Schwerpunkt:
Opern-Sommer
Komplett-Festival am See
Die Bregenzer Festspiele bieten fast alles
Seit die „Bond-Location-Scouts“ auf ihrer weltweiten Suche die Bregenzer „Tosca“ für „Ein Quantum Trost“ entdeckten und 2008 dann dort tatsächlich filmten, hat auch ein Teil der High Snobiety das „Spiel am See“ als besuchenswert eingestuft. Folglich gibt es ganz oben, über der Tribüne, vor Wind und Wetter geschützt hinter aufklappbaren Fenstern, eine exquisite Tischreihe mit Edelgastronomie – während Daniel Craig gerne beim guten Asiaten „Manga“ am Hafen aß und bis heute sein Tisch dort markiert ist.
Carl Maria von Weber, „Der Freischütz“. Foto: Bregenzer Festspiele/Anja Koehler
Weit abseits allen Promi-Geglitzers bieten die Festspiele auf der Seetribüne bis zu 28-mal für rund 7.000 Besucher pro Abend ein populäres Werk in spektakulärer Realisierung – von 30 Euro aufwärts. Mit einer deutlich höheren Anzahl derart preiswerter Tickets haben die Bregenzer Festspiele einen „Sozial-Vorsprung“: Die finanzielle Schwelle ist deutlich niedriger als bei der Festival-Trias Bayreuth-München-Salzburg – samt singulären Beigaben wie Abendbrise bis Wind, drohende Wolken bis hin zu Regen und mitunter Abbruch der Vorstellung. Erstaunlicherweise haben die meisten Sänger schon in der Probenzeit ein staunenswertes Durchhaltevermögen entwickelt und wollen singen, auch wenn…
Zu ihrem Abschied als Intendantin verpflichtete Elisabeth Sobotka nochmals den von ihr geschätzten Philipp Stölzl. Er durfte für die 78. Festspiele den noch nie in Bregenz gezeigten „Freischütz“ von Carl Maria von Weber neu deuten. Als sein eigener Bühnenbildner hat er die Handlung von aller Wald-Romantik entblößt. Die Bühne zeigt ein winterliches Dorf, von einem zurückliegenden Krieg teils zerstört, von einer Überschwemmung zusätzlich gezeichnet, von vielen Wassertümpeln und Eisflächen umgeben. Es findet eine Art „Rauhnächte“-Wettschießen statt, auf dem gesoffen und sogar lautstark gekotzt wird. In dieser detailversessenen „Eiswasser“-Szene werden die Tümpel dauernd durchwatet, es wird unter- und aufgetaucht, weshalb alle Darsteller unsichtbare Neopren-Häute und Spezialschuhe tragen – der Festspieletat macht’s möglich. Der teuflische Samiel ist zum durchgehenden Spielleiter (geifernd hübsch Moritz von Treuenfels) aufgewertet, darf ein aus dem Wasser auftauchendes Skelett-Ross reiten, eine Feuer-Kutsche mit Gespenstern ziehen und auf einem feuerspeienden Teufelsdrachen den Pakt mit Kaspar schließen. Der gießt seine Freikugeln in einem Feuer-Ring mitten im Wasser, umgeben von vielen umhertauchenden Untoten (der Stunt-Truppe), und dazu wabert enorm viel giftgrün-blau ausgeleuchteter Bühnennebel.
Stilistisch „phantastisch“ darf dann aber Agathes offen in die Szene ragendes Bett auch mal geisterhaft hochfahren. Ännchens „flotter Bursch“ wird – gendergerecht? – zur „Maid“ umformuliert und von acht mit Glühlämpchen bekränzten Nixen mitsamt Wasserballett und Synchronschwimmen umspielt. Diese Glitzermädels umtanzen später dann auch Agathe zum „Jungfernkranz“-Gesang. Zahllose weitere Details bis hin zu religiösen Kitschbildchen auf dem Mond über der Szene lassen sich aufzählen. So wird in einem Vorspiel der „Schreiber Max“ nach seinen Fehlschüssen schon mal aufgehängt und seine Leiche im Wasser versenkt. Später darf Agathe zu Max sagen „Es ist noch Suppe da!“ – der Textautor bleibt ungenannt. Agathe gesteht Ännchen auch, dass sie in der zehnten Woche schwanger ist, küsst sie schon mal leidenschaftlich – etwa „a bisserl ,bi‘ schadet nie“? Also wollen beide Mädels fliehen und wird Agathe dabei von Max erschossen – ehe Samiel mit hämischem Kommentar fürs Publikum in einem Nachspiel und einem opulent-befremdlichen Glitzerkostüm den Eremiten spielt und ein hohl wirkendes Happy End inszeniert. Erkennbar wird, dass Regisseur, Bühnenbildner und Lichtregisseur Stölzl sowie Kostümbildnerin Gesine Völlm nicht an das Original-Werk glauben, sondern es aus ihrem eigenen Horizont „modern aufmotzen“.
Von Nikola Hillebrand (Agathe), Mauro Peter (Max), Katharina Ruckgaber (Ännchen) und Christoph Fischesser (Kaspar) sowie allen Interpreten der kleineren Rollen wurde durchweg gut gesungen. Dirigent Enrique Mazzola hat die Streichung von Ännchens „Kettenhund“-Arie, die inakzeptable Text-Verhackstückung von Agathes „Leise, leise“-Lyrik-Traum durch Samiel und andere Eingriffe mitgetragen. Dennoch erwuchs in den pausenlosen zwei Stunden kein dichter Alptraum-Schocker-Thriller. Leider war diese aufwändig naturalistisch gestaltete und wie aus aller Zeit gefallene „Land-Wasser-Schaft“ auch von mehr als zehn Technik-Masten mit modernsten, fahrbaren Scheinwerfern und Lautsprechern umstanden – während es über Jahrzehnte Bregenzer Markenzeichen war, alle Technik möglichst zu verstecken. Das sich sonst in „Weltniveau“ sonnende Bregenzer Open-Akustik-Team hatte einen schlechten Premieren-Tag: Der aus dem Off hereingespielte Chor klang ortslos im Raum; bei Kaspar gab es Tonaussetzer und die Wolfsschlucht klang nur „gut“ – aber weit hinter früher grandios unvergesslichen Fortissimo-Klangräuschen zurückbleibend. Zurecht war der Schlussapplaus eher schwach und mit ein paar Buhs durchsetzt. Doch Abhilfe ist möglich: Wie Bayreuth sollte sich auch Bregenz auf seine „Werkstatt“-Möglichkeiten besinnen und für 2025 eingehend überarbeiten… etwa so in Richtung eines Werkes namens „Webers Freischütz“.
Fotoprobe „Hold Your Breath“. Foto: Bregenzer Festspiele/Anja Köhler
Und dann durften Gangster Koloraturen singen. Es ist nämlich beste Bregenzer Dramaturgie, dass im Festspielhaus eine „Opern-Orchidee“ erblühen darf, ein sonst kaum zu erlebendes Werk. Die einst in Italien studierende Intendantin Elisabeth Sobotka hat dazu Gioachino Rossinis seriösen Erstling „Tancredi“ von 1813 gewählt. Da war lange vorher die Fassungsfrage zu entscheiden. Zusätzlich brachte Nürnbergs Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger einen dezidierten Akzent ein: Da der kriegerische Held Tancredi für einen weiblichen Contralto komponiert wurde, sah sich Gloger darin bestätigt, Tancredi und seine geliebte Amenaide als lesbisches Liebespaar zu zeigen. Zusätzlich verlegte er die ohnehin heikle Handlung – christliche Ritter gegen islamische Sarazenen – in eine Mafia-Rivalität zweier Drogen-Familien von Hier und Heute. Jetzt also Lesben-Liebe inmitten von Macho-Strukturen samt deren Moral-, Ehre- und Treue-Wahngebilden. „Wokes“ Thesen- und Bekenntnis-Theater?
In der Aufführung funktionierte der Geschlechtertausch Tancredis weitgehend ohne „Umdichtung“ des Texts, auch weil Anna Goryachova mit ihrer drahtig-eleganten Bühnenerscheinung eben eine Messer- und Pistolen-sichere Einzelkämpferin verkörperte. Die tragische Haupthandlung funktionierte, weil im Kontrast zu mafioser Ehrentütelei jugendlich emotional überbordende Liebe sich sehr wohl in herrlich süß-schwelgerischen Melodien bis hin zu klassisch belcantistischem Ziergesang äußern kann. Rossinis damals höchst erfolgreiche Hinwendung zur Opera seria war bei Mélissa Petits Amenaide und Goryachovas Tancredi in besten Kehlen. Auch die anderen vier Hauptrollen überzeugten. So entfaltete sich über Tancredis berühmtes „Di tanti palpiti“ hinaus das, was schon 1813 dem neuen Komponisten-Star attestiert wurde: vielfältigster Kantilenen-Zauber. Das wirkte nicht als rampennahes Sängerfest, weil Ben Baur auf der bühnengroßen, langsam kreisenden Drehbühne einen heruntergekommenen Palazzo gekonnt aufgefächert hatte, dessen vielfältige Räume von Küche über Mädchenzimmer zu Saal, Kapelle und Innenhof mit vielerlei Gängen sinnvoll bespielt wurden.
Doch dann verließ Regisseur Gloger und auch Dirigentin Yi-Chen Lin das Gespür. Wenn schon ein brutaler Anfangsmord an einem Polizisten hinzuerfunden und dem großen Kokain-Deal durch einen sich aus dem Bühnenhimmel überfallartig abseilenden SEK-Trupp ein Ende gesetzt wurde – dann müssten Aktion und Musik in ein „Fetz-Peng“ münden. Doch nach der Pause setzte zelebrierte Langsamkeit ein. Leider auch noch Tancredis Tod als allzu ostentatives „Selbstbekenntnis“: Er/sie sprühte auf das Laken ihres Liebesbettes zwei verheiratete „Venus-Symbole“, zückte die Pistole, ließ sich vom SEK niederschießen und schleppte sich dann „langatmig“ singend in einen anderen Raum. Schade – der einhellige Beifall wäre munterer ausgefallen, hätte nicht allgemeine Ermattung geherrscht.
Neben der Programmfülle mit vielen Konzerten und Jugendaktivitäten stand der dritte Fixpunkt: die zeitgenössische Uraufführung von Ex-Intendant David Pountneys „Hold Your Breath“ in der Werkstattbühne. Als Librettist und Regisseur forderte er, alle Theater-Konventionen zu vergessen und sich der emotionalen und sinnlichen Erfahrung umherwandernd im freigeräumten, weiten Raum-Geviert hinzugeben. Zu acht Live-Musikern des Symphonieorchesters Vorarlberg auf Podien in vier Saalecken tönten aus einem exzellenten BOA-Lautsprechersystem zusätzlich elektronische Kompositionsteile: Éna Brennans Mischung aus Kantablem, Filmsound und Dissonantem war akzeptabel zu hören, doch nie packend oder gar überwältigend.
Zu blass auch die performative, die ganze Saalfläche nutzende „body-action“ der acht Solisten – alle von Dirigentin Karen Ní Bhruin von einem Extra-Podium und auf x Bildschirmen souverän geleitet. Als beeindruckender Mittelpunkt wirkte der riesige, im Saalhimmel schwebende siebenarmige Tintenfisch, der sich herabsenkte, seine Arme verlor und als zusammengerollter „Müll“ übrigblieb (Ausstattung Hugo Canoilas).
Pountney berief sich auf die Form von Henry Purcells „Masques“: damals varieté-haft bunt, ohne stringente Handlung, höfische Unterhaltungstheatralik. Doch statt zu märchenhafter Poesie oder auf Monty-Python-Höhen aufzulaufen, mixte Pountney im Fünf-Minuten-Takt: Handy-Tablet-Fixierung, gesellschaftliche Spaltung in „Rot“ und „Schwarz“, Normierung bei Daten-Verlust, tödliche Alterseinsamkeit, Angst und Panik-Attacken, schließlich Naturzerstörung, und final dann die Aufforderung an das gesamte Publikum, seinen „vergifteten“ Atem anzuhalten und still den Saal zu verlassen…
Schlussbeifall und Verbeugung also erst draußen im Foyer. Das alles führte nicht in einen Alptraum, über Eliots „Waste Land“ zu einem Orwellschen „2084“ – und der Schlussausmarsch könnte auch bitterböse als „angeleitet gesamtgesellschaftlicher, neoliberal-geschönter Auszug auf einen Planeten B“ verstanden werden. Der zeitkritisch wache Theaterliebhaber kann da nur sagen: Bitte so nicht!
„Bitte so schon!“ prägte dann die Opernstudio-Verschränkung von Rossinis Erstling „La Cambiale di Matrimonio – Der Ehevertrag“ mit Puccinis „Gianni Schicchi“ – wenn eben eine Meisterin wie Brigitte Fassbaender das Projekt neu formt. Die sechzehn jungen Solisten hatten im März einen Meisterkurs bei Fassbaender absolviert und nun vier Wochen mit ihr geprobt. Es verdiente eine eigene, lange Rezension: wie Tobia, der italienische Geschäftsmann für Hochzeitsmode, von „BREGENZ BRIDES Inc.“ mit dem Festival-Logo träumt und am kanadischen Urburschen-Partner scheitert; wie der von Tochter Fanni geliebte arme Musiker schon in der Ouvertüre fingergenau das Hornsolo des Vorarlberger Orchesters imitiert; wie am Rossini-Ende der Puccini-Buoso den gescheiterten Tobia in sein Laptop drückt und wie dann am Ende Schicchi sehen muss, wie Rossinis Tobia mit Hochzeitskleid für Lauretta und Blumenkranz für Rinuccio kommt… und wie jede Figur auch ohne Gesang hochdifferenziert einen Spiel-Charakter besitzt und Handlung frisch pointiert erzählt wird. Allerdings wurde unter Dirigentin Claire Levacher mehrfach zu laut, wenn auch rundum glänzend gesungen. Am Ende „10 Jahre Opernstudio Fassbaender“ und „10 Jahre Intendanz Sobotka“ – ein beifallumrauschtes „Ende“.
Wolf-Dieter Peter
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