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Berichte
Trauma, Verdrängung, Bewältigung
Deutsche Erstaufführung von Kaija Saariahos „Innocence“ am MiR Gelsenkirchen
Von Rainer Nonnenmann
Dumpfe Klavieranschläge tasten mühsam durch verbeulte Becken- und Gongklänge, die durch Dämpfungen gespenstisch entgleiten. Matte Fagottkantilenen verbreiten lähmende Dunkelheit. Während weitere Orchesterstimmen einsetzen, kommen immer mehr Personen auf die Bühne und bilden eine Art therapeutische Familienaufstellung. Als letzte erscheint die Braut (Margot Genet). Sie heiratet in eine Familie, deren Tragödie die Schwiegereltern (Katherine Allen und Benedict Nelson) verheimlichen. Der ältere Bruder des Bräutigams (Khanyiso Gwenxane) hatte als Schüler bei einem Amoklauf an einer internationalen Schule viele Mitschülerinnen, Schüler und Lehrer ermordet. Im Verlauf des Stücks erfährt dann die Braut – und mit ihr das Publikum – stückweise von der zehn Jahre zurückliegenden Schreckenstat und wie diese das Leben aller veränderte.
Kaija Saariaho (1952–2023) komponierte „Innocence“ auf ein Libretto der finnischen Romanautorin Sofi Oksanen, das Aleksi Barrière in neun verschiedene Sprachen übersetzte. Was die Personen in ihren jeweiligen Muttersprachen sagen, behalten sie wie bei inneren Monologen für sich, auch wenn man alles dank deutscher Übertitel mitlesen kann. Nur was sie auf Englisch erzählen, ist wirklich für andere bestimmt. Zum Konzept gehört auch, dass nur die sechs Personen der Hochzeitsgesellschaft singen, während die traumatisierten Überlebenden des Blutbads bloß sprechen. Diese sind zwar nicht zur Hochzeit geladen, gelangen aber dennoch wie das verdrängte Unterbewusstsein ins Scheinwerferlicht. Während man im oberen Stockwerk unverkrampft zu singen und tanzen versucht, schildern unten die Versehrten ihre posttraumatischen Belastungsstörungen: Sie können nicht arbeiten, kein Seminar mehr besuchen, in kein Flugzeug mehr steigen. Dazu erscheint auf der Hinterbühne das Chorwerk Ruhr schwarz gewandet wie die Schatten und Flüsterstimmen der Ermordeten.
Kaija Saariaho, „Innocence“ mit dem Ensemble MiR Gelsenkichen, Chorwerk Ruhr, Statisterie.
Foto: Karl und Monika Forster
Die 2021 beim Festival d’Aix-en-Provence uraufgeführte letzte Oper der finnischen Komponistin gelangte nun am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen zur deutschen Erstaufführung. Das eindreiviertel Stunden dauernde Werk verbindet Klangmaterial, Formverlauf und Handlung zu einer eindrücklichen Gesamtdramaturgie. Leitmotive der Beklemmung sind dunkle Klangflächen, unheilvoll pochende Paukenschläge, hypnotische Kreisfiguren von Bläsern und Glockenspiel. Weil seit dem Horror für alle Betroffenen die Zeit stehen geblieben scheint, tritt auch die Musik mit denselben Elementen auf der Stelle. Die Protagonisten können ihr Trauma nicht bewältigen, sondern nur ein ums andere Mal wiederholen. Die krampfhaft ruhig gehaltene Oberfläche durchbrechen nur punktuell aufbrausende Orchesterwellen, stampfende Blechbläser, galoppierendes Schlagwerk, schreiende Dissonanzen. Unter Leitung von Valtteri Rauhalammi gestaltete die Neue Philharmonie Westfalen eindrucksvoll die Spannung aus untergründiger Ladung und plötzlichen Explosionen. Die deklamatorisch behandelten Solopartien wurden allesamt ausgezeichnet gesungen und gespielt.
Elisabeth Stöpplers Inszenierung und Ines Hadlers zweckmäßiges Bühnenbild gestalteten aussagekräftige Situationen. Als das Verdrängte wieder ins Bewusstsein gelangt, steigt die Hochzeitsgesellschaft nach unten und die Statisterie der ermordeten Jugendlichen nach oben. Anstelle der Toten sitzen dann die Überlebenden in den Schulbänken wie auf der Anklagebank. Und in einem Gestell aus Neonröhren gestehen alle Beteiligten der Reihe nach wie im Beichtstuhl ihre Mitschuld: Man hat dem Sohn das Schießen beigebracht, ist damals weggerannt, hat nicht geholfen, hätte retten können, ahnen sollen, melden müssen oder wusste gar von den Amokplänen. Schließlich stellt sich heraus, dass die von der Kellnerin (Hanna Dóra Sturludóttir) zum Engel verklärte erschossene Tochter (Erika Hammarberg) eine üble Mobberin war und die Klassenkameraden den späteren Attentäter schlimm misshandelten. Die klare Zuschreibung von Täter und Opfern verschwimmt, und die als Schriftzug allgegenwärtige Behauptung „Innocence“ wird zur drängenden Befragung der eigenen Lebenslügen. Am Ende setzen sich alle Betroffenen an einen Tisch zum Zeichen der Hoffnung auf wirkliche Bewältigung und Neuanfang.
Rainer Nonnenmann |