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Berichte
Mit den Ohren sehen
Neun „(fast) konzertante“ Opernaufführungen in der Elbphilharmonie Hamburg
Sie gehören noch immer irgendwie dazu: der Samtvorhang und der eiserne Vorhang, das ausgeklügelte und oft vielgestaltige Bühnenbild, Sänger und (unsichtbares) Orchester, vielleicht Tänzer und ein Chor, ganz natürlich auch ritualisiert das Gläschen Sekt und ein wenig „sehen und gesehen werden“. Wenn dann in der Hamburger Elbphilharmonie über eine ganze Spielzeit hin neun „(fast) konzertante“ Opernaufführungen auf dem Programm stehen, dann muss – allein durch die äußeren Gegebenheiten – manches neu gesehen und erlebt werden.
Orchester, Chor und Sänger auf einer Gangway mit Videoinstallation bei Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“. Foto: Bernd Uhlig
„Geh und baue mein Haus wieder auf, das, wie du siehst, ganz und gar in Verfall gerät“, soll die Stimme Jesu Christi vom Kreuz herab 1205 in der Kirche San Damiano in Assisi zu Giovanni Battista Bernardone, dem späteren Franz von Assisi, gesagt haben. Mit Olivier Messiaens einziger Oper „Saint François d’Assise“ endete in der Elbphilharmonie der konzertante Opernzyklus der Spielzeit 2023/24. Die äußerst sparsame szenische Einrichtung stammte vom Intendanten der Hamburgischen Staatsoper, Georges Delnon, die musikalische Leitung hatte Kent Nagano.
Wie steht es um das Haus der Oper, das Opernhaus, und ihre musikalische Namensgeberin selbst? Sind sie ähnlich wie die Kirche – damals und heute – von Verfall bedroht? Wieviel fehlende Szene (das ist ja letztlich die Bedeutung von „konzertant“) kann eine Oper in einer Zeit von kurzweiligen Videoclips im Internet und Multimedia allerorten vertragen? Um es vorweg zu nehmen: sehr viel! Nach den Aufführungen konnte man auf den Fluren der Elphi immer wieder hören „Das war wunderbar – mir hat gar nichts gefehlt“.
Nun ist bereits das Haus eine Inszenierung für sich. Die Bühne befindet sich – ganz anders als der zum Publikum hin geöffnete Guckkasten der klassischen Opernbühne – in der Mitte des Raums, umgeben vom Publikum. Sicher: Es gibt eine Seite der Bühne, wo mehr Publikum sitzt als auf der anderen (dort sitzt oft der Chor), und somit gibt es zumindest in Ansätzen auch so etwas wie eine Hauptspielrichtung. Zugleich bietet sich durch die offene Bauweise und die empfindliche Akustik fast jeder Ort im Großen Saal an, um bespielt zu werden und die Bühne ins Publikum hinein zu erweitern.
Bei neun Opern konnte man erleben, mit wie wenigen Mitteln etwas „in Szene gesetzt“ werden kann. Einfachste Mittel wie das Licht erzeugten unerwartete Erlebnisse und fantastische Illusionen und ganz andere Perspektiven: angefangen mit ein paar Leuchtstäben, aufgestellt zwischen den Orchestermusikern, bis zum farbigen Lichtspiel im gesamten Raum. Schlichte Kleidung bis hin zu aufwändigen Roben, ein als Wald verkleidetes Orchester, eine Minibühne auf einem Hubwagen, ein kleines begehbares Gestell, eine Seilwinde, die Anna Prohaska als Engel durch den Saal schweben ließ. Keine Zauberkunststücke, nur einfache optische und mechanische Hilfsmittel.
Intendant Delnon berichtete aus den Anfängen seiner Karriere: „Als ich Ende der 1970er-Jahre meinen ersten Job am Theater bekam, galt hierzulande für die Oper: Die Inszenierung, das Visuelle, wurde zunehmend über die Musik gestellt. Die Szene hat die Musik sozusagen in den Hintergrund gedrängt. Man sprach zunehmend über die Regie, über das Bühnenbild oder die Kostüme oder auch das Licht, weniger über die Leistung von Orchester, Solisten, Chor und Dirigent.“ In dieser Zeit veränderte sich das Sehen im Theater im Vergleich zum Hören massiv.
Aktuell kann man eine eher gegenläufige Entwicklung beobachten. Über das Konzept seiner aktuellen Messiaen-Inszenierung sagte Delnon: „Eine gute Balance zwischen Musik und Szene heißt das neue Gebot. Man könnte sagen: mit den Augen hören und mit den Ohren sehen. Eine gute Inszenierung dient der Musik, gibt ihr Raum. Eine hervorragende musikalische Wiedergabe gibt der Inszenierung die notwendige Energie, die sie braucht, um über die Rampe zu kommen.“ In „Saint François d’Assise“ werde, so Delnon, die Trennung von Bühne, Orchestergraben und Zuschauern aufgehoben, der ganze Innenraum der Elbphilharmonie werde zur Bühne.
Bei konzertanten Opernaufführungen konzentriert man sich heute also hauptsächlich auf das musikalische Geschehen. Oft wird in Abendgarderobe auf der Bühne gespielt. Sir Simon Rattle findet das einfach „aufregend, wenn man die Musiker sieht“. Denn das Orchester erzählt „alles, was im Gesang ungesagt bleibt“. Ob diese Sicht für eine rein konzertante Aufführung wirklich unumschränkt gelten kann, darf zumindest bezweifelt werden, denn die meisten Opern haben – anders etwa als Messen – eine Handlung, was eben doch, neben allem Musikalischen, eine gewisse Bewegung zu fordern scheint.
So konnte das Publikum während der vergangenen Spielzeit in Hamburg „(fast) konzertante“ Opernaufführungen von „Pelléas et Mélisande“ (Claude Debussy), „Fin de Partie“ (György Kurtág), „Médée“ (Marc-Antoine Charpentier), „Orphée aux enfers“ (Jacques Offenbach), „Die Soldaten“ (Bernd Alois Zimmermann), „Herzog Blaubarts Burg“ (Béla Bartók), „Dido and Aeneas“ (Henry Purcell), „Carmen“ (Georges Bizet) und „Saint François d’Assise“ (Olivier Messiaen) erleben und genießen. „Fast“ konzertant meinte die gesamte Spannbreite von rein konzertanten Aufführungen über halbszenische Realisierungen bis fast hin zu Szenischem – denn mehr als die einander ostentatitv nicht anschauenden Sänger von „Herzog Blaubarts Burg“ kann diese Oper an Szene eigentlich nicht vertragen.
Man könnte mutmaßen, dass konzertante Opernaufführungen möglicherweise auch einiges an finanziellen Ersparnissen für den Veranstalter einspielen. In der Elphi war dieses sicher nicht vordergründig der Fall. Was hier eventuell eingespart wurde, wurde in die Qualität und Exzellenz der Musiker investiert. Nur einige seien hier stellvertretend genannt: Sir Simon Rattle, René Jacobs, das Budapest Festival Orchestra und die Freiburger Barocksolisten. „Hochkarätige Dirigent:innen, Sänger:innen und Orchestermusiker:innen mit großer Bühnenpräsenz, die das Stück durch den Abend tragen können, sind für eine konzertante Opernaufführung daher unverzichtbar“, weiß die Hamburger Musikwissenschaftlerin Ivana Rajič.
Angesichts eines riesigen Konvoluts an Opern(partituren), die nicht oder nur selten aufgeführt werden, etwa Purcells „Dido und Aeneas“ oder Charpentiers „Médée“, kommt für den Generalintendanten der Elbphilharmonie, Christoph Lieben-Seutter, noch ein weiterer Aspekt hinzu: Diese mittlerweile zu Raritäten gewordenen Opern werden in vielen Opernhäusern nicht mehr auf die Bühne gebracht, „weil sie zu schwierig zu inszenieren oder weil die Musik zwar toll, aber die Libretti zu schwach sind“. Für Lieben-Seutter ist es daher wichtig, die konzertante Aufführungssituation als „absolut gleichwertige Möglichkeit zu sehen, sich Opern zu Gemüte zu führen“. Seit der Eröffnung der Elbphilharmonie hat er dieses Konzept gefahren und wird es auch in der kommenden Spielzeit mit Matthew Lockes Semi-Opera „Psyche“ (Ensemble Correspondances, Sébastien Daucé) – in diesem Fall allerdings in der Laeiszhalle – weiterführen und so manches musikalische Werk vor dem Strudel des Vergessens bewahren.
Ralf-Thomas Lindner
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