Berichte
Erbosung und Erschöpfung
„Königskinder“ und „Doktor Ox“ als poetische Studien über Massen am Theater Münster
Von Roland H. Dippel
„Ist reich das Gegenteil von arm?“, fragt das Theater Münster im Motto zur Spielzeit 2024/25 und antwortet gleich indirekt: Reich und arm sind oft geringere Gegensätze als äußerer und innerer Reichtum. Im großen Haus gab es Jacques Offenbachs fantastische Operette „Doktor Ox“ und gleich am Abend darauf Engelbert Humperdincks Märchenoper „Königskinder“, beides große Werke mit Opernchor und Extrachor an als publikumsschwach geltenden Arbeitstagen. Das ist an kleineren und größeren Bühnen inzwischen eher die Ausnahme als Regel. Doch in Münster gibt es mit Garrie Davislim einen ersten Tenor, der nicht vor Auftritten an zwei Abenden hintereinander in einer großen charismatischen Operetten- und einer riesigen Opernpartie zurückschreckt. Beide Stücke stellen die Frage: Was ist des Volkes wahrer Himmel? Die Premiere von Mischa Spolianskys Kabarett-Revue „Wie werde ich reich und glücklich?“ folgt dann am 22. Februar 2025.
Engelbert Humperdinck, „Königskinder“ mit Garrie Davislim (Der Königssohn), Ensemble und Chor, Foto: Thilo Beul
In „Doktor Ox“ nach einer Novelle von Jules Verne geht es um ein Glücksgas, das die Massen zu Laszivität, Promiskuität und Arbeitsscheu demoralisiert. Als die rauschhafte Wirkung nachlässt, stellen sich bei Arm und Reich wieder die vertrauten Gefühle von Lethargie und Erlebnismanko ein. Vorteil des Besuchs einer gut eingespielten Repertoirevorstellung: Soli, Chöre (Leitung Anton Tremmel), die „Musikbande der Träumer“ und Judith Gennrich als Prascovia neben Davislim an der Spitze eines tollen Ensembles haben Leichtigkeit, Schwung, Esprit – alle Offenbach-Tugenden, die sich auch bei guter Einstudierung so richtig erst in späteren Vorstellungen einstellen. Anna Webers Regie und Thorsten Schmid-Kapfenburgs musikalische Leitung beflügelten.
Am Abend darauf Humperdincks „Königskinder“, die erste Reprise nach der Premiere. Kapellmeister Henning Ehlert hatte sich das Stück ausdrücklich gewünscht und fand mit Nachdruck und Kraft zu unzählbaren Klangschönheiten. Das Sinfonieorchester Münster lieferte einen himmelhoch jauchzenden und zu Tode betrübenden Rausch. Neben den Kontrasten von sommerlicher und winterlicher Waldpoesie zum derben Volksfest mit Prügelei war das Orchester beglückendes Fundament des Abends. Die Gänsemagd und der Königssohn überwinden mit ihren Gefühlen füreinander soziale Schranken, scheitern aber an der im primitiven Vorteilsdenken befangenen Umwelt und gehen zugrunde. Ziel fast aller Inszenierungen ist es, den im Libretto von Elsa Bernstein-Porges mit Poesie überpinselten Pessimismus darzustellen.
Nun erarbeiteten Regisseurin Clara Kalus, Bühnenbildner Dieter Richter und Carola Valles mit den Kostümen drei Zeitebenen: Königssohn und Gänsemagd agieren in der Sphäre eines Kunstmärchens aus den eskapistischen Strömungen um 1900. In der rauen Stadtgesellschaft Hellabrunn gibt es „Volksoper“ mit kunstvoll derbem Chor: Eine westdeutsche Nachkriegsgesellschaft glotzt in eine hölzerne Fernsehröhre. Man schlemmt, protzt, prollt und stürzt sich mit raubeiniger Randalierlust auf alle, die sich an solch egomanischer Selbstgefälligkeit nicht beteiligen wollen. In diesen Szenen haben Opernchor und Extrachor große Momente, von der schwangeren Frau des Besenbinders als Kinderchor-Dirigentin bis zu Schlägertrupps, Gendarmen, Feiermeute und wohlstandssatten Kleinbürgern in Karnevalslaune. Der Hauschor mitsamt Extra- und Kinderchor ist von Anton Tremmel bestens einstudiert. Humperdincks Hellabrunn ist überall: Mit Stroboskop-Effekt knattert die Stadtansicht von Münster mit Prinzipalmarkt herein.
„Wie werden wir uns wiederfinden?“, fragt eine Projektion und meint damit nicht nur die drei Zeitebenen der Inszenierung. Die Kinder gehören schließlich zur „letzten Generation“, als sie sich von den Älteren lossagen und mit dem Spielmann solidarisieren. Hier sind sie allerdings alle kreuzbrav, ohne Rebellions- und Oppositions-Gen. Eine leidenschaftliche Erbosung wie die des Königssohns vor der Hellabrunner Bürgerschaft kann man von dieser Jungschar nicht erwarten. In ihren Blicken liegt zumeist passives Staunen. Am Ende stehen sie mit den zu Symbolen einer heilen Sehnsuchtswelt gewordenen Königskindern an den Seitengängen im Parkett. Märchenzauber durch Tod und Verklärung .
Neben Garrie Davislim (Königssohn), Anna Schoeck (Gänsemagd), Johan Hyunbong Choi (Spielmann) und Wioletta Hebrowska (Hexe) als hochklassiges Hauptpartien-Quartett stand wie bei „Doktor Ox“ ein gutes und intelligent strukturiertes Ensemble auf der Bühne. In künstlerischem Sinne ist das Theater Münster also keineswegs arm, sondern steinreich.
Roland H. Dippel |