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Schwerpunkt:
Opern-Sommer
Herausfordernd, fragwürdig, amüsant
Breitgefächertes Programm der Opernfestspiele München
Die Zahlen signalisieren schon einiges: Da erleben live auf dem Vorplatz des Nationaltheaters und im Internet an die 35.000 Zuschauer das Kultur-Ritual „Oper für alle“ – eine inszenatorisch problematische „Tosca“ kostenlos. Zugleich gab es Karten für die Staatsoper von 343 Euro abwärts. Da fügt sich die hoch subventionierte Bayerische Staatsoper in eine Preisentwicklung zwischen Bayreuth und Salzburg, die zumindest „problematisch“ zu nennen ist.
Ligeti, „Le Grand Macabre“ 2024 mit Thomas Mole, Michael Nagy, Andrew Hamilton, John Holiday und Nikita Volkov. Foto: Wilfried Hösl
Doch noch vor aller Bühnendramatik lief schon das Drama „Künftige Intendanz“. Vom rührigen Kulturminister wurden Präferenzen für Joanna Mallwitz als künftiger Generalmusikdirektorin kolportiert; Intendant Serge Dorny wird für seine Programmatik beim Kern des Münchner Stammpublikums nicht geliebt und auch seine leise Introvertiertheit wird bislang der Erwartung „Französischer Charme“ nicht gerecht. Nach einigem Geschwurbel wurden dann doch der musikdramatisch beeindruckende GMD Vladimir Jurowski und Intendant Dorny deutlich verlängert – schließlich stimmen alle Spielzeitzahlen.
Belege für Dornys nicht süffige, eher herausfordernde Programmatik waren dann beide Festspielpremieren. György Ligetis derzeit brandaktueller „Le grand Macabre“ war bei dem als Rückkehrer zum Staatsorchester gefeierten Kent Nagano in besten Händen, mit klarer, ausdifferenzierter Zeichengebung souverän auch bei den vielerlei rhythmischen Vertracktheiten. Zu hören waren nach dem eröffnenden Hup-Konzert die mal gläsern kantigen, mal trügerisch irisierenden, mal lyrisch durchsichtigen Klang-Stücke, auch die Klangeruptionen. Die komponierten Rülpser, Kuckucksrufe und Kuhglöckchen kontrastierten ironisch amüsant. Bei aller Spannung stellte sich im zweiten Teil des pausenlosen Abends aber doch das Gefühl „lang, zu lang“ ein. Auch die teils bizarre Klangwelt mit all ihren kleinen Zitaten aus der Musikgeschichte konnte den Eindruck „museal“ nicht weg-tönen.
Debussy, „Pelléas et Mélisande“ 2024 mit S. Devieilhe und B. Bliss. Foto: Wilfried Hösl
Festspielgemäß das Solisten-Ensemble: Benjamin Bruns soff sich als Piet vom Fass tenoral und darstellerisch agil durch seine berauschte Weltsicht; Sam Carls Astradamors war ihm ein baritonal ebenbürtiger Kumpan; Countertenor John Holiday schwankte als dubioser Fürst Go-Go überzeugend zwischen Ohnmacht und Auftrumpfen; die korrupt-selbstgefälligen „Schwarz-Weiß-Minister“ wurden von Kevin Conners und Bálint Szabó gekonnt grell charakterisiert; lediglich Michael Nagy hätte der zentralen Figur des abgründigen Gewaltherrschers Nekrotzar mehr düstere Grandiosität verleihen sollen. Alles hatte Regisseur Krzysztof Warlikowski in einem grauen Beton-Wartesaal seiner Dauerausstatterin Malgorzata Szczęsniak vielfältig arrangiert – ohne Anspielung auf Lion Feuchtwangers hoch politische Münchner „Wartesaal“-Trilogie – und auch ohne Bezug zu unseren derzeitigen Verführern und Gewaltherrschern, dafür leider werkfremd mit Flüchtlingsströmen, NATO-Draht à la Calais oder der spanischen Exklave Melilla, bürokratisch inhumaner Verwaltung von Menschen und und und … Er wollte „Alles aus Absurdistan“ zeigen, von „Breughelland“ und Hieronymus Bosch über „Heute“ bis zu interstellarem Universum. Dieses Kaleidoskop ließ zwar das im Werk gestaltete „Casino Royal“ – etwa als bitterböse Mischung aus Ballermann und Sylt – einfach szenisch aus, bot dafür Gender-Tauschereien von Männer- und Frauenkleidern, Kick-Box-Andeutungen, durch Schönheitsoperationen verkleisterte Frauengesichter, einen Kunstturner und Breakdancer – und leider auch Warlikowskis Unvermeidliches wie vielerlei Griffe in Schritt und Scham und natürlich Plastik-Pimmel und Brüste… Doch bei wachen Kunst-Freunden ist das derzeitige Krisen-Endzeit-Bewusstsein deutlich umfassender, ja fundamentaler und erschreckender – folglich theatralisch schwer zu realisieren. Im Nationaltheater kein künstlerisch-kultur-gesellschaftspolitisches „Denkt mal!“
Leider maßte sich Regisseurin Jetske Mijnssen im Prinzregententheater dann an, einen Klassiker zu „verschlimmbessern“, also eine vor allem im Finale recht privatistische Sicht auf „Pelléas und Mélisande unter Verwendung von Debussys Musik“: Pelléas wird nicht ermordet, sondern hält am Ende Mélisandes Kind wie ein eigenes im Arm; alles spielte zunächst ohne Wald und Schloss auf einem bühnenbreiten Parkettstreifen in spätbürgerlich edlem Ambiente; das war dann am Ende abgeräumt und alle wateten in heutigen Gummistiefeln in befremdlichen Wassergevierten… kein Buhsturm, weil Ben Bliss’ Pelléas mit blendender Bühnenerscheinung überzeugte, vokal aber wenig tenorale Brillanz ausstrahlte. 2002 gab Christian Gerhaher sein viel beachtetes Rollendebüt als Pelléas in Frankfurt (Regie: Claus Guth), jetzt, perfekt ergraut und gereift, gab er dem Golaud neben sehr gutem Französisch baritonal packende Eifersuchtsausbrüche mit überzeugender Körpersprache. Zu Sabine Devieilhes mädchenhafter Figur hätte eine Mélisande als Bühnen-Zauberwesen in anderem Ambiente gepasst, jetzt war sie eine fein ziselierte, junge Dame der Society von 1900 und sang mit mal süßem, mal zerbrechlich schlankem Sopran zauberhaft, zumindest mit einer Ahnung von Anderssein. Sie alle führte der Finne Hannu Lintu überzeugend feinsinnig und dann auch mit klangwuchtigen Ausbrüchen, so dass sich Debussys „Theater der Grausamkeit“ hören ließ.
Blieben also an der Staatsoper Wünsche offen, profilierte sich sozusagen „die kleine Schwester“ mit einem Uraufführungsbonbon. Intendant des Staatstheaters am Gärtnerplatz Joseph E. Köpplinger vertraut den Talenten von Thomas Pigor und Konrad Kosellek fürs so schwierige Leichte. Obwohl die Umdeutung von Georges Feydeaus ohnehin schon hinreißender Farce „Occupe-toi d’Amélie“ zu einer Liebesgeschichte für zwei schwule Männer sowohl moralisch woke oder betuliche Rechtfertigung als auch einseitige Glorifizierung befürchten ließ, wurde dann „Oh! Oh! Amelio!“ einfach ein herrlich lockerer, schräg bunter Spaß auf höchstem Musiktheaterniveau. Das durchgängige Amüsement katapultierte nach pausenlosen einhundert Minuten mit begeistertem Jubel die tief gelegene Studiobühne des bestens renovierten Hauses in den Theaterhimmel.
Thomas Pigor/Konrad Kosellek, „Oh! Oh! Amelio!“ mit Dagmar Hellberg (Die Putzebumskaja), Laura Schneiderhan (Charlotte), Christian Schleinzer (Amelio von Tschüssikowski), Julia Sturzlbaum (Marika Waldhoff), Peter Neustifter (Der Matriarch). Foto: Anna Schnauss
Da war natürlich eine fabulös witzige Vorlage, die Pigor mit all seinem Theatervollblut bearbeitet hat: Prompt stimmte das flüssige bis rasante Timing, gab es pointierten Dialog und amüsant-freche Song-Texte bis hin zu ariosen Aufschwüngen, auch mal als Duette und Ensembles. Dass das alles wie ein Uhrwerk schnurrte, war der pfiffigen Musikmischung von Pigor und Koselleck sowie dem durchweg pulsierenden Schmiss von Kammerorchester und Unterhaltungsband unter Andreas Partilla zu danken: Polka über Tango zu Arien-Glanz mit lang gehaltenen Spitzentönen. Aus Feydeaus Vorlage mit dem Marika umschwirrenden Freundespaar Amelio und Étienne ein schwules Paar zu machen, verlangte zurückhaltende „Normalität“, und dann eben feinen Witz – und beides gelang in Wort, Spiel und Gesang; aus dem orientalischen Prinzen bei Feydeau, der Marika einfach kaufen will, einen schleimigen TV-Produzenten zu machen, der allen Mädels über seine „Besetzungscouch“ Karriere verspricht, gelang überzeugend – und gipfelte in dem Schlussgag, dass in der aus einem gelüfteten Vorhang als „Loge“ am Ende ein Scheich saß, der „einfach alles kauft“. Auf der kleinen Bühne bildete ein albern-grelles „A“ mit Lämpchen-Geglitzer sowohl das schnuckelige Zuhause des Männerpaares wie den Hintergrund für Nachtclubausflüge oder den herrlich improvisierten Rahmen für eine groteske marzowinisch-orthodoxe Hochzeit – alles mit rasanten Kostümwechseln von Unterwäsche bis zu Priester-Ornat. Lautes „Tutti bravi!“ an Ausstatter Karl Fehringer und Judith Leikauf mitsamt Choreograph Alex Frei, die den begrenzten Raum vergessen und turbulent bespielen und betanzen ließen.
Der „tutti!“-Jubel schloss alle neun Protagonisten ein, allen voran den auch mal steif eifersüchtigen Étienne von Armin Kahl, die champagnerfixierte Marika mit Privatinsolvenz, aber sicherem hohen C von Julia Sturzlbaum, den blond-schönen Amelio von Christian Schleinzer zum testosteron-wilden Produzenten von Alexander Franzen über die kleineren Rollen hin zu zwei Theatervollblütern: Pigor hatte sich selbst eine herrlich komische Rock-Rolle als Amelios Mutter „Täschner“ mit „ächt frängischem“ Akzent geschrieben, begrüßte mitsamt „Trigger-Warnungen“ vom „Witz über Stroboskop bis zu An- und Auszüglichkeiten“ das Publikum und lief dann zu großer Gaudi-Form auf mit dem Running Gag, sich dem Produzenten durchweg als „beste Leiche für den nächsten Tatort“ anzupreisen – Szenenapplaus. Größtes Kompliment: Sein Text ist nirgendwo gender-kämpferisch, sendungsbewusst triefend oder woke-anbiedernd.
Und dann kam auch noch „Grande Dame“ Dagmar Hellberg als beklunkerte Erbtante Putzebumskaja auf die Bühne – da schwappte der Champagner schon mal aus dem Glas ins fulminant Grandios-Komische. Der eröffnende Song „Es geht um Unterhaltung und sonst nix“, der Running Gag „Einfach super“, Amelios Auftritt als Drag-Queen und an einem Verwirrungshöhepunkt der Ruf nach „Regie!“ – alles war erfüllt: Regie Gabi Rothmüller – bravissima! Das Gärtnerplatz hatte einen Festspiel-Hit – und darüber hinaus wohl einen Dauerbrenner für Sylvester und zum Fasching…
Wolf-Dieter Peter
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