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Tragik zwischen Sein und Schein
Deutsche Erstaufführung von Manuel Garcías „Don Chisciotte“ am Theater Hildesheim

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Berichte

Tragik zwischen Sein und Schein

Deutsche Erstaufführung von Manuel Garcías „Don Chisciotte“ am Theater Hildesheim

Von Rainer Nonnenmann

Wie durch Wurmlöcher prallen verschiedene Universen aufeinander. Hier ein geharnischter Ritter des 13. Jahrhunderts, dort Offiziere und Landleute des frühen 19. Jahrhunderts, die sich beklagen, ein Verrückter habe ihre Windmühlen zerschlagen und ihre Schafherden vertrieben. Die Epochen und Realitätsebenen vermischen sich. Denn die Titelfigur ist niemand anderes als „Don Chisciotte“. Der verarmte Adelige aus Miguel de Cervantes Roman vom Anfang des 17. Jahrhunderts hat so viele Heldenepen gelesen, dass er selbst ein Ritter zu sein glaubt und mit seinem Nachbarn Sancio Pancia auf Abenteuerreise geht. Dabei vollbringt der Träumer nur imaginäre Heldentaten und tatsächliches Missgeschick. Alles geschieht sowohl in der erzählten Realität von Roman beziehungsweise Theater als auch in der Fiktion des Verwirrten sowie im vorgegaukelten Theater im Theater – symbolisiert durch ein Leintuch mit aufgemaltem Drachen –, das den Ritter von der traurigen Gestalt durch Einwickeln fesseln und dann wieder nach Hause bringen soll.

Manuel García, „Don  Chisciotte“ mit Neele Kramer (Brunirosa), Sonja Isabel Reuter (Dorotea), Uwe Tobias Hieronimi (Marcello), Yohan Kim (Don Chisciotte), Foto: Clemens Heidrich, theater für niedersachsen

Manuel García, „Don  Chisciotte“ mit Neele Kramer (Brunirosa), Sonja Isabel Reuter (Dorotea), Uwe Tobias Hieronimi (Marcello), Yohan Kim (Don Chisciotte), Foto: Clemens Heidrich, theater für niedersachsen

Die vermutlich 1829 in Paris uraufgeführte und erst 2006 wiederentdeckte zweiaktige Oper „Don Chisciotte“ stammt von Manuel García (1775–1832). Der heute weitgehend vergessene spanische Komponist war vor allem ein gefeierter Tenor. Er sang den Almaviva bei der Uraufführung von Rossinis „Barbiere di Siviglia“, machte den italienischen Starkomponisten schon in den 1820er-Jahren in den USA bekannt, verfasste eine bis heute praktizierte Gesangsschule und war Vater von zwei der berühmtesten Sängerinnen des 19. Jahrhunderts: Maria Malibran und Pauline Viardot-García. 200 Jahre später erlebte seine Oper nun am Theater Hildesheim ihre deutsche Erstaufführung. Die italienische Opera semiseria basiert auf der typischen Nummernfolge von Rezitativ und Arie sowie Ensemble- und Chorsätzen bei Szenen- und Aktschlüssen. Manche Passagen erinnern an Rossinis Crescendo-Walzen. Ansonsten überwiegen epochen-typische Figuren aus älterer Zeit von 1750 bis 1780, Läufe, Ornamente, Triller und Dreiklangsmelodien, die allesamt nett zu hören sind, aber hinter dem Witz und Ausdruck von Mozart, Bellini, Cherubini oder Donizetti zurückbleiben. Melodik und Harmonik wirken erwartbar und auf die Dauer von zweieinviertel Stunden ein bisschen ermüdend. Die von Koloraturen strotzenden Helden-, Wut-, Klage- und Sehnsuchtsarien sind hoch virtuos, berühren aber nicht wirklich, auch weil die Affekte abrupt wechseln.

Eben noch lamentierte Sancio Pancio (Andrew Andreychik) über den Verlust seines Esels, doch plötzlich tanzt munteres Landvolk zu einer flotten Musette über die Szene. Die von Opernchor und Extrachor des theaters für niedersachsen zündend vorgetragenen Einlagen dienen mehr der musikalischen Abwechslung als der Handlung. Die bis zum Selbstmord verzweifelte Dorotea (Sonja Isabel Reuter) erschießt versehentlich (oder doch mit Absicht?) ihren untreuen Gatten Fernando (Seunghoon Baek), mit dem sie dann noch in bukolischem Duett die Liebesfreuden besingt. Der herbeigeilte Cardenio (Julian Rohde) triumphiert kurz über den toten Rivalen und feiert gleich darauf – sekundiert von soldatisch tirilierenden Holzbläsern – einmal mehr Kampf, Ruhm, Ehre, Sieg. Die sängerischen und schauspielerischen Leistungen sind allesamt gut. Besonders heraus ragen die Strahlkraft und Komödiantik von Tenor Yohan Kim in der Titelpartie sowie Reuter als Dorotea mit ebenso dramatischer wie ironisch-witziger Gestaltung der exaltierten Koloraturarien. Das Orchester brachte die Rarität unter Leitung von Florian Ziemen souverän zur Aufführung.

Analog zur Überlagerung von Mittelalterschwärmerei und Barockzeitalter bei Cervantes verbindet die Inszenierung von Seollyeon Konwitschny-Lee die mehrschichtige Romanhandlung mit der Entstehungszeit von Manuel Garcías Oper kurz nach dem spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die französischen Besatzer 1808 bis 1814. Gleich zur Ouvertüre sieht man daher den spanischen Maler Francisco Goya schlaflos als stummen Darsteller (Dirk Flindt) Cervantes „Don Quixote“ lesen, von drei Chimären aus Esel und Mensch umtanzt. Der erste Akt endet mit einem Tableau vivant von Goyas berühmtem Gemälde „Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808“. Die bisherige Komödie verkehrt sich dadurch plötzlich zur Tragödie der damaligen Gräueltaten. Die im zweiten Akt zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilte Dorotea hat das Schild „Weil sie liberal war“ aus einer weiteren Grafik von Goyas berühmtem Zyklus „Los desastres de la guerra“ um den Hals. Und der märchenhafte Riese entpuppt sich in der kriegerischen Realität des frühen 19. Jahrhunderts als der eigentliche Endgegner Kaiser Napoleon.

Kostümbildnerin Amelie Müller gestaltet viele ausdrucksvolle Figuren und beziehungsreiche Bilder. Don Chisciotte und Dorotea erscheinen doppelt als reale Bühnenfiguren und Marionetten. Weil man dem Mann aus La Mancha Theater im Theater vorspielt, wird er selbst in das Fadengestell seines marionettenhaften Alter Ego gespannt. Und umgekehrt befreit sich die anfangs im Puppenspiel hängende Dorotea in dem Moment aus den Strippen, als sie in der Rolle der Königin Micomicona für den Helden erst richtig lebendig wird. Auf dem Scheiterhaufen sind ihre Arme dann erneut gefesselt, nun jedoch mit Eisenketten. Musik und Bühnengeschehen changieren zwischen tatsächlicher und bloß vorgespielter Tragik wie zwischen Sein und Schein, Fakt und Fake. Stramme Märsche werden mit übertriebenen Ausfallschritten und heroischen Gesten ironisiert. Der ganze Tumult ereignet sich im Kopf des Fabulierers bzw. in einem Gasthaus, dessen habgieriger Wirt am Ende als bestechlicher Richter allen versammelten Personen den Prozess macht. In dieser Welt voll Gier, Hass, Gewalt, Eifersucht, Untreue und Lüge erweist sich Don Chisciotte letztlich als der einzig tugendhafte Mensch.

Sonja Isabel Reuter (Dorotea) und Dirk Flindt (Goya). Foto: Clemens Heidrich, theater für niedersachsen

Sonja Isabel Reuter (Dorotea) und Dirk Flindt (Goya). Foto: Clemens Heidrich, theater für niedersachsen

Eine Spezialität des Theaters Hildesheim ist es, während einer Spielzeit dasselbe Sujet gleich dreimal sowohl als Oper, Schauspiel und Musical zu präsentieren. Anna Siegrot hat für das Dreispartenhaus bisher die Bühnenbilder für je drei Inszenierungen von „Medea“ und „Hamlet“ geschaffen. Für „Don Chisciotte“ entwarf sie als Bühne auf der Bühne einen kreisrunden Raum mit verschiebbaren Wandsegmenten, um wechselnde Konstellationen von innen und außen, offen und geschlossen zu bilden. Das funktionale Bühnenbild dient dann ab Januar 2025 auch dem Schauspiel von Rebekka Kricheldorf nach Cervantes und ab März dem Musical von Dale Wasserman mit Musik von Mitch Leigh auf Texte von Joe Darion. Gegenwärtig greifen am Theater allerdings Existenzängste um sich. Dem begeistert applaudierenden Publikum berichtete der Darsteller des Dorfwirts Uwe Tobias Hieronimi, dass das Hildesheimer „theater für niedersachsen“ nach aktuellen Etatplanungen vom Land fortan nur noch 3,7 statt bisher 6 Millionen Euro Förderung erhalten soll. Dadurch drohen Stellenabbau, Qualitätsverlust und insgesamt ein Theatersterben im Flächenland Niedersachsen, dessen Kulturausgaben pro Kopf ohnehin bereits den vorletzten Platz unter den Bundesländern belegten. Das 2018 gegründete Aktionsbündnis von Theaterschaffenden aller Ensembles und öffentlichen Bühnen in Niedersachsen, dem auch Musiker und die Deutsche Musik- und Orchestervereinigung unisono angehören, hat am 7. November gegen die Sparmaßnahmen der Landesregierung vor dem Landtag in Hannover demonstriert. Hoffentlich ist diese Aktion dann kein Kampf gegen Windmühlen gewesen!

Rainer Nonnenmann

 

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