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Wenn Profis ihre Stimme verlieren

Dysodien bei Opernchorsängerinnen und -sängern

Von Antje Spacek und Susanne Voigt-Zimmermann

Die Singstimme ist viel mehr als nur ein Instrument. Du erzählst damit Geschichten, drückst deine Gefühle, deine Persönlichkeit aus. Und wenn du das verlierst, wenn du als Sänger nicht mehr singen kannst, dann bist du traurig.

Die menschliche Singstimme, in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit, kann nicht nur auf künstlerischer Ebene bereichern, sie bietet auch tiefe Einblicke in die Persönlichkeit und das individuelle Erleben eines Menschen. Bei Berufssängerinnen und -sängern ist die Singstimme das zentrale Ausdrucksmittel ihrer künstlerischen Darbietung. Durch die einzigartige Verbindung von Klang und Emotion können Sängerinnen und Sänger Geschichten erzählen und das Publikum in eine Welt musikalischer Intensität führen. Die Stimme ist das maßgebliche Arbeitsinstrument, von dessen Funktionsfähigkeit die Berufsausübung und künstlerische Karriere abhängt. Trotz ihrer künstlerischen Erhabenheit sind professionelle Sängerinnen und Sänger, wie alle anderen Menschen, vor gesundheitlichen Herausforderungen nicht geschützt. Eine Erkrankung der Singstimme (Dysodie) kann nicht nur die künstlerische Darbietung beeinträchtigen, sondern auch einen gravierenden Einfluss auf das Leben und die Psyche der betroffenen Künstlerinnen und Künstler haben.

Ich ging zur Probe und hatte Angst. Ich dachte, wie lange halte ich es diesmal durch? Vier, fünf Takte, dann kam die Müdigkeit, dann kam dieses Stimmkratzen, oder die Stimme brach ganz weg. Und die Angst davor, einzusetzen und gehört zu werden, wurde immer größer.

Die Vermutung liegt nahe, dass in einem so leistungsorientierten Beruf wie dem professioneller Sängerinnen und Sänger wenig Raum für die individuellen Auswirkungen der Stimmerkrankung und für die persönlichen Ängste der Betroffenen gegeben ist. Auch ein Blick auf Wissenschaft und Forschung zeigt, dass bislang kaum Erkenntnisse zu diesem persönlichen Aspekt vorliegen. Aus diesem Grund hat Antje Spacek unter Betreuung von Professor Susanne Voigt-Zimmermann an der Abteilung Sprechwissenschaft und Phonetik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Rahmen ihrer Masterarbeit eine Studie durchgeführt, die das persönliche Erleben von Opernchorsängerinnen und -sängern mit einer Dysodie beleuchtet. Im Zentrum des Forschungsprojekts standen fünf Opernchorsängerinnen und -sänger, die im Verlauf ihrer Gesangskarriere eine Dysodie erlebt haben. Sie alle haben sich zu einem Interview bereit erklärt und von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Erkrankung berichtet.

Der Interviewfokus richtete sich insbesondere auf die Auswirkungen der Stimm­erkrankung auf das berufliche und private Leben und die Psyche der Betroffenen. Die Auswertungen zeigen, wie die Sängerinnen und Sänger mit der stimmlichen und persönlichen Herausforderung umgegangen sind, welche Behandlungsschritte unternommen wurden und welche Erkenntnisse und Konsequenzen sie aus dem Erlebten zogen.

Der Begriff Dysodie

Dysodien werden in der Fachliteratur als funktionelle Störungen der Singstimme beschrieben, die insbesondere durch Veränderungen des Stimmklangs, Einschränkungen der stimmlichen Leistungsfähigkeit und/oder subjektive Miss­empfindungen gekennzeichnet werden (vgl. Wendler / Seidner 2015, 150).

Ich habe gemerkt, dass meine Stimme bei hohen Tönen nicht mehr so frei war und gekratzt hat. Das kam immer wieder und wurde immer stärker. Am Anfang habe ich es nicht ernstgenommen und einfach weitergemacht. Bis ich irgendwann realisieren musste, dass ich ein Problem habe.

Der Begriff Dysodie wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts gebraucht und leitet sich ab von griechisch „dys“ (von der Norm abweichend, fehlerhaft) und „odé“ (Gesang, Lied). Eine Dysodie wird nur dann als solche bezeichnet, wenn bereits zuvor beherrschte Gesangsleistungen betroffen sind. Die eingeschränkte Leistungsfähigkeit ungeübter Singstimmen wird dagegen nicht als Dysodie gewertet.

Ursachen einer Dysodie

Da war diese dauerhafte stimmliche und körperliche Belastung – die späten Dienste abends, früh wieder raus, dieser unregelmäßige Tages­rhythmus. Wenn man gesund und fit ist, kann man das abfangen. Aber bei mir war die Psyche auch noch unwahrscheinlich belastet und ich bin einfach permanent über meine Grenzen gegangen. Das hält der Körper nicht durch und das hat sich zuerst an der Stimme gerächt.

Die Aussagen der Sängerinnen und Sänger legen nahe, dass Dysodien oftmals in Zusammenhang mit Über- beziehungsweise Fehlbelastungen der Stimme entstehen. In vielen Fällen liegt ein nicht ausreichend auskurierter Infekt zugrunde, aber auch fehlende stimmliche Erholungsphasen oder Vernachlässigungen der erlernten Gesangstechnik werden als Entstehungsfaktoren angeführt. Bei zwei der Befragten hat die Stimmüberlastung eine organische Veränderung auf Ebene der Stimmlippen verursacht (vgl. Childs et al. 2022, 2180).

Eine Person benennt eine psychische Belastungssituation unter Einwirkung berufsbedingter Stressfaktoren als Hauptursache (vgl. Nawka et al. 2008, 132). Dabei kommen insbesondere Leistungs- und Konkurrenzdruck, zu dicht getaktete Proben und ein unregelmäßiger Tagesrhythmus zum Tragen (vgl. Schlömicher-Thier/Weikert 2015, 130). Aktuelle wissenschaftliche Studien belegen, dass insbesondere Chorsängerinnen und Chorsänger gefährdet sind, durch stimmliche Überlastungen eine Dysodie zu erleiden (vgl. Sharma et al. 2021, 2908):

Wenn du in einer Gruppe von 80 Sängern bist und diese Gruppe singt ein Forte – du hörst dich nicht. Und wenn du dich doch hörst, dann hast du zu viel Stimme gegeben. Und das war bei mir der Fall. Ich hab gedrückt, ich hab übertrieben und über meine eigenen stimmlichen Möglichkeiten gesungen. Letztendlich habe ich mich überfordert.

Diese Aussage verdeutlicht die besonderen Herausforderungen des chorischen Singens: Das stimmliche Eigenhören ist erschwert, zudem muss die Stimme permanent einer Vielzahl anderer Stimmen angepasst werden. So können stimmliche Über- beziehungsweise Fehlbelastungen oft nicht sofort bemerkt und korrigiert werden.

Symptome einer Dysodie

Eine Dysodie hat viele Gesichter und äußert sich in der Zusammensetzung und Ausprägung der Symptomatik individuell unterschiedlich. Die Interviews lassen dennoch Übereinstimmungen erkennen, beispielsweise hinsichtlich deutlicher Leistungseinschränkungen:

Irgendwann kamen die hohen Töne nicht mehr. Ich konnte mich nur noch in der Mittellage bewegen, und zwar im Forte oder Mezzoforte. Ich konnte kein Piano einsetzen, alles war fest.

Neben einer raschen Stimmermüdung beschreiben die Sängerinnen und Sänger Veränderungen des Stimmklangs bis hin zu Stimmblockaden und vollkommener Aphonie sowie Halsschmerzen während oder nach dem Singen. Außerdem berichten sie von Schwankungen ihrer Stimmqualität und der Symptomausprägung ihrer Stimm­erkrankung, oftmals in Abhängigkeit von ihrer psychischen Verfassung.

Umgang mit Dysodien

Im Rahmen der Interviews hat sich unter anderem die Frage gestellt, wie die Sängerinnen und Sänger innerhalb des Opernchores mit ihren Stimmerkrankungen umgegangen sind. Manche haben ihre Erkrankung für sich behalten und führten als Grund dafür unter anderem die Angst an, im leistungs- und konkurrenzbetonten Arbeitsumfeld der Oper für ihre Stimmschwäche verurteilt und ausgegrenzt zu werden. Aber es gab auch Personen, die ihre Problematik sehr offen kommuniziert haben:

Ich war, was das angeht, immer ein offenes Buch und habe allen ganz ehrlich gesagt, was los ist. Ich wollte damit auch anderen, jüngeren Kolleginnen Mut machen, die aus Angst vor Mobbing ihre Krankheiten und Probleme eher verschwiegen haben.

Auswirkungen von Dysodien

Die Sängerinnen und Sänger haben immense berufliche Auswirkungen der Stimmerkrankung beschrieben:

Man spürt, dass es stimmlich nicht gut läuft und man bekommt immer mehr Hemmungen, es wieder zu versuchen – neben einem sitzt ja jemand, vor einem auch, und die hören dich. Also richtig Stress, Panik und große, große Anspannung. Plötzlich funktionieren selbst leichte Sachen nicht mehr, die man eigentlich sicher kann. Und permanent diese Unsicherheit und dieses Gefühl, dass es nicht gut ist und man sich unwohl fühlt und nicht weiß, wie es heute wird.

Neben Verunsicherungen infolge stimmlicher Veränderungen und Leistungseinbußen wurden Hemmungen beschrieben, sich überhaupt noch stimmlich zu zeigen. Zu präsent sei der Leistungsdruck und die Sorge vor dem Negativurteil des Kollegiums gewesen, zu groß auch die Angst und die Scham vor dem eigenen Stimmversagen. Das Resultat: stimmlicher Rückzug, gekoppelt an das Gefühl, sich in der Gruppe verstecken zu müssen und gleichzeitig von ihr isoliert zu sein.

Stück für Stück ist die Singfreude verloren gegangen und man stand eigentlich nur noch unter Anspannung. Das hatte natürlich auch Einfluss auf das Spiel und die Lockerheit auf der Bühne. Auch im Umgang mit Kollegen hat es sich immer angespannter angefühlt.

Neben diesen beruflichen Veränderungen hatte die Stimmerkrankung einen oft gravierenden Einfluss auf das emotionale Erleben und die psychische Gesundheit:

Schlechte Laune, Traurigkeit, Frustration, eine unglaubliche Unruhe und das permanente Gefühl, dass du als professioneller Sänger in diesem Zustand nicht das leisten kannst, was von dir erwartet wird. Das setzt dich unter Druck, du musst dich verbessern, daran arbeiten – und durch den Druck wird es immer schlimmer und du verkrampfst immer mehr.

Dazu werden Existenzängste beschrieben, vor sozialem Abstieg und Perspektivlosigkeit. Denn die Betroffenen mussten sich plötzlich mit Sinn- und Identitätsfragen auseinandersetzen:

Singen, das war so „meins“, das war immer das, was ich am besten konnte oder dachte zu können. Das hat mich irgendwie auch ausgemacht und besonders gemacht. Und plötzlich musste ich mich fragen: „Wer bin ich denn, wenn ich nicht mehr singen kann? Und werde ich dazu in der Lage sein, nochmal etwas Vergleichbares zu finden?“

Auch die Sprechstimme hat sich bei vielen Interviewpartnerinnen und -partnern im Zuge der Stimmerkrankung verändert und in ihrer Leistungsfähigkeit vermindert. Durch diese Veränderung wurde vor allem der private Alltag und das Sozialleben beeinflusst: Kontakte wurden reduziert, Gesprächssituationen vermieden und das alltägliche Leben wurde zunehmend eingeschränkt:

Die Probleme der Singstimme waren eine Sache. Aber die Sprechstimme zu verlieren, das war nochmal eine ganz andere Art von Belastung. Als ich merkte, der Stimmfluss funktioniert nicht und die Stimme bricht weg – das war mir so unangenehm. Sprechen wurde mir immer peinlicher und so habe ich mich natürlich mehr und mehr zurückgezogen.

Behandlung von Dysodien

Trotz dieser immensen Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit und die Psyche haben die Sängerinnen und Sänger in Anbetracht dieser Herausforderungen nicht aufgegeben. Ganz im Gegenteil, sämtliche Interviewpartnerinnen und -partner berichteten von einer starken Motivation, einen Weg aus der Stimmkrise zu suchen – oftmals zunächst allein.

Ich hab mich immer intensiver vorbereitet, Partituren mit nach Hause genommen, mich viel eingesungen. Dann hatte ich jeden Tag mein Sportprogramm, um mit körperlicher Fitness das Stimmproblem irgendwie auszugleichen. Kurz hat das auch funktioniert, aber gelöst hat es das Problem nicht.

Irgendwann erreichten die Betroffenen einen Punkt, an dem sie allein nicht mehr weiterkamen. Die dann unternommenen Schritte unterscheiden sich von Person zu Person und sind abhängig von der Ursache der jeweiligen Dysodie. Diejenigen Sängerinnen und Sänger, deren Stimmproblematik auf einer organischen Veränderung beruhte (etwa Polypen oder Verdickungen oder Ödeme an den Stimmlippen), wurden medizinisch zunächst von HNO-Ärzten oder Fachärzten für Phoniatrie betreut. In allen Fällen wurde sofortige und konsequente Stimmruhe verordnet. Die weitere Behandlung richtete sich nach dem Ausmaß der organischen Veränderung: Während sich die Behandlung geringer Veränderungen auf intensive Stimmfunktionstherapie beschränkte, waren bei ausgeprägteren Schädigungen weitere Maßnahmen nötig: Bei einer Person wurde die Stimmlippenverdickung operativ abgetragen, eine andere Person unterzog sich einer stationären Stimmrehabilitation in einer Spezialklinik.

Bei anderen lag die Ursache des Stimmproblems eher im Bereich von Stimmgebrauch und Stimmtechnik: Hier hatte die berufliche Routine eine Vernachlässigung der Gesangstechnik und eine stimmliche Überlastung bewirkt – jedoch ohne eine organische Veränderung zu verursachen. Diese Personen haben sich Hilfe im Bereich der Stimmtechnik gesucht und diese primär bei Gesangspädagogen gefunden:

Mein Gesangslehrer hat mir die Richtung gezeigt, wie ich die Kontrolle über meine Stimme zurückgewinnen kann. Er hat klugerweise das alte Repertoire genommen, das ich zur Zeit des Studiums, mit ihm erarbeitet hatte. Dadurch hat sich mein Körper daran erinnert, wie ich früher gesungen habe: Ohne Druck und mit viel mehr Leichtigkeit.

Bei denjenigen Sängerinnen und Sängern, deren Dysodie durch eine psychische Grunderkrankung ausgelöst wurde, konnte erst eine gezielte psychologisch-psychotherapeutische Betreuung auch auf stimmlicher Ebene eine Verbesserung bewirken.

Heilung oder nicht?

Im Rahmen der Interviews stellte sich die Frage, inwieweit die Dysodie überwunden werden konnte. Die Antwort: Drei Personen haben sie überwunden. zwei Personen nicht, die infolge dessen ihren Beruf aufgeben mussten. Wie es diesen Betroffenen mit dem Ende ihrer Gesangskarriere ging und welche Wege sie gefunden haben, mit der Lebensveränderung umzugehen, zeigen die beiden folgenden Aussagen:

Für mich war es sehr schmerzhaft – aber nicht der berufliche Austritt, sondern der Verlust des Singens an sich. Dass der berufliche Druck weg ist, tut mir und meiner Stimme gut, und ich merke auch kleine stimmliche Fortschritte. Aber ich werde und will nie in diesen Beruf zurückkehren, dafür war der Leistungsdruck einfach zu hoch.

Es war eine unsichere Zeit und es hat mich auch aufgewühlt. Aber letztendlich war es für mich kein Horror, aus dem Beruf auszusteigen, auch weil für uns Sänger der Stress und Leistungsdruck immer stärker wurde. Am Ende war die Berufs­unfähigkeit fast eine Erleichterung, weil ich dadurch Klarheit bekam. Und ich hab ja dann beruflich zum Glück etwas Neues gefunden, das mich noch mehr erfüllt und bei dem ich viel eigenverantwortlicher arbeiten kann.

Die Bilanzierungen des beruflichen Austritts der betroffenen Personen fallen versöhnlich aus. Sie blicken auf ein einschneidendes Erlebnis zurück und ziehen dennoch kein rein negatives Fazit. Vielmehr zeigen ihre Aussagen eindrücklich, wie schwer der berufliche Druck auf ihnen gelastet hat und welche Erleichterung dessen Wegfall mit sich brachte – persönlich und stimmlich. Insbesondere das zweite Zitat zeigt, dass das Ende des Gesangsberufs nicht zwangsläufig mit einem Verzicht auf berufliche Leidenschaft und Selbstverwirklichung einhergehen muss: Vielmehr kann der Austritt aus dem Kollektiv „Opernchor“ auch einen individuellen beruflichen Neubeginn bedeuten.

Diejenigen, die ihre Stimmerkrankung überwinden konnten, haben infolgedessen den Gesangsberuf wieder aufgenommen. Auch sie wurden im Verlauf der Interviews befragt, wie sie auf das Erlebte zurückblicken und welche Konsequenzen sie daraus ziehen:

Die Zeit der Stimmerkrankung war furchtbar und mühsam, aber ich muss auch sagen, dass ich unglaublich viel über mich und meine Stimme gelernt habe. Tatsächlich würde ich sogar sagen, dass ich meine Stimme durch die Erkrankung besser beherrsche und vor allem viel besser einschätzen kann. So einen Kampf zu bewältigen, hat mich letzt­endlich stärker gemacht – als Künstler und letztendlich auch als Mensch. Im Nachhinein bin ich dankbar für die Erfahrung. Sie lässt mich meine Stimme als etwas Kostbares betrachten, das gepflegt werden muss.

Auch diejenigen, die die Stimmerkrankung überwinden konnten, ziehen eine positive Bilanz. Alle haben eine Krisensituation erlebt und beschreiben das Resultat dieser Erfahrung letztendlich als Stärkung und Reifungsprozess. Die Erfahrungsberichte der Sängerinnen und Sänger machen vor allem eines deutlich: Das Erlebnis einer Dysodie ist eine Zäsur, die oftmals das gesamte Leben beeinflusst und unter Umständen auch nachhaltig verändert. Die betroffenen Personen durchlebten Ängste, Selbstzweifel und Sinnkrisen. Einige Schilderungen legen nahe, dass das Gefühl des Leistungsdrucks und der Ausgrenzung durch das Opernumfeld verstärkt wurde und dass den Betroffenen wenig Akzep­tanz und Unterstützung zuteil wurde.

Mit dieser Darstellung des persönlichen Erlebens von Sängerinnen und Sängern geht die Hoffnung einher, über die individuellen Auswirkungen und Folgen einer Dysodie aufzuklären, ein größeres Bewusstsein für die Thematik zu schaffen und das Verständnis gegenüber den Betroffenen zu erhöhen. Von ganzem Herzen bedanken wir uns bei den fünf Sängerinnen und Sängern für ihre Offenheit und ihr Vertrauen.

Singen macht glücklich, es verleiht dem Inneren Ausdruck und schafft der Seele Raum. Mit unserer Stimme haben wir außerdem eine große Gabe geschenkt bekommen: Wir haben die Möglichkeit, die Zuschauer, die Menschen auf dieser Welt zu verzaubern, sie zum Lachen und zum Weinen zu bringen, ihnen eine Gänsehaut zu verschaffen. Umso wichtiger ist es, dass wir gut auf unsere Stimmen aufpassen.

Literatur

  • Childs, Lesley F. / Rao, Ashwin / Mau, Ted (2022): „Profile of injured Singers. Expecta­tions and Insights“, in: The Laryngoscope. 132 (11), 2180–2186.
  • Nawka, Tadeusz / Wirth, Günther / Anders, Lutz Christian (2008): Stimmstörungen. Für Ärzte, Logopäden, Sprachheilpädagogen und Sprechwissenschaftler. 5., völlig überarbeitete Auflage. Deutscher Ärzte Verlag Köln.
  • Schlömicher-Thier, Josef / Weikert, Matthias (2015): „Der Stimm- und Opernarzt“, in: Bernatzky, Günther / Kreutz, Gunter (Hg): Musik und Medizin. Chancen für Therapie, Prävention und Bildung. Springer Verlag Wien, 125–136.
  • Sharma, Vasudha / Nayak, Srikanth / Devadas, Usha (2021): „A Survey of vocal Health in Church Choir Singers“, in: European Archives of Oto-Rhino-Laryngologie 278 (89), 2907-2910.
  • Ulrich, Martin (2004): „Dysodien in der stimmtherapeutischen Praxis“, in: Zimmermann, Susanne / Iven, Claudia / Maihack, Volker (Hg.): Hauptsache Stimme! Neues aus Praxis und Forschung zur Diagnostik und Therapie von Stimmstörungen; Tagungsbericht zum 5. wissenschaftlichen Symposium des dbs e.V. am 23. und 24. Januar 2004 in Bochum. Deutscher Bundesverband der Sprachheilpädagogen; Wissenschaftliches Symposium des dbs. ProLog Köln (Sprachtherapie aktuell 5), 204–223.
  • Wendler, Jürgen / Seidner, Wolfram / Eysholdt, Ulrich (Hg.) (2015): Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie. 4., völlig überarbeitete Auflage. Georg Thieme Verlag Stuttgart / New York

 

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