Schwerpunkt:
Opern-Sommer
Bayreuth 2024
Ein neuer „Tristan“ und die Furcht vor Veränderungen
„O fassungsloser Strom der Rhythmen! O chromatisch empordrängendes Entzücken der metaphysischen Erkenntnis! Wie sie fassen, wie sie lassen, diese Wonne fern den Trennungsqualen des Lichts!“ – so nähert sich Thomas Mann in seiner Erzählung „Tristan“ dem kaum beschreibbaren Taumel, der weg vom Ich und vom Subjekt in das Ineinander-Verschmelzen von geradezu religiöser Dimension führt, in dem das Auflösen des Selbst in einer diffusen, glückergießenden Universalität, ja in einem überhöhten Sein rauschhaft gefeiert wird und das kein anderer so in Musik gefasst hat wie Richard Wagner in „Tristan und Isolde“.
Liebestod im Trödelladen
Soweit zum Wesen derjenigen Oper, der selbst hartgesottene Anti-Wagnerianer nichts vorzuwerfen haben und die zu inszenieren bekannterweise lebensgefährlich sein kann, zumindest aber höchste Ansprüche an eine gesamtkunstwerkliche Herangehensweise aller Beteiligten stellt. Im „Tristan“ darf man nichts dem Zufall überlassen, Improvisation scheidet aus. Funktioniert angesichts dieser Vorgabe der neue Bayreuther „Tristan“ in der Inszenierung von Thorleifur Örn Arnarsson?
Das primitive Buh-Gewitter nach der in Kino, Radio und Internet übertragenen Premiere am 25. Juli galt vor allem dem Regieteam. Aber auch Dirigent und Solisten mussten Kritik einstecken. Letztere hatten hörbar an sich gearbeitet, so dass die zweite Aufführung am 3. August musikalisch eine Glanzleistung aller Mitwirkenden bot. Das Festspielorchester unter Semyon Bychkov gab die soghaft anziehende Musik mit Zartheit, Tiefgang und Wärme wieder, eine zunächst monierte Tempo-Verzögerung war keineswegs feststellbar.
Camilla Nylund (Isolde) und Andreas Schager (Tristan) im 1. Aufzug, Foto: Enrico Nawrath
Andreas Schager, dem als Titelheld bei der Premiere mitunter Geschrei vorgeworfen wurde, gestaltete die Dynamik angemessen; lautere Passagen dienten zur Hervorhebung von Verzweiflung oder Leidenschaft. Laut Regie ist Tristan in dieser Produktion depressiv, und folglich gerieten seine vielen piano gesungenen Stellen angreifbar und sensibel; das Wort „Liebe“ erhielt bei ihm mehrfach eine zu Herzen gehende Innigkeit.
Camilla Nylund gab ihrer Isolde gesanglich mit durchdringendem, glühendem Sopran eine vielschichtige Gestalt mit allen Aspekten von bitterem Schmerz und höchster Liebeswonne. An der schlechten Textverständlichkeit, die man der Premiere attestierte, hatte sie gearbeitet, wenngleich diesbezüglich noch mehr möglich gewesen wäre. Aber das rauschhafte Finale mit dem strahlenden Bekenntnis zum Erlöschen des Ich und dessen Aufgehen in der universalen Liebe bestritt sie glanzvoll. Günther Groissböck sang König Marke männlich klar mit kraftvollem Bass, der auch tiefe Verletzung und Enttäuschung greifbar machte. Die Brangäne von Christa Mayer hatte zwar wundervolle Momente mit glaubhaft liebevoller Anteilnahme, aber gerade die oberen Mittellagen klangen metallisch und leicht kehlig. Olafur Sigurdarson überzeugte in seiner starken Darstellung des treuen Kurwenal. Insgesamt bestach „Tristan II“ durch solistisch hervorragende Leistungen sowie ein differenziert und klangfarbig spielendes Orchester unter einem einfühlsamen Dirigenten mit – um nochmals Thomas Mann zu zitieren – „jenem Aufstieg der Violinen, welcher höher ist als alle Vernunft“. Doch was blieb von der Inszenierung in Erinnerung?
Die Bühne von Vylautas Narbutas dominieren im ersten Akt herabhängende Taue einer Schiffstakelage, die möglicherweise (alte) Bindungen symbolisieren. Isolde beschriftet ihr ausladendes, wie ein Datenträger kreisrund ausgebreitetes Brautkleid mit Worten und Wendungen aus dem Libretto, was bis auf wenige Ausnahmen aber nur von den unteren Reihen aus zu entziffern ist. Die Textteile stehen für Isoldes Vergangenheit, die sie offenbar schreibend reflektiert und auf die bevorstehende Hochzeit bezieht. Sie ist gleichsam „in Worte gekleidet“ – Tristan wird sich später in den Stoff hüllen.
Vor allem im ersten Akt vermisst man eine wirkliche Personenregie; individuelle Regungen und Beziehungen werden auch in den beiden folgenden Akten nur vereinzelt erfahrbar. Unmotiviertes Hin- und Hergehen und ein Nebeneinandersitzen oder -stehen der Protagonisten verleitet zum Rampensingen und macht die meisten Szenen inszenatorisch eher langweilig.
Die in den Kritiken mehrfach als Trödelladen, Sammelsurium oder Schrotthalde bezeichnete Ansammlung von Gegenständen im zweiten Aufzug – antiken Statuen, mittelalterlichen Rüstungsteile, hölzernen Lauf- oder Zahnrädern, einem Globus, diversen Gemälden (unter anderem „Schiffe im Greifswalder Hafen“ von Caspar David Friedrich) und Industriebauteilen – versinnbildlichen laut Einführung die Welt des (vergangenen) Tages im Gegensatz zur „Nacht der Liebe“. Doch aus sich heraus erschließt sich diese Ausstattungsidee weder ikonisch noch semantisch. Kulturwissenschaftler mögen an den Assmannschen Begriff des „Kulturellen Gedächtnisses“ denken, und offensichtlich müssen sich die beiden Liebenden aus dem verstaubten Gerümpelhaufen der Traditionen beziehungsweise einer engenden Vergangenheit und Bindung an das kulturelle Umfeld lösen, um „in des Welt-Atems wehendem All“ zu versinken.
Es geht in dieser Oper ja um das Loslassen, eigentlich ein gefundenes Fressen für Arnarsson als ausgewiesenem Freund der Dekonstruktion. Tatsächlich sieht man im dritten Akt einen beachtlichen Teil der Gegenstände auf einem Sperrmüllhaufen – Tristan liegt mittendrin. In der Konsequenz ist das plausibel, wenn man zuvor begriffen hat, was die Dinge deuten. Folgerichtig ist der ganze Schiffsrumpf in größere Bauteile zerlegt, die ohne ihren früheren Zusammenhang auf der Bühne stehen. Dekonstruktion schreit ja aus dem dialektischen Vakuum heraus nach einem Gegenentwurf, einer Synthese. Diese bleibt Arnarsson dem Publikum jedoch schuldig. Das rechtfertigt allerdings in keiner Weise den Buh-Sturm bei der Premiere; man kann sich ja einfach des Applauses enthalten, was viel schmerzlicher träfe. Musikalisch war die Aufführung am 3. August schlichtweg grandios.
Quo vadis, Bayreuth?
Abgesehen von den obligatorischen Diskussionen in den Pausen über die laufende Vorstellung dominierten in der Saison 2024 zwei Themen die Gespräche vor dem Königsbau und im Carré zwischen Festspielhaus und Gastronomie: Einerseits erregte man sich über mögliche politische Einmischungen in die Programmgestaltung, andererseits wurde die Angst vor weiteren Sparmaßnahmen laut.
Heftige Emotionen brachen sich unter den Tempel-Pilgern mitunter Bahn, und manche Herrschaften in festlicher Gewandung verloren schon mal die Fassung, wenn Claudia Roths „Kasperltheater“-Vorschlag (wie in einem witzigen Seitenhieb in Tobias Kratzers „Tannhäuser“ zu lesen war) mit der künftigen Aufführung von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ in der „teuren Halle“ angesprochen wurde.
Tatsächlich teuer wird übrigens die Sanierung des Hauses. Bayern und Berlin teilen sich die anstehenden Sanierungskosten von zirka 170 Millionen Euro und Bayern schießt für die diesjährigen Festspiele zusätzlich 500.000 Euro zu.
Die Verkleinerung des Chors war indes schon 2023 beschlossen worden. Ebenfalls im Vorjahr hatte der Freistaat Bayern rechtzeitig zum Festspielbeginn entschieden, von 2025 an 37 statt bislang 29 Prozent der Gesellschafteranteile zu übernehmen. „Bayern stockt dann auf“, machte Ministerpräsident Markus Söder unmissverständlich deutlich, und Kunstminister Markus Blume betonte, dass ein höheres finanzielles Engagement Bayerns für den Hügel auch ein „Schritt in Richtung neue Gesellschafter-Strukturen der Bayreuther Festspiele“ sei; ein Mitziehen des Bundes wurde implizit erhofft: „Mein Appell an Claudia Roth“, so Blume, „Bayreuth muss auf der Prioritätenliste des Bundes ganz nach oben.“ Nota bene – auch die Äußerung der Kulturstaatsministerin, „ich glaube, dass es wirklich an der Zeit ist, dass historische Strukturen in Bayreuth mit ziemlich viel Mut und Kreativität neu gedacht werden“, datiert in den Sommer 2023, bedeutete für Roth „Öffnungen“ und „neue Formate“, die Voraussetzungen für eine höhere Verantwortung des Bundes seien.
Als Grund für schleppend verkaufte Karten im Sommer 2023 (für „Siegfried“ gab es bis kurz vor Saisonende noch Karten) gab Katharina Wagner Fehler im Vertrieb und die höheren Ticketpreise an, während Geschäftsführer Ulrich Jagels die Preiserhöhung verteidigte. Lag die schlechtere Vorverkaufsbilanz denn nicht auch am „Ring“ von Valentin Schwarz und seiner, um es sachlich zu formulieren, unkonventionellen Interpretation der Tetralogie?
„Tristan und Isolde“, 3. Aufzug, Foto: Enrico Nawrath
Tatsächlich schien diese Produktion ein echtes Kassengift zu sein. Aber bereits zu Beginn der heurigen Festspiele war auch der „Ring“, wie nahezu alle sonstigen Abende, ausverkauft. Bei „Parsifal I“ gab es zur ersten Pause insgesamt noch vier Karten für „Parsifal II“, aber die waren schon weg, als der tumbe Knabe gerade an Klingsors Burgtor klingelte. Man möchte also mal laut unter dem Balkon vor den Fanfaren fragen: Worüber regt ihr euch eigentlich jetzt auf? War es nur der Titel „Hänsel und Gretel“, der Claudia Roth schon auf dem Roten Teppich die ersten „Buhs“ vom blökfreudigen Teil des Bayreuther Publikums bescherte? Und müssen die Liebhaber der großen Chorpartien tatsächlich um Masse und Kraft bangen, weil es beispielsweise bei der Mannschaft des Holländers nur noch für einen kleinen Shanty-Chor reicht?
Katharina Wagner verweist auf „Tarifsteigerungen und Kostensteigerungen auf allen Gebieten“, zumal in hausinternen Einrichtungen. Wer Personalkosten zahlen muss, weiß, dass die grundsätzlich den allergrößten Posten ausmachen. So entstand die Idee einer flexiblen Chorgröße: „Wenn der große Chor nötig ist, wollen wir den Stamm-Chor mit professionellen Sängerinnen und Sängern auffüllen… ich bin sicher, dass wir die Verhandlungen in eine Bahn lenken werden, mit der alle leben können.“ In Zukunft leben möchte man seitens der bayerischen Politik auch mit der jetzigen Leiterin und so wurde ihr Vertrag kürzlich bis 2030 verlängert. Ihr zur Seite und Entlastung steht ab 2025 ein „General Manager“, der die Verwaltungsaufgaben übernimmt, während Wagner weiter die künstlerische Leitung innehat.
Und was sagt die Bundespolitik? „Bei den Besucherinnen und Besuchern von Bayreuth sollte sich die Realität unserer Gesellschaft stärker widerspiegeln“, fordert Claudia Roth, es müsse „mehr Diversität“ geben und ein breiteres Publikum angesprochen werden. Schwenk auf die Teichszene des Kratzer-Tannhäusers: Diverser, bunter, toleranter, regenbogiger geht’s nicht – da feiern, tanzen und lachen die Schlipsträger mit tätowierten Buntschöpfen. Formate wie die Kinderoper, „Wagner im Kino“ und der jährliche „Diskurs Bayreuth“ ziehen seit einigen Jahren zahlreiche Besucher unterschiedlichen Alters und durchaus jenseits des Klischee-Elite-Bildungsbürgertums an und beleuchten das Phänomen Wagner auf kritische, humorvolle und vor allem – im besten Sinne – diverse Weise. Sicher ist in dieser Richtung noch mehr möglich, aber auch dieses Jahr fiel einerseits die Internationalität als auch das enorme Altersspektrum des Publikums von etwa zehn bis neunzig Jahren auf.
Eine Überalterung droht allerdings der „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“, deren Anteil an der Festspiel-GmbH, wie bereits im April bekanntgegeben wurde, künftig nur noch bei 15 Prozent liegen wird. Dennoch ist der Förderverein als Mäzen immens wichtig. Folgerichtig werben Mitglieder beim Publikum auf dem Hügel auch freundlich-offensiv um Beitritte. Ein junges Mitglied machte sich in der letzten Versammlung für ein Aussetzen oder zumindest eine Senkung des hohen Beitrags für Interessierte aus den unteren Altersstufen stark.
Die Marke Wagner zieht nach wie vor, zumal in lebendigen, eigenwilligen Inszenierungen. Man muss aber nicht „auf Krampf“ Parallelgeschichten erfinden, wie Schwarz es tut, man kann auch einfach in Wagners wundersame Welt eintauchen und das, was es da an Vielschichtigkeit, Psychologie, Drama und Visionspotenzial gibt, immer wieder neu beleuchten. Der „Ring“ in der Inszenierung von Brigitte Fassbaender in Erl hat gezeigt, dass die alten (in Wirklichkeit stets aktuellen und lebensnahen) Geschichten tragen und quicklebendig erzählt werden können, wenn es nur eine geniale Regie gibt.
Gerne kann man auch die frühen Opern wie den „Rienzi“ (der ja schon auf dem Programm für das Jubiläum 2026 steht) aufführen, und möglicherweise ist auch eine professionelle Sponsoring- und Marketing-Abteilung für die Festspiele notwendig, wie von Katharina Wagner verlangt. Die könnte eine weitere Erhöhung der jetzt schon am Limit stehenden Ticketpreise verhindern, um einem breiten Publikum den Besuch der Festspiele weiterhin zu ermöglichen. Unbedingt zu überdenken wären zudem die komplett überhöhten Getränke- und Speisepreise. Ein Glas Wein für 13,50 oder 14,50 Euro, ein kleines Glas Champagner für 19,50 Euro oder ein bemerkenswert dünner Aperol Spritz für 12,50 Euro sind nicht zu rechtfertigen. Letzteren, gut gemixt, erhält man in Erl für 6,50 Euro, das gut eingeschenkte Glas Champagner für 10 Euro.
Was wir uns aber unbedingt und immer wieder klarmachen müssen: In der Bundesrepublik gibt es (noch) eine funktionierende Kulturförderung, Bund und Länder subventionieren die Opernhäuser zwischen 80 und 85 Prozent. Die Online-Datenbank „Operabase“ verzeichnet mehr als ein Drittel der weltweit rund 21.000 Opernaufführungen für deutsche Bühnen. Das Gespräch mit einer argentinischen Kulturschaffenden vor dem Königsbau verschaffte jüngst den ernüchternden Blick in das um seine Existenz kämpfende argentinische Kulturleben, das Präsident Javier Milei, der sich selbst „Anarcho-Kapitalist“ nennt, zunehmend in den Abgrund stößt. Es ist keine neue Erkenntnis, aber wir jammern hier nach wie vor auf sehr hohem Niveau.
Andreas Ströbl |