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Hintergrund
Was im wirklichen Leben nicht zu Finden ist
Ferruccio Busonis Opern heute
Von Reinhard Ermen
Es wird Zeit, sich wieder an Ferruccio Busoni zu erinnern. Der 100. Todestag ist dafür ein guter Anlass. Nicht, dass der Name untergegangen ist. Wird er aufgerufen, so folgen selbstverständlich Hinweise auf einen der größten Pianisten seiner Zeit, der Johann Sebastian Bach ins 20. Jahrhundert überführt hat. Gleichzeitig taucht ein kritischer Kopf auf, der sich mit dem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ einen Blick in die Zukunft der Musik leistete, als Statement eines unabhängigen Geistes, der als Komponist zeitlebens auf der Spur seiner deutschen und italienischen Herkunft ist und dabei zu großartigen schöpferischen Synthesen fand. Ein beträchtlicher Teil seines Werkes ist in Rundfunk- und CD-Einspielungen leicht greifbar, partiell sogar in konkurrierenden Interpretationen. Im lebendigen Musikleben des Jubiläumsjahres tut sich indessen wenig. Vielleicht habe ich bei meinen Recherchen im Netz manches übersehen, aber am bemerkenswertesten erscheint mir die Tatsache, dass einige namhafte Pianisten mit dem großen Konzert C-Dur von 1904 unterwegs sind. In den Fokus gerät damit ein anspruchsvolles Hybrid, das wie ein Klavierkonzert der Superlative auftritt, letztlich aber ein symphonisches Drama mit einem Pianisten als Hauptdarsteller ist; über siebzig Minuten lang, mit einem Vokalfinale für Männerchor „Cantico“. Busoni sprengt immer mal wieder die Erwartungen, und gelegentlich braucht man mehr Zeit als einen Abend, um würdigen zu können, was da geschieht; dann aber entpuppt sich dieser Komponist als einer, der lang wirkende Musikerlebnisse beschert. Das könnte ein Fazit nach der Begegnung mit dem großen Konzert sein und gilt möglicherweise für einen großen Teil seines Gesamtwerks, zum Beispiel die vier Opern. Das Interesse daran ist im Jubiläumsjahr gering. Die Bühnen- und Orchesterabteilung des Verlags Breitkopf & Härtel meldet Anfang April, dass zu diesem Zeitpunkt zwei Produktionen der „Turandot“ als gesichert gelten, nämlich sechs Aufführungen in Sao Paolo und eine in Empoli, der Stadt zwischen Florenz und Siena, in der Ferruccio Dante Michelangelo Benvenuto Busoni am Ostersonntag 1866 geboren wurde.
„Turandot“
Ferruccio Busoni in Weimar 1901, Foto: Louis Held Weimar, Archiv Reinhard Ermen
Unter den vier Opern gibt es keine unbedeutende, aber „Turandot“ ist die leichteste, vielleicht die italienischste, in knapp drei Monaten zu Papier gebracht als Pendant zum Einakter „Arlecchino“, uraufgeführt im Mai 1917 in Zürich. Die für Busoni außergewöhnliche Eile, mit der er diese „Turandot“ aus dem Hut zaubert, ist dem Stück anzuhören – nicht zum Nachteil des Gesamteindrucks. Die fast schon sportiv federnde Musik, die sich gerne Alla Marcia in allen möglichen Darreichungen formuliert, setzt eine hintergründig, ironische Comedia dell’Arte-Kompression unter Strom. Den Komponisten interessiert das Spiel der Masken und der Verkleidungen. Lustvoll spielt er mit exotischen Farben, gelegentliche Verbiegungen nicht ausgeschlossen, wenn er etwa in „Turandots Frauengemach“ eine schnelle Version des englischen Volkslieds „Greensleeves“ einschmuggelt. Heute würde man so einen Trick als „Fake“ charakterisieren. Die kleine-große Oper in zwei Akten ist darüber hinaus ein Ensemblestück mit prachtvollen Chorszenen, sinnstiftenden Divertissements und nicht zuletzt einem dekorativen Finale. Die italienische Anmutung ist eine ganz besondere Maske, denn diese „Turandot“ ist ein deutsches Singspiel, sie kommt daher mit gesprochenen Dialogen, die partiell wie Rezitative funktionieren. Eine italienische (sangbare) Übersetzung gibt es erst seit 1936.
Ferruccio Busoni, Titelbild zur Orchestersuite „Turandot“ 1906,
Entwurf von Emil Orlik für den Verlag Breitkopf und Härtel
Was die hundert Tage angeht, in denen die Oper während des Ersten Weltkriegs im Zürcher Exil aufs Papier geworfen wird, so konnte Busoni im Wesentlichen auf eine Schauspielmusik für Max Reinhardt zurückgreifen, die 1911 im Deutschen Theater Berlin erstmals gegeben wurde. Dem Vernehmen nach hat Giacomo Puccini diese Produktion gesehen. Dass dessen nachgelassene „Turandot“ anders ist, liegt auf der Hand: Puccini, im November 1924, wenige Monate nach Busoni, gestorben, realisiert ein spätveristisches, vitalistisches Musikdrama, das die Commedia dell’Arte effektvoll zitiert und mit heftigen Gesten übermalt. Eine Tour de force steht gegen die feinsinnige, chinesische Fabel, monumentale Wucht stellt Edelstein in den Schatten, der Welterfolg der späteren „Turandot“ macht Busonis Oper fast vergessen, denn das Repertoire verträgt seltsamerweise nur einen maßgeblichen Repräsentanten eines Stoffes.
Dabei macht „Turandot“ eigentlich erst zusammen mit „Arlecchino“ den Abend und ist deshalb nur bedingt vergleichbar. Dass die chinesische Fabel auch für sich funktioniert, steht auf einem anderen Blatt. Beide Kurzopern hat Busoni schon mal unter dem Label „La nuova Commedia dell’Arte“ zusammengefasst. Gemeinsamer Nenner ist die ritualisierte Kunstfertigkeit der italienischen Stegreifkomödie, die sich perfekt in die Strategien seiner selbstbewussten Musik einfindet. Der Psychologisierung der Oper, einem Markenzeichen ihrer Gegenwärtigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erteilt dieser Komponist eine Abfuhr, er vermeidet sentimentale Umarmungen, attraktive Katastrophen und andere Überrumpelungen. Von Richard Strauss ist er damit genauso weit entfernt wie von Puccini. Es gibt keine funkelnden Oberflächen, viel eher durchstrukturierte, polyphone Körper im Sinne einer gleichsam von innen gestützten, klingenden Nachhaltigkeit. Was Orchester und Stimmen angeht, ist Busoni ein Meister, der im Zweifelsfalle eher grundsätzlich formuliert, suggestive Wirkungen mit eingeschlossen: Staunen darf sein. Die Quadratur des Kreises, die dieser Komponist anstrebt, und das gilt für alle seine Opern, ließe sich als distanzierte, artifizielle Nähe beschreiben; ja, Busoni schreibt eine Musik, bei der ich gelegentlich das Gefühl habe, dass sie sich im Vollzug selber zuhört, vielleicht sogar kontrolliert. Conditio sine qua non seiner Ästhetik ist die Beschwörung eines musikhistorischen Konzentrats, das er schon mal als „Junge Klassizität“ charakterisiert; nicht zu verwechseln mit dem Klassizismus eines Igor Strawinsky, dessen „Pulcinella“ im Vergleich zu „Arlecchino“ geradezu gemütlich klingt.
„Arlecchino“
Schon der kessen Fanfare des Beginns, in der alle zwölf Töne enthalten sind, eignet etwas Widerborstiges, ja Gefährliches. Dem Solo der Trompete folgt ein gesprochener Prolog, der die Titelfigur als eine Person exponiert, die primär spricht, oft genug rhythmisch fixiert mit instrumentaler Begleitung und gelegentlichem Singsang, was der dafür besetzte Schauspieler alles beherrschen sollte. Antony Beaumont, dessen Buch „Busoni the Composer“ (1985) nach wie vor das unentbehrliche Standardwerk ist, macht als Vorbild für diese Sprachbehandlung Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“ aus. Busoni hat diese abgründige, atonale Salonmusik (pardon) sehr intensiv zur Kenntnis genommen. Er wählt für seinen Harlekin allerdings eine weniger angestrengte Form des Melodrams, auf Andeutungen von Tonhöhen verzichtet er.
Anders als Schönbergs mondsüchtiger Narr ist das auch eine entschieden diesseitige Person, im Handstreich bringt der „Kriegsmann“ die Stadt Bergamo oder wenigstens einige ihrer Bewohner unter seine Kontrolle, um damit ein neues Liebesabenteuer zu dekorieren. Der Bubenstreich kommt daher wie ein Lehrstück, puristisch, ohne Chor, und wieder – diesmal unter verschärften Bedingungen – ist das ein deutsches Singspiel, in dem allein die Dante-Zitate, an denen sich ein weltfremder Literaturfreund und Schneidermeister berauscht, original italienisch daherkommen. Was manchmal wie eine Weltkriegsparodie klingt, war schon im Frühjahr 1914 fertig: „Das inzwischen ausgebrochene Gemetzel“, so Busoni, „bewirkte, dass die ursprünglichen ‚Türken‘ des Librettos in ‚Barbaren‘ gewandelt wurden.“ Im Archetypus der Commedia dell‘Arte schlummert anscheinend ein Potenzial, das sich in der jeweiligen Zeit aktualisiert.
Wenn man so will, steht dieser „Arlecchino“ dem „Doktor Faust“ wie eine komplementäre Setzung gegenüber: Hier der Triumphator einer komödiantischen Gesinnung, dort der suchende Zweifler, mit dem Busoni wohl auch einen Künstler meint. Eine „hervorragende historische und sprichwörtliche Figur, die mit dem Zauberischen und Unenträtselten zusammenhinge“, schwebt ihm vor, und dabei streift er entsprechende Stoffe und Mythen. Zeitweilig denkt er an Leonardo da Vinci, Merlin und Don Juan beschäftigen ihn, ja für Augenblicke spielt er, inspiriert durch den Roman „L’eve futur“ von Auguste Villiers de L’Isle-Adam, mit dem Gedanken, eine Oper über Thomas Alva Edison zu wagen. Der abgebrochene Versuch nach dem „Aladdin“ des Goethe-Zeitgenossen Adam Oehlenschläger, dessen Apotheose als „Cantico“ in das Klavierkonzert einging, ist auch eine Figur mit dieser Ausrichtung. „Faust“ wird ihm erst möglich nachdem er um Goethe einen großen Bogen gemacht hat. Die erste Fassung des Librettos schreibt er Ende 1914 nieder, fast gleichzeitig mit „Arlecchino“. Ironie des Schicksals ist die Tatsache, dass ihn seit 1908 eigentlich der Gedanke an eine Art italienische Nationaloper umtreibt. Dabei arbeitet er zu diesem Zeitpunkt an einem Stück, das ziemlich Deutsch daherkommt: „Die Brautwahl“ (Hamburg 1912) nach E.T.A. Hoffmann aus dessen Sammlung „Die Serapionsbrüder“.
„Die Brautwahl“
Busoni, wie immer auch sein eigener Textdichter, folgt der Erzählung und ihrer ironisch-sarkastischen Umständlichkeit gerne, es wird gezaubert, zwei Wiedergänger aus dem 16. Jahrhundert mischen die biedermeierliche Gemütlichkeit der Stadt Berlin auf, einige jüdische Stereotypen, die Busoni ungefiltert aus der Vorlage übernimmt, irritieren heute. Die mitgelieferte Kunstdebatte und ihre finale italienische Perspektive greift er auf. Die Berlinische Oper schließt nach der glücklich erlangten Verlobung mit dem Weckruf „Nun fort nach Rom“. Wer diese Oper will, muss einige Längen in Kauf nehmen, aber mit Strichen ist der trotzigen Umwegdramaturgie kaum beizukommen, wer dranbleibt, wird durch ein inspiriertes, wunderlich vermintes Stück, durch originelle Farben und großartige instrumentale Zwischenspiele entschädigt. Ganz nebenbei trägt die „musikalisch-phantastische Komödie“ auch ein „Falstaff“-Erbe mit späten Einschlägen der „Meistersinger“ aus. Vor allen Dingen hat Busoni nach den Erfahrungen mit dieser ambitionierten Arbeit seine Opernästhetik formuliert, die er 1913 erstmals veröffentlicht; später wird er sie in die Zweitfassung des „Entwurfs“ einarbeiten. Er will Stoffe, die nach Musik rufen, die eine „Scheinwelt schaffen, die das Leben entweder in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel reflektiert; die bewußt das geben will, das im wirklichen Leben nicht zu finden ist“. Mit Weltfremdheit ist das schön formulierte Credo nicht zu verwechseln; du schaust in diese Spiegel und findest partiell dich selbst, die ausgesperrte Wirklichkeit steht möglicherweise aber Kopf.
„Doktor Faust“
Ferruccio Busoni, „Doktor Faust“ 2017 in der Semperoper Dresden, Inszenierung Keith Warner, Musikalische Leitung Tomáš Netopil. Michael Eder (Wagner), Lester Lynch (Doktor Faust), Foto: Semperoper Dresden, Jochen Quast
Mit „Doktor Faust“ legt er schließlich sein Opus maximus vor, das auch Hauptwerk seiner Epoche, des frühen 20. Jahrhunderts, ist. Referenzgrößen wären der „Palestrina“ des Kontrahenten Hans Pfitzner, Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ oder Paul Hindemiths „Mathis der Maler“. Diesen Werken durch den Bekenntnischarakter ähnlich, der musikalisch Unverwechselbares kreiert, ist Busonis Oper jedoch mit einer Klanglichkeit ausgestattet, die in ihrer Archaik (siehe „Junge Klassizität“) immer wieder die Grenzen des Tonalen ertastet, um den schwankenden Standort des Titelhelden am Rande des Absoluten zu malen. Wie in einer Armillarsphäre kreist die Musik um ihren Kern, Fausts treibenden Willen zur Erkenntnis.
Ferruccio Busoni, „Doktor Faust“ 2017 in der Semperoper Dresden, Inszenierung Keith Warner, Musikalische Leitung Tomáš Netopil. Manuela Uhl (Herzogin von Parma), Lester Lynch (Doktor Faust), Michael König (Herzog), Mark Le Brocq (Mephistopheles), Staatsopernchor, Foto: Semperoper Dresden, Jochen Quast
Das steht auf einem monumentalen Sockel, was Busoni selbst umtreibt, der nicht einfach Pianist oder Tonsetzer ist, sondern ein Künstler des essayistischen Innehaltens sein will, ein Homme de Lettres mit einer eigenen aphoristischen Musiktheorie. Der „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ (1906/16) ist in diesem Sinne die Speerspitze seines Denkens, das Möglichkeiten von Zukunft ins Auge fasst, Grenzen des Gültigen hinterfragt und dabei weiter geht als er selbst zu realisieren vermag. Busoni ist ein Avantgardist im Geiste, die Potenzialität von Zukunft ist eine Art Vortrieb seiner ästhetischen Gegenwart. Bezeichnenderweise entscheidet sich sein Faust, der Zauderer und Zweifler ist, für den besonderen Teufel Mephistopheles, weil der von sich sagt, so schnell zu sein „wie des Menschen Gedanke“. Der Avantgardist im Geiste ist ein Realist des Machbaren, Fausts Suche nach dem „Ungekannten“ wird von Vorspiel zu Vorspiel bis zu den eigentlichen drei „Hauptspielen“ gezeigt und erwogen. Trotz der durchaus verhaltenen Dramaturgie wird der ganze Apparat mit Namen Oper in dieser festlich-mysteriösen Arbeit aufgerufen, neben dem Titelhelden, zahlreiche figurierende Stimmen, agierende und unsichtbare Chöre. Den „Faust“ konnte Busoni nicht mehr vollenden, mehr als ein Jahr vor seinem Tod brach er die Arbeit ab. Es fehlte nur noch wenig. Eine erste Leerstelle tat sich im zweiten „Hauptspiel“ (Schenke zu Wittenberg) auf mit der Erscheinung der schönen Helena. Faust: „Der Mensch ist dem Vollkommenen nicht gewachsen.“ Endgültig bricht die Partitur kurz vor Schluss ab, wieder mit einer Helena-Vision. Das Bild des Gekreuzigten verwandelt sich für Augenblicke in ein Ideal von Schönheit schlechthin. Die Uraufführung 1925 in Dresden war durch eine sozusagen ebenso freihändige wie wuchtige Komplettierung durch Philipp Jarnach, den Schüler, möglich. Das Bild von diesem Stück, die Wahrnehmung als ein seltenes Hauptwerk der Zeit, war dadurch möglich. Inzwischen liegt eine alternative Ergänzung durch Antony Beaumont vor, der sich dabei bewusst auf eine kurze Notiz Busonis bezieht, nach welchen vorhandenen Arbeiten die Leerstelle und der Schluss zu machen seien. Diskreter, warum nicht: sachlicher und damit näher bei den Absichten Busonis, hat Beaumont das Stück zu Ende geführt, erstmals gegeben 1985 in Bologna; Werner Herzog gab damals sein Regiedebut als Opernregisseur.
Reinhard Ermen |