Berichte
Stirbt Homo sapiens aus?
Ondrej Adámeks Atomtod-Oper „INES“ in Köln uraufgeführt
Ein Teil des Gürzenich-Orchesters hat die Plätze eingenommen, und das Licht wird gedimmt. Nun sollte das Publikum langsam still werden. Doch scheinbar unbeeindruckt plaudert man munter weiter. In Wirklichkeit dringt das Stimmengewirr aber längst aus Lautsprechern hinter dem Auditorium und führen vereinzelt verständliche Worte mitten ins Geschehen: „Unfall“, „schwerer Störfall“, „Katastrophe“. Die hörbare Sprache wandert weiter in den sichtbaren Chor der Oper Köln in der dystopischen Bühnenlandschaft von Patricia Talacko. Saal 3 des Kölner Staatenhauses ist flächendeckend gefüllt mit vielen hundert weißen Müllsäcken, wie sie unter anderem nach dem Super-GAU von Fukushima 2011 für radioaktiv verstrahltes Material genutzt wurden.
Chor der Oper Köln. Foto: Oper Köln, Matthias Jung
Der Titel „INES“ der zweiten gemeinsamen Oper von Komponist Ondřej Adámek und Librettistin Katharina Schmitt ist kein weiblicher Vorname, sondern die Abkürzung für die 1990 eingeführte „International Nuclear and Radiological Event Scale“ zur Klassifikation von Störfällen in Kernkraftwerken. Die 1979 in Bremen geborene Dramatikerin und Theaterregisseurin schrieb das Textbuch während der Corona-Pandemie. Eine erschreckende Aktualität erhielt der Stoff im Zuge des 2022 entfesselten russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine durch Gefechte um das Kernkraftwerk Saporischschja sowie die Drohung des Kreml mit Atomschlägen. Außerdem werden aktuell von vielen Staaten wieder Atomwaffensysteme modernisiert, ausgebaut und sind weltweit rund zehntausend Nuklearsprengköpfe einsatzbereit sowie fünfhundert Kernkraftwerke in Betrieb.
Doch wie macht man aus diesen nüchtern-bedrohlichen Fakten eine Oper? Wie inszeniert man einen Super-GAU? Wie klingt letale Strahlenkrankheit? Wie besingt man den Atomtod? Die selbst Regie führende Autorin und der 1979 in Prag geborene und selbst dirigierende tschechische Musiker zielen in ihrem für die weitläufige Messehalle des Ausweichquartiers der Oper Köln entwickelten Text-, Musik- und Regiekonzept nicht auf dramatischen Realismus, sondern auf epische Verfremdung. Eindrücklich motivieren sie den Übergang vom stotternden Sprechen zum Singen als Ausdruck von Gefühl, Erinnerung, Trauma und körperlicher Auflösung.
Wie der Chor der antiken Tragödie treten zwischen „Prolog und fünf Bildern“ immer wieder drei Männer in Schutzanzügen vor das Publikum (David Howes, George Ziwziwadze, Lasha Ziwziwadze). Das Trio verkündet und kommentiert das Schicksal von Orpheus und Eurydike mit barockartigen Melismen wie aus Claudio Monteverdis Oper „L’Orfeo“. Nach einer Kernexplosion irrt O auf der Suche nach der zum Schatten gewordenen E durch die verwüstete Welt. Wie Menschen und Natur zerfallen auch Sprache und Musik. Der sich selbst fremd gewordene mythische Sänger wechselt zwischen Bariton und Countertenor. Ebenso artifiziell wie expressiv stottert Hagen Matzeit virtuos von Pausen durchbrochen Phoneme, Silben, Atem- und Zischlaute. Sein Gesang rührt nicht Tod und Steine zu Tränen, sondern ist selbst erstorben und versteinert.
Hagen Matzeit und Kathrin Zukowski, Foto: Oper Köln, Matthias Jung
Die von Sopranistin Kathrin Zukowski ausgezeichnet gesungene und gespielte weibliche Hauptrolle spaltet sich – vom Atomblitz getroffen – zum Vokalquartett auf. In der Rolle einer Radiologin schildert Dalia Schaechter die Auswirkungen der tödlichen Strahlendosis mit allen scheußlichen Details. Dem physischen Zerfall Eurydikes entspricht die elektronische Verstärkung ihrer und aller anderen Stimmen, die durch Lautsprecher von den Körpern gelöst und gleichsam atomisiert erscheinen. Erst im Sterben singt Eurydike eine geradezu klassische Opernarie mit hellem Belcanto als Inbegriff körperlos reiner Schönheit und Transzendenz. Statt Dialog und Handlung überwiegen Nacherzählungen, medizinische Befunde und Aufzählungen von Atomunfällen der INES-Stufen 1 bis 7 seit Beginn der zivilen Nutzung der Kernenergie 1951. Libretto und Musik sind episch angelegt und entfalten kaum Dramatik. Statt Duette oder Ensembles zu bilden, singen die Solistinnen und Solisten isoliert in Monologen. Die Partien und dadurch verkörperten Menschen kommen nie wirklich zusammen. Chor und Orchester beschränken sich zunächst auf untergründiges Pochen, Tinnitus-artiges Pfeifen und die galoppierenden Punktierungen aus Monteverdis berühmter Toccata-Ouvertüre als häufig wiederkehrendem nervösen Leitmotiv.
Weil der Apokalypse künstlerisch ohnehin nicht beizukommen ist, wenden sich Partitur, Text und Inszenierung ins Absurde. Statt wirklich zu überfallen deutet ein Schlagzeuggewitter die Kernexplosion nur an. Und die kunstvoll verwobenen Partien der drei Eurydike-Doppelgängerinnen (Olga Siemieńczuk, Tara Khozein, Alina König Rannenberg) singen als „Girls from Hiroshima“ kein pathetisches Lamento über den ersten Atombombenabwurf am 6. August 1945, sondern liefern als kesse Swingle-Sisters mit übertrieben „strahlendem“ Grinsen im Gesicht eine jazzige Showeinlage. Wo Tragödie versagt, hilft Groteske.
Der von Rustam Samedov geleitete Chor der Oper Köln schafft anfangs eine Atmosphäre aus wispernden Geisterstimmen. Erst im Laufe der eindreiviertel Stunden übernimmt das Kollektiv musikalisch und szenisch eine tragende Rolle. Es symbolisiert alle Menschen, die seit 1945 durch nukleare Bomben und Katastrophen ums Leben kamen. Als Gewissen der Menschheit steigert der Chor immer schneller und lauter die litaneiartig heruntergebetete Genealogie vom Homo erectus zum Homo neanderthalensis, die zu Anfang Eurydike als Mitarbeiterin im Naturhistorischen Museum ins Diktaphon sprach. Die ekstatische Kulmination feiert den Homo sapiens jedoch nicht als Gipfel der Schöpfung, sondern entlarvt bloß die Dummheit der sich selbst als „verständig“ überschätzenden Spezies.
Der Klagechor der Atomopfer wird zur Selbstanklage der Menschheit, die schlicht zu blöde ist, um zu erkennen, dass sie im Begriff ist, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu vernichten. Orpheus spitzt dies noch mit seiner düsteren Prophezeiung zu: „Geht weg! Sterbt aus!“ In Anlehnung an „The Cold Song“ aus Henry Purcells Oper „King Arthur“ schraubt der mythische Barde schließlich seinen stockenden Gesang silbenweise ins höchste Falsett als Ausdruck seelischer Erstarrung inmitten des atomaren Winters, der sich über die Erde legt.
Ohnehin längst fragmentiert, verstummen Musik und Sprache am Ende vollends. Damit das Stück jedoch nicht in totaler Beklemmung und Hoffnungslosigkeit schließt, rennt plötzlich ein junges Mädchen durch die verödete Szene wie eine an das Publikum gerichtete Mahnung: Haben wir wirklich noch so viel Zeit, die Rettung der Welt einmal mehr der nächsten Generation zu überlassen?
Rainer Nonnenmann |