Berichte
Kafkaesk anmutende Intensität
Das Musiktheaterexperiment „Kafkas Scham, Schuld, Prozess“ in Hagen
Von Guido Krawinkel
Wenn es um Kafka geht, ist das Prädikat „kafkaesk“ zumeist schnell bei der Hand. Nicht immer jedoch trifft es zu, geschweige denn den Kern. Anders als nun in Hagen, wo man das Kafka-Jahr zum Anlass nahm, eine Collage aus Texten und Musik zum Thema zusammenzustellen, die dieses Prädikat durchaus verdient. Spielort ist das OPUS, die Werkstattbühne des Theaters, die trotz der Hinterhofatmosphäre einen ebenso kuscheligen wie flexiblen Platz für neue und experimentelle Formate gibt. Dazu zählt auch das Kafka-Experiment, bei dem man die Bühne inmitten der Zuschauerreihen platziert hat. An den Stirnseiten stehen die Musiker, zu Beginn jedoch kommt die Musik aus dem Lautsprecher.
Theater Hagen, „Kafkas Scham, Schuld, Prozess“ mit Urban Luig und Simon Jonathan Gierlich. Foto: Jörg Landsberg
Das Publikum darf zu Klängen der Sonata sopra „Sancta Maria ora pro nobis“ aus der „Marienvesper“ von Claudio Monteverdi seine Plätze einnehmen. Ausnehmend schön schallt die historisch informiert aufgeführte Musik durch das moderne Setting. Die Bitte um marianischen Beistand erscheint keineswegs deplatziert, wenn man bedenkt, was in den nächsten gut eindreiviertel Stunden ansteht: ein durchaus phantastisches, zuweilen surreales, aber gelegentlich auch beklemmendes Musiktheaterabenteuer in Sachen Kafka. Angesichts der irren, im wahrsten Wortsinn geradezu phantastischen Wendungen, die Kafkas Geschichten – oder mittlerweile auch die Realität? – zuweilen nehmen, ist tatsächlich vielleicht nichts nötiger als göttlicher Beistand.
Die Spielfläche wird von einem großen Stahlgerüst dominiert, in und auf dem ein Großteil der Handlung spielt. Die Schauspieler nutzen nicht nur den freien Innenraum, sondern kraxeln auch auf besagtem Gerüst herum – eine gelegentlich durchaus sportive bis artistische Leistung. Alle weiteren Gegenstände von einem Tisch über eine Pritsche bis hin zu einer Hinrichtungsmaschine werden durch bewegliche Würfel aus den gleichen Stahlprofilen symbolisiert. Da ist dann die Imaginationskraft der Zuschauer gefragt, doch die wird ohnehin genügend angeregt an diesem Abend – dafür sorgen schon Kafkas die Szenerie penibel beschreibende Texte und die exzellenten Schauspieler.
Francis Hüsers, Intendant des Theaters Hagen, hat aus Texten von Kafka einen Musiktheaterabend gebastelt, der mit Musik aus der Zeit Kafkas, aber auch zeitgenössischer Musik eine stimmige Collage aus Text und Musik bildet. Ineinander greifen beide Künste dabei nur selten, weil während der musikalischen Beiträge so gut wie nichts weiter passiert. Ausnahmen gibt es nur wenige, etwa wenn Elizabeth Pilon, die mit Frl. Bürstner und Leni auch zwei Frauen aus den Werken Kafkas verkörpert, Lieder der britischen Komponistin Charlotte Bray singt. Stimmlich bleibt der Eindruck jedoch eher flach bis durchwachsen, thematisch passt das allerdings durchaus.
Musik und Text wechseln sich an diesem Abend ab, bieten Zeit zur Reflexion, wie auch das reduzierte Geschehen eher zum Nachdenken anregt als sich in bloßem Aktionismus oder eindimensionaler Bebilderung zu erschöpfen. Die ausgezeichneten Musiker spielen Musik von Arnold Schönberg und Anton Webern, die die Zeit Kafkas und damit eine stilistische Bandbreite von der Spätromantik bis zur Zwölftontechnik umfasst. Außerdem gibt es mit Karlheinz Stockhausens „Zyklus“ für einen Schlagzeuger, dem mehrsätzigen Zyklus „Voyage“ für Saxophonquartett von Charlotte Bray und „Olé“ von John Coltrane Modernes bis Jazziges. Musiktheater kann man das Gesamtkunstwerk allerdings nur bedingt nennen, es ist eher Musik mit Theater. Aber auch das hat seinen Reiz, was nicht nur an den vorzüglichen Musikern liegt.
Die Schauspieler dieser Inszenierung – Pascal Merighi, Urban Luig und Simon Jonathan Gierlich als Kafka – geben den zuweilen beklemmenden bis absurden Worten Kafkas mit bestechender, ja geradezu unerbittlicher Präzision Raum, allen voran Urban Luig, der die Hinrichtungsmaschinerie mit erschütternder Rührungslosigkeit schildert und Simon Jonathan Gierlich, der seinen Kafka mit geradezu kafkaesk anmutender Intensität gestaltet.
Nicht zu vergessen die schauspielerischen und artistischen Leistungen von Pascal Merighi, der körperlich einiges zu ertragen hat. So bleibt am Ende ein zum Nachdenken anregender Abend, bei dem Musik und Text zwar nebeneinander stehen, sich aber dennoch gegenseitig befruchten.
Guido Krawinkel |