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Tanz der Synapsen oder Der Weg des Lebens
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Richtungswechsel um 180 Grad
Seit 2019 leitet Michael Hofstetter die Gluck-Festspiele in der Metropolregion Nürnberg

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Richtungswechsel um 180 Grad

Seit 2019 leitet Michael Hofstetter die Gluck-Festspiele in der Metropolregion Nürnberg

Der internationale Festspielsommer 2024 meinte es gut mit Christoph Willibald Gluck. Die Kammeroper Rheinsberg feierte das 250-jährige Bestehen des dortigen Schlosstheaters mit einer deutschsprachigen Aufführung von „Iphigenie in Aulis“. Und das Festival in Aix-en-Provence präsentierte „Iphigénie en Aulide“ und „Iphigénie en Tauride“ in der Inszenierung von Dimitri Tcherniakov an einem Abend. Die Übernahme an der Nationaloper Athen wird Michael Hofstetter dirigieren, der künstlerische Leiter der alle zwei Jahre in und um Nürnberg stattfindenden Gluck-Festspiele.

ArnoArial, Laima Adelaide, Maria Theresa Ullrich, Thomas Zehnle und Ollenixxe. Foto: thatswhatshesaeed

Im Mai 2024 hatte Hofstetter unter dem Hashtag #GluckIstGlück zu einer sinnvollen wie bemerkenswerten Gegenüberstellung angesetzt. Glucks opera seria „La clemenza di Tito“ (1752) für das Teatro San Carlo in Neapel erklang im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth konzertant mit Zwischentexten von Bettina Bartz, die Thorsten Danner anstelle der originalen Rezitative vortrug. Mozarts vollständige Vertonung des bearbeiteten Metastasio-Librettos zur Krönung Kaiser Leopolds II. zum König von Böhmen im Prager Ständetheater 1791 gelangte dort dagegen szenisch zur Aufführung.

„Gluck hat die Kunstform Oper durch seine sogenannte ‚Reform‘ gerettet: Die Barockoper stellte Affekte aus. Gluck kehrte nach 1760 die Blickrichtung des Musiktheaters um 180°. Die Darstellung einzelner Affekte war ihm nicht genug. Gluck blickte in das Innerste, auf den Seinsgrund des Menschen. Damit gab er der leergelaufenen Form ‚opera seria‘ neuen Inhalt.“ Und Hofstetter schwärmt weiter: „Er ist der wichtigste Opernkomponist zwischen Händel und Mozart und Wegbereiter der großen psychologisch-romantischen Oper.“

Natürlich gehört Glucks bekannteste Oper „Orfeo ed Euridice“ in dessen eigenen Fassungen für Wien, Parma und Paris noch immer zu den eher seltenen, aber wichtigen Spielplansäulen. Doch anders als Händel, der in den hundert Jahren seit der Göttinger Händel-Renaissance 1921 zu einem der meistgespielten Opernkomponisten wurde und anders als der seit 1900 in verschiedensten Interpretationssignaturen omnipräsente Mozart ist Glucks Musik­theater-Schaffen noch immer nicht voll erschlossen. Insofern leisten die Gluck-Festspiele durch ihren personenbezogenen Schwerpunkt und Gegenüberstellungen mit Werken andere Komponisten einen essenziellen Akt der Pflege und Bewusstmachung. Seit Gründung 2005 durch Wulf Konold, Generalintendant des Staatstheaters Nürnberg, und den Geschäftsführer Axel Baisch, finden die Gluck-Festspiele alle zwei Jahre statt. Bis 2012 wurden sie vom Staatstheater Nürnberg veranstaltet, seit 2013 sind sie selbständig. Hofstetter übernahm im Herbst 2019 die künstlerische Leitung nach Baisch und Christian Baier (bis 2015) und Rainer Mennicken (bis 2019).

Die Gegenüberstellung zweier „Tito“-Vertonungen ist ein konzeptioneller Ansatz mit Potenzial, den das Festival neben der begeisterten Zustimmung seit der Pandemie gut brauchen kann. Allerdings wird in den kommenden Jahren nicht das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth der augenfälligste Veranstaltungsort sein. Einerseits ist das Architektur-Schmuckstück ein in Hinblick auf die Platzausnutzung sicherer Magnet. Andererseits häufen sich dort Aufführungen Alter Musik durch das Festival Bayreuth Barock im September unter Leitung von Max Emanuel Cenčić und Musica Bayreuth, unter deren Dach die Bayreuther Vorstellungen der Gluck-Festspiele stattfanden. Weitere Schauplätze befinden sich an vielen Orten der Metropolregion Nürnberg, zu der Landkreise der Regierungsbezirke Mittelfranken, Oberpfalz und Oberfranken gehören. Dazu zählt auch Berching, Glucks Geburtsort. Die Orte der Gluck-Festspiele wechseln: 2021 fand zum Beispiel das Konzert „Gipfeltreffen: Händel und Gluck“ mit dem Sopranisten (!) Samuel Mariño im für seine exzellente Akustik gerühmten Historischen Reitstadel in Neumarkt in der Oberpfalz statt.

Hofstetter betrachtet diese räumliche Weite und Mannigfaltigkeit als Vorteil. Konzerte werden für die jeweiligen Orte maßgeschneidert, können aber auch an verschiedenen Orten wiederholt werden. Zu diesen gehörten 2024 die Schloss­kirche Bayreuth, die Grafschaftskirche Castell, das Stadttheater Fürth für die Reprisen von Mozarts „La clemenza di Tito“ und das Kammermusik-Programm „Time Stands Still“ sowie der Historische Rathaussaal Nürnberg für das Konzert von Samuel Mariño mit einem Gluck/Mozart-Programm.

Das Motto „Über die Menschlichkeit der Mächtigen“ sollte 2024 neben einem Fokus auf der Musik auch die ethische Relevanz von Glucks Œuvres zeigen. Das geschah durch zwei wesentliche Akzente. Mozarts „Tito“ wurde ein Video vorangestellt. In diesem sprach Khanyiso Gwenxane, der Sänger des „Tito“, den Text „The World is Wept“ des südafrikanischen Geistlichen, Menschenrechtsaktivisten und Friedensnobelpreisträgers Erzbischof Tutu. Dieser hatte den Text in tiefster Ergriffenheit als Vorsitzender der „Commission for Truth and Reconciliation“ geschrieben. Eine besondere Bedeutung maß Hofstetter diesem konzeptionellen Statement als „Gegenentwurf zu den Nürnberger Prozessen“ bei.

Kern der Gluck-Festspiele ist das Musiktheater, für das Gluck neben seinen regelmäßig gespielten Reformopern auch deutschsprachige Singspiele, Opéras comiques und italienische Opere serie schuf. Für diese ist eine Vielzahl stilistischer Ansätze legitim: 2022 zeigte Hofstetter Pina Bauschs fast fünfzig Jahre alte Choreographie von „Orpheus und Eurydike“ mit dem Tanztheater Wuppertal. Auch die von ihm einstudierte „Alceste“ des Josef-Kajetán-Tyl-Theater Pilsen wurde gefeiert. Hofstetter ist einerseits glücklich darüber, dass die international führenden Counterstimmen Bruno de Sá (als Sesto in Glucks „Tito“), Valer Sabadus und Samuel Mariño der Einladung zu den Gluck-Festspielen folgten und den ‚Revolutionär‘ des Musiktheaters in Beziehung zu anderen Strömungen des 18. Jahrhunderts verorteten. Andererseits gibt sich der Alte-Musik-Experte Hofstetter nicht mit bereits gefundenen Erkenntnissen zufrieden. Das hörte man in der Aufführung von Mozarts „La clemenza di Tito“ aus Pilsen. Auf die Kooperation mit dem Händelfestspiel­orchester Halle 2021 folgte 2024 die mit dem Barockorchester der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach. Glucks „La clemenza di Tito“ erklang Anfang Juli mit der gleichen Besetzung im Ekhoftheater auf Schloss Friedenstein beim Ekhof-Festival Gotha.

Natürlich war es hochspannend, was der in die europäische Musikwelt aufbrechende Oberpfälzer Gluck aus Pietro Metastasios über siebzigmal vertontem Libretto „La clemenza di Tito“ machte. Bei Glucks Oper über den manisch gutmütigen Kaiser und Jerusalem-Zerstörer Tito Vespasiano verzichtete man auf die Rezitative. Das gesamte Ensemble sang aus Noten und genehmigte sich nur in Ausnahmen dramatische Spielakzente. Dabei hätte die Gestaltung der Rezitative im Frühwerk eines Komponisten, dessen Pionierleistungen für die musikalische Deklamation unbestritten ist, zum Hauptanliegen der Entdeckung werden können. Mit eher gemessenen Tempi und hingebungsvoller Detailfreude zeigte Hofstetter dagegen Glucks spezifische Instrumentationseffekte. Wäre die Aufführung tatsächlich mit den originalen Wechseln von Rezitativen und Arien vonstatten gegangen, hätte der Mitschnitt von Deutschlandfunk Kultur eine ernstzunehmende Alternative zur CD-Aufnahme unter Werner Ehrhardt von 2015 oder der Aufführung von Jean-Claude Malgoire 1987 werden können.

In Glucks „Tito“ gibt es kein Duett. Ein zügiges Final-Ensemble beendet die Reihe langer und oft sehr schöner Arien. Diese Höhepunkte wurden vom Publikum begeistert umjubelt. Beim Bravourstück des durch edle Beweggründe zum Attentat motivierten Sesto lieferte Bruno de Sá eine konditionsstarke, ja sportive Leistung. Ein Musikwunder ist auch die erste Arie des bei Mozart zum Nebenrollen-Bass gewordenen Publio. Dessen flammende Rede gestaltete die aus Berching stammende Hannah-Theres Weigl mit Inbrunst und kantabler Sensibilität. Perfekte Koloraturen, Attacke und melancholische Blütensprossen zeigte Vanessa Waldhart für die von Liebe, Demütigung und Rachegedanken zerrissene Vitellia. Etwas trocken wirkte Aco Bišćević als vergebender Kaiser, dessen stoische Belcanto-Linien ihn trotzdem als kongenialen Potentaten zeigten.

In der Inszenierung von Rocc wurde die Diskursfolge über Rache, Attentat, menschliche Verbindlichkeit und die hohe Kultur des Verzeihens zu einem diplomatischen Schlagabtausch mit privaten Hintergründen. Am Pult des Orchester des Theaters Pilsen machte Hofstetter Mozarts Partitur zu einem aufregenden Stück zwischen Gluthitze und materieller Verhärtung. Er brachte zum Klingen, was Gluck der Nachwelt mitgab: Die Reibung der Menschen an ihren Konflikten und ambivalenten Beweggründen. Francesca Lombardi Mazzulli charakterisierte die um ihren Absturz fürchtende Kaisertochter Vitellia mit scharfer Hochpräzision. Eine Entdeckung ist die lyrische Mezzosopranistin Vero Müller als Sesto, die mit runder Phrasierung und nie zu schön werdender Klanggestaltung eine hohe synergetische Nähe zum Orchester entwickelte. Mit einem sehr farbenreichen, kontraststarken Material gab Khanyiso Gwenxane den Weg der Titelpartie zum moralischen Sieg einen spannungsgeladenen Verlauf. Die Gluck-Festspiele 2024 bestätigten alle im Klassik-Business wichtigen Voraussetzungen: ein begeistertes Publikum, einen couragierten Förderverein, erstklassige Locations, überregionalen Zuspruch und hohe Qualität.

Roland H. Dippel

 

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