Editorial
Tanz der Synapsen oder Der Weg des Lebens
Editorial von Gerrit Wedel
„Wer nicht tanzt, kennt den Weg des Lebens nicht.“ zitierte John Neumeier u.a. eine Äußerung Jesu aus den apokryphen 1. Johannesakten (siehe „Soli Deo Gloria“ S. 45 im Heft).
Gerrit Wedel. Foto: vdo
Schon beim 2006 von der Kulturstiftung des Bundes veranstalteten deutschen Tanzkongress in Berlin stand das Thema „Wissen in Bewegung“ im Zentrum. In einer Veröffentlichung hierzu nahm die damalige Geschäftsführerin der Kulturstiftung Hortensia Völckers Bezug auf die neurophysiologischen Aspekte der Wahrnehmung von Tanz und auf die Erkenntnisse des Hirnforschers Wolf Singer: „Schon das Zuschauen beim Tanz bringt unser Gehirn dazu, jene Bewegungsprogramme zu simulieren, die wir auf der Bühne sehen. Unser Gehirn partizipiert an der motorischen Leistung der Tänzer. Auf diese Weise entsteht ein Zusammenspiel zwischen demjenigen, der sich bewegt, und demjenigen, der die Bewegung betrachtet. ‚Dynamische Erregungsmuster‘ nennt Singer diese Resonanzschleifen zwischen Tänzern und Publikum.“ Tanzen stecke also an, schon beim reinen Zuschauen könne man sich der Anstrengung und Reaktion auf expressive Gesten nicht entziehen, das Gehirn tanzt sozusagen innerlich mit, wenn andere sich bewegen.
Die Ballettdirektorin der Theater Chemnitz Sabrina Sadowska betont ebenfalls die Bedeutung der Bewegung als ein Muss für die neuronale Entwicklung des Gehirns (siehe S. 8 „Auf ein Wort mit…“). Ähnliche Erkenntnisse gibt es für das instrumentale Musizieren wie auch für das Singen in Hinblick auf die Bedeutung für die neuronale Entwicklung des Gehirns. Studien belegen, dass Gesang, Tanz und Bewegung essentielle Elemente für die körperliche und geistige Entwicklung darstellen. Körperliche Aktivität fördert die Durchblutung des Gehirns und regt die Bildung neuer neuronaler Verknüpfungen an. Motorische Fähigkeiten werden geschult. Bewegung verbessert die emotionale Stimmung und steigert die kognitive Leistungsfähigkeit. Soziale Kompetenzen und emotionale Fähigkeiten werden gefördert etc…
Auch wenn diese Aspekte mit Sicherheit nicht das alleinige Heilmittel für die Bewältigung der Herausforderungen unserer aktuellen Gesellschaft darstellen – nicht zuletzt gegen Rassismus, Diskriminierung und Antisemitismus –, so verdeutlichen sie doch die Notwendigkeit, Räume zu schaffen und zu erhalten, die der Wahrnehmung von Musik und Tanz als einer Grundlage für mehr Zusammenhalt und demokratischen Dialog dienen.
Angesichts der aktuellen finanziellen Belastung der öffentlichen Haushalte und der gewaltigen Defizite wird nahezu an allen Fronten wieder intensiv über Sparmaßnahmen diskutiert, die Grundlage der Finanzierung dieser Räume erneut in Frage gestellt. Dies führt in den von Personalausgaben maßgeblich geprägten Haushalten zwangsläufig zur Reduzierung des zur Verfügung stehenden Personals - und dies bei wachsendem Druck, Produktionen zu erhöhen und Auslastungen zu optimieren, um Eigeneinnahmen zu steigern: die berühmte Quadratur des Kreises, die man auf dem Rücken der Beschäftigten zu lösen versucht.
Kulturförderungen der freien Szene werden nun insgesamt in Frage gestellt oder deutlich reduziert. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien gefährdet durch drastische Kürzungen in ihrem Haushaltsentwurf für 2025 die perspektivische Fortführung der Arbeit der sechs Bundeskulturfonds, denen nur noch rund die Hälfte der Mittel wie im Haushalt 2024 zugestanden werden sollen.
Gegen diese und andere Sparmaßnahmen richtete sich die Protestaktion „Tanz schafft Zusammenhalt“ vor dem Brandenburger Tor im Rahmen des Aktionstags Tanz am 13.09.2024, durchgeführt vom deutschen Dachverband Tanz, der hierzu auf seiner Website ausführt: „Die geplanten Mittelkürzungen und die Auflösung des Etats für das Bündnis Internationale Produktionshäuser, gefährden die faire Ausübung des Tanzberufes und bedrohen den Fortbestand der Freien Szene. Mangelnde finanzielle, materielle und personelle Mittel haben nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf die künstlerische Qualität, sondern auch auf den zwischenmenschlichen Umgang miteinander. Faire Honorare, faire Arbeitszeiten und gut ausgestattete Teams sind für ein ethisches Miteinander unabdingbar. Mit den Bestrebungen des Bundes werden ethische Grundsätze (wie Anti-Diskriminierung, Sensibilität für strukturelle Machtgefälle und sexualisierte Gewalt), für die sich die Ethik-Kommission einsetzt, außer Kraft gesetzt. Wir bewegen uns mit solchen Maßnahmen rückwärts.“
In diesem Sinne gilt es getreu dem Motto „Tanz schafft Zusammenhalt“ gemeinsam die Revision und Rücknahme dieser Kürzungsbeschlüsse weiter vollumfänglich zu fordern.
Wir bleiben dran – damit die Gehirne weiter tanzen können.
Gerrit Wedel |