensembles müssen sich profilieren. Das Ballett Leipzig wurde maßgeblich von Uwe Scholz geprägt, der unter anderem Haydns „Die Schöpfung“ choreografierte, Mozarts „Große Messe“ c-Moll, Beethovens Siebte Symphonie, Schumanns Zweite, Bruckners Achte, Rachmaninoffs Zweites Klavierkonzert und vieles mehr. Wie gehen Sie mit diesem „Erbe“ um?

Robert Schumann, Zweite Symphonie, in der Choreografie von Uwe Scholz mit dem Leipziger Ballett, Foto: Ida Zenna

Robert Schumann, Zweite Symphonie, in der Choreografie von Uwe Scholz mit dem Leipziger Ballett, Foto: Ida Zenna

Fichet: Ich war ein Uwe-Scholz-Tänzer und in der Kompagnie, als er hier war. Ich schätze seine Kunst unheimlich und finde, dass seine Ballette weiter stattfinden sollen, weil sie zur DNA unseres Ensembles gehören. Es wird in jeder Spielzeit Platz für seine Produktionen geben. Anlässlich seines 20. Todestages – er ist im November 2004 gestorben – werden wir bei einem Abend mit dem Titel „Scholz Symphonien“ eine Auswahl aus seinen sinfonischen Balletten bringen. Das ist eine große Herausforderung für die Kompagnie, weil sie sich mit seinen Choreografien in den vergangenen Jahren zu wenig auseinandersetzen konnte und jetzt wieder neu ansetzen muss. Darauf will ich dann in den kommenden Jahren weiter aufbauen.

O&T: Mit einigen Stücken von Uwe Scholz hat das Leipziger Ballett internationale Gastspiele gegeben. Wollen und können Sie daran anknüpfen?

Fichet: Ja, wir bekommen Anfragen, was mich sehr freut. Und wir sind jetzt auch einmal wieder im Forum Ludwigsburg zu Gast, nachdem die lange Tradition, dort aufzutreten, abgebrochen war. Gerade heute ist es gut und wichtig, dass mit dem Leipziger Ballett auch etwas vom Osten Deutschlands im Westen gezeigt ist. Von Westdeutschland aus ist Leipzig oft weit weg, und ich freue mich, dass wir wieder in der dortigen Tanzszene präsent sind.

O&T: Uwe Scholz wurde 1973 noch unter John Cranko – der im selben Jahr starb – in die Ballettschule des Württembergischen Staatstheaters aufgenommen. Mit Abschluss seiner Ausbildung 1979 wurde er Mitglied des Stuttgarter Balletts und von Marcia Haydée – die von Cranko direkt nach seinem Amtsantritt in Stuttgart 1961 engagiert worden war – mit choreografischen Aufgaben beauftragt. Soeben lief in vielen Kinos „Cranko“. Wie finden Sie diesen Film von Joachim A. Lang?

Fichet: Ich war tatsächlich noch nicht in diesem Film, möchte ihn aber zusammen mit unserer Dramaturgin unbedingt noch sehen. Allein schon die Besetzung mit den Tänzerinnen und Tänzern finde ich großartig. Es ist toll, dass die deutschen Theater über das Kino nochmals andere Menschen für unsere Kunstform erreichen, wie es 2023 auch der Film „DANCING PINA“ über Pina Bausch und das Wuppertaler Ensemble geschafft hat, der von Leuten gesehen wurde, die sonst niemals ins Ballett gegangen sind. Jetzt ist der Film „Cranko“ ein unglaublich großer Marketing-Coup des Stuttgarter Theaters, und Cranko ist dadurch deutschlandweit ein Begriff. Das ist genial!

O&T: Das Württembergische Staatstheater wird dort auch sehr schön in Szene gesetzt und gefeiert. Es freut mich (Stefan Moser) persönlich sehr, dass in Leipzig von Uwe Scholz das „Erbe“ – ein Begriff, mit dem ich mich etwas schwer tue – gepflegt werden soll. Denn auch ich wurde in Stuttgart an der John-Cranko-Schule ausgebildet und bin damals mit Uwe Scholz noch mit dem Opernballett in „Viva la Mamma“ auf der Bühne gestanden. Beim Stichwort Repertoirepflege gibt es beim Leipziger Ballett aber noch weitere Vorgänger von Ihnen, etwa Mario Schröder, von denen man Arbeiten zeigen könnte.

Fichet: Ich finde einige Stücke von Mario sehr sehenswert. Bisher war es aber nicht möglich, diese erneut zu zeigen, aber vielleicht wird das irgendwann der Fall sein. Im laufenden Theaterbetrieb müssen wir ja immer auch Platz für Neues schaffen.

O&T: „Erbe“ soll ja nicht erstarren, musealisiert oder zementiert werden, sondern weiter entwickelt, lebendig gehalten und ergänzt werden.

Fichet: Wenn wir nun Uwe Scholz aus gegebenem Anlass ehren, dann geht es uns zugleich auch darum, zu fragen, welche Bedeutung seine Ballette heute für Choreograf*innen haben und wie sich seine Arbeiten neben neuen Kreationen ausnehmen. Das macht es auch für das Publikum von heute wieder lebendig, denn die meisten Menschen kennen Uwe Scholz nicht. Wir müssen das Publikum auch mit einer neuen Ästhetik mitnehmen. Manche Arbeiten von Scholz sind inzwischen 30 Jahre alt, das merkt man zwar weniger in der Choreografie, aber vor allem an den Kostümen.

O&T: In der Leipziger Kompagnie – wie auch in München – gibt es nach wie vor vertragliche Hierarchien von Gruppentänzer*innen über Coryphéen bis hin zu Solist*innen. Doch viele Ballettdirektor*innen in Deutschland halten diese Abstufung für veraltet und ungesund. Wie stehen Sie zu dieser Einordnung?

Fichet: Ich habe diese Abstufung wieder in das Leipziger Ballett gebracht, aber nicht starr, sondern eher hybrid. Und das probieren wir gerade aus. Das heißt, ich habe nicht den ersten Solisten, der nie in der Gruppe tanzt, und auch nicht das Ensemblemitglied, das niemals ein Solo tanzen wird. Viele Ballettkompagnien in Deutschland haben seit Jahren wirtschaftliche Schwierigkeiten. Daher wurden vor allem Gruppentanz- und Soloverträge mit jeweiligem Mindesthonorar abgeschlossen, weil das weniger Kosten verursachte und zugleich mehr Flexibilität bei Verfügbarkeit und Arbeitszeiten erlaubte. Die Leipziger Kompagnie hatte einmal 63 Mitglieder, heute sind es nur noch 38. Angesichts der gegenwärtigen Personal- und Finanzlage kann ich mir keine reinen Gruppen- und keine reinen Solotänzer*innen leisten, selbst wenn ich das wollte, denn wir wären dann schlicht nicht teamfähig. Das heißt jeder bekommt mal eine Aufgabe in der Gruppe oder mit einem größeren oder kleineren Solo, auch wenn es Coryphéen gibt, die mehr auf solistische Arbeit fokussiert sind, und andere, die mehr in der Gruppe arbeiten. Langjährige gute Arbeit erkenne ich mit Verträgen als Solist*innen an, die aber deswegen nicht bloß Solo tanzen, sondern weiterhin auch in der Gruppe.

O&T: Sie haben recht, was die defizitäre Situation bei den Tanzensembles betrifft. Aber wir haben die Einstiegs- und Mindestgagen beim NV Bühne so weit erhöht, dass wir bei den Einstiegsgagen an die unteren Rahmenbeträge der Kollektivgagen herankommen, so dass ich Ihr Argument für die hierarchisch verschiedenen Verträge nicht mehr ganz nachvollziehen kann. Wenn jemand zu 50 Prozent nicht solistisch tätig ist, dann ist der Gruppenvertrag immer noch zeitgemäß, zumal es Möglichkeiten zu weiterer Vertragsgestaltung über zusätzliche Aufgaben gibt, wie es etwa im Haustarifvertrag des Staatsballetts Berlin der Fall ist. In die Tarifverträge eingearbeitet gehören auch Maßnahmen für Prävention, Fitness, Regeneration, Rehabilitation, was Sie zuvor schon beschrieben haben, was zum Wohl der Tänzer, Tänzerinnen und dann auch zum Wohl der Produktionen ist, die die Kompagnie auf die Bühne bringt.

Fichet: Stimmt, das müsste längst mehr im Fokus stehen. Ich habe schon vor Jahren in einer Kommission durchgesetzt, dass die Regel zwei Tage Ruhezeiten in der Woche vorsieht, weil das für die Menschen wichtig ist und auch für den Betrieb. Es sollte auch nicht so sein, dass jemand sagt, ich habe Probleme mit der Hüfte und komme deswegen nicht zum Training, sondern erst zur Probe. Das wäre ja absurd, denn man braucht das Training gerade dann, wenn man Probleme oder Schwachpunkte hat, für die in der Probe kein Platz ist, und weil man nach der Probe womöglich noch mehr Schmerzen hat. Beim Ballett an der Opéra national de Paris, wo ich herkomme, ist das Ballett-Training daher heilig, denn es dient der Kondition, Stärkung, Prävention, Physiotherapie, dem Gesundheits-Management und formt die Kompagnie.

O&T: Am Ende ist es immer eine finanzielle Frage, welche Verträge abgeschlossen werden können. Darüber gibt es aktuell große Diskussionen in Berlin und Niedersachsen, eigentlich überall. Auch die geringere Größe der Leipziger Kompagnie im Vergleich zu früher ist das Resultat schwindender Finanzen. Gemessen an der langjährigen Ausbildung der Tänzer und Tänzerinnen und der von ihnen zu erbringenden Höchstleistungen während einer kurzen Karriere bekommen sie nicht viel Geld. Aber Etaterhöhungen im Kulturbereich sind momentan wohl illusorisch.

Fichet: Das Besondere der Leipziger Oper und des Balletts ist auch, dass sie kein eigenes Orchester haben, sondern hier das Gewandhausorchester spielt, und zwar zu 39 Prozent neben seinen sonstigen Aufgaben in Konzert und Thomaskirche.

Und das finanzieren wir aus dem Zuschuss, den wir von der Stadt bekommen, und geben es weiter an das Orchester. Wir sind stolz und glücklich über diese Zusammenarbeit, und Qualität hat eben ihren Preis.

O&T: Bei der VdO sind wir auch dankbar, wenn uns auch einmal von Seiten der Arbeitgeber mitgeteilt wird, was man gemeinsam verbessern könnte.

Fichet: Ja, wir sollten nicht gegeneinander oder parallel agieren, sondern gemeinsam, weil die Kulturfinanzierung und der Kulturbetrieb so komplex geworden sind. Das schaffen wir nur miteinander – auch was eine neue Ausgestaltung des NV Bühne betrifft.

O&T: Dieser ist im internationalen Vergleich immerhin noch der beste Tarifvertrag, den es gibt. Doch nun von der Tarif- zur Landespolitik. Im September wurde der sächsische Landtag neu gewählt. Die CDU ist zwar stärkste Kraft geblieben, aber nur knapp vor der AfD. Zwischen allen schwarzen und blauen Wahlkreisen auf der Landkarte, in denen CDU beziehungsweise AfD gewonnen haben, stechen nur einzelne Bezirke in Dresden und Leipzig als kleine grüne oder lila Punkte heraus, wo Grüne und Linke stark abgeschnitten haben. Welchen Einfluss hat diese politische „Großwetterlage“ auf Ihre Arbeit?

Fichet: Leipzig ist und bleibt eine welt-offene Stadt für eine diverse Kompagnie wie die unsere mit Tänzer*innen aus siebzehn Nationen. Der hiesige Stadtrat steht jedenfalls weiter für Kunst und Kultur ein – wir selbst sind Kulturschaffende und keine Politiker. Aber Tanz ist eine universelle Sprache, wir wollen alle Menschen ansprechen und zusammenbringen.

Das betrifft konkret auch die Frage der Eintrittspreise, die wir ja brauchen, um zu überleben, und das betrifft auch andere Formate, Workshops und kleinere Orte in der Stadt, mit denen wir vielleicht neues, vor allem auch junges Publikum erreichen können, das die Wählerinnen und Wähler von morgen stellen wird. Wir können die Menschen nicht belehren, und sollten das auch nicht tun. Wir haben auch keine absolute Wahrheit. Aber wir möchten mit Kunst zum Denken anregen, die Menschen mitnehmen, ihnen Anstöße zum Reflektieren geben, und ihnen innere Welten erschließen.

O&T: Herzlichen Dank für dieses Gespräch.

 

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