|
Schwerpunkt:
Opern-Sommer
Abschied mit Ovationen und Hausalarm
Bei den Tiroler Festspielen Erl geht Bernd Loebe und kommt Jonas Kaufmann
Nach der zweiten Pause von „Götterdämmerung“, der letzten Vorstellung seiner Erler Intendanz, tritt Bernd Loebe auf die Bühne des Passionstheaters und entschuldigt den kurzen Hausalarm. Das Orchester auf dem hohen Stufenpodest der Hinterbühne und Christiane Libor als Brünnhilde hatten deren Solo „Welch finsteren Unholds List“ trotz Läutens und Blinkens der Leuchten über den Einlasstüren nicht unterbrochen. Dann entschuldigte Loebe, dass Brigitte Fassbaender am Ende der beiden zyklischen Aufführungen ihrer Inszenierung von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ nicht anwesend sei, weil sie bei den Bregenzer Festspielen bereits mit der Produktion von Puccinis „Gianni Schicchi“ und Rossinis „Der Ehevertrag“ beschäftigt sei. Das Publikum applaudierte im Erler Passionsspielhaus begeistert, herzlich und verständnisvoll. Beide „Ring“-Zyklen waren ausverkauft, das überregionale Lob für Besetzung und Inszenierung groß.
Tschaikowsky, „Mazeppa“ mit itzend Helene Feldbauer (Ljubow) und Alexander Roslavets (Kortschubej), stehend Mikhail Pirogov (Andrej) und Carlos Cárdenas (Iskra).. Foto: Xiomara Bender
Die Tiroler Festspiele Erl sind neben den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik nicht nur das größte Festival klassischer Musik und des Musiktheaters im österreichischen Bundesland Tirol, sondern auch eines der originellsten im Alpenraum zwischen München und Trient. „Wilder Kaiser statt Grüner Hügel“, frechelte eine Merchandising-Tasse und zeigt so das kräftige Selbstbewusstsein Erls als Wagner-Alternative zu den Bayreuther Festspielen. Von Beginn an – seit 1997 – hatte man im Inntal zwischen Kufstein und Rosenheim ganz hohe Wagner-Ambitionen neben den damals noch ständig ausverkauften Bayreuther Festspielen. Die Gegend mit Panoramablicken Richtung Wendelstein und Kaisergebirge ist traumhaft schön. Auch das macht die Tiroler Festspiele Erl zwischen den nur knapp hundert Kilometer entfernten Festspiel-Hotspots München und Salzburg zum Magnet.
Den Festspielgründer Gustav Kuhn – damals ein umtriebiger und äußerst streitbarer Tausendsassa mit viel Energie, Mut und Kreativität – verglich man in den ersten Jahren mit Fitzcarraldo. Die junge Wagner-Hochburg wurde bewundert, teils auch herablassend belächelt, und Kuhns ungewöhnliche Besetzungen wurden mit Staunen kommentiert. Sein Event-Denken gipfelte 2014 in einem „Ring des Nibelungen“ innerhalb von 24 Stunden, bei dem „Das Rheingold“ allerdings nicht im Zeitplan enthalten war. Zuerst spielte man nur im 1959 nach Plänen von Robert Schuler erbauten Erler Passionsspielhaus mit 1.500 Publikumsplätzen. Erl ist mit seinem alle sechs Jahre stattfindenden Spiel einer der bekanntesten Passionsspielorte. Die seit 1613 bestehende Spieltradition ist sogar noch zwanzig Jahre älter als im legendären Oberammergau. In den Passionsspieljahren (zuletzt 2019, erneut wieder 2025), für welche die 1600-Seelengemeinde insgesamt 40.000 Besucher erwartet, kann im Passionsspielhaus kein Opern- und Konzertbetrieb stattfinden. Daher wurde mit kräftiger Unterstützung des Unternehmers und ehemaligen Politikers Hans Peter Haselsteiner 2012 als weiteres Prunkstück das Festspielhaus mit 700 Plätzen eröffnet. Beide Theaterbauten fanden sich bis zum Sommer 2024 neben der Silhouette von Kühen in den diversen Logo-Varianten, die nun Star-Tenor Jonas Kaufmann mit seiner ab Herbst 2024 beginnenden Intendanz zu erneuern beabsichtigt. Durch das zweite Gebäude mit dem eindrucksvollen Foyer bestand die Möglichkeit zu einem unabhängigen Proben- und Spielbetrieb auch während der Passionsspiele. Mit den Setzungen „Herbst“, „Winter“ und „Sommer“ etablierte Gustav Kuhn eine das ganze Jahr umfassende Angebotskette von Konzerten, Zyklen und Musiktheater. 2018 trat Kuhn nach Vorwürfen sexueller Belästigung, andauernder psychischer und verbaler Gewalt zurück. Nach einer Interimsspielzeit unter Andreas Leisner, der unter Jonas Kaufmann nun in das Erler Team zurückkehrt, konnte mit Bernd Loebe ein erfahrener Praktiker gewonnen werden. Seit 2002 hält Loebe die Oper Frankfurt mit einer spannenden Kombination von hochklassigen Besetzungen, kontrastreichen Regie-Profilen und Randzonen-Repertoire an der Spitze der Aufmerksamkeit. Loebe übernahm mit ungefährer Linienrichtung Kuhns Programmkurs, perfektionierte diesen allerdings in allen Bereichen. Weitere Änderungen sieht nun Jonas Kaufmann vor: „Parsifal“ soll 2025 (mit ihm in der Titelpartie) zu einer Erler Ostertradition werden, das Opernprogramm mit Puccinis „La Bohème“ und konzertanten Vorstellungen von Verdis „Rigoletto“, „Troubadour“ und „La Traviata“ insgesamt für größeren Zulauf sorgen. Der Vorverkauf für Kaufmanns erste Saison begann bereits im Juni 2024, also vor Loebes letztem Erler Sommer. Weder Loebe noch Kaufmann verschweigen, dass die Besucherzahlen besser sein könnten.
Festspielhaus Erl, Architektur Kufsteinerland, Foto Lolin
Dabei gibt es in Erl immer einige Spezialanforderungen, die zu Lasten voll besetzter Zuschauerräume gehen. Nach den Vorstellungen kommt man derzeit mit der Bahn aus dem deutschen Nachbarort Oberaudorf gut nach München und Innsbruck zurück. Das war nicht immer so. Von Oberaudorf bis zum Festspiel- und Passionsspielhaus wird ein Shuttle geboten. Einige Gäste bevorzugen den etwa 45-minütigen Fußmarsch vom Bahnhof über die sanierte Inn-Zollhausbrücke. Der Großteil nutzt das Auto und einen Gratis-Parkplatz im etwa 400 Meter von den Spielhäusern gelegenen Parkhaus. Für Autoreisende, vor allem aus München, hat allerdings fast jede Tageszeit ihre Anfahrtstücken. Regelmäßige Staus am Irschenberg und den Autobahnen sowie in der kalten Jahreszeit widrige Wetterbedingungen lassen einen Teil des Zielpublikums zögern. Beim regionalen Publikum bestehen sehr ausgeprägte Vorlieben für Brauchtum und Hochkultur mit saisonalen Bezugspunkten, bei denen kirchliche Feiertage eine hohe Gültigkeit haben. Es ist kein Zufall, dass die Musicbanda Franui bei den Tiroler Festspielen Erl seit Jahren eine feste Größe ist. Das Publikum im Inntal und Tirol sowie aus Südostoberbayern und dem Chiemgau schätzt das „Besondere“, ist fluid zwischen anspruchsvollem Crossover, traditionellem Volkstheater und nicht-alltäglichem Musiktheater. Bernd Loebe konnte dieses Publikum seit 2019 wiedergewinnen und dauerhaft interessieren. Wie Kuhn brachte er Traditionsstücke, etwa Bachs „Weihnachtsoratorium“ im Advent. Er setzte wie Kuhn auf die Säulen Wagner und Belcanto. Neue Inszenierungen eines exorbitant schwierigen Stücks wie Rossinis „Bianca e Falliero“ und die österreichische Erstaufführung von Saverio Mercadantes „Francesca da Rimini“, dazu Donizettis „Don Pasquale“ brachte er neben Erl auch an der Oper Frankfurt heraus. Die Befürchtung, dass die Tiroler Festspiele eine lückenlose Filiale der Oper Frankfurt werden könnten, bewahrheitete sich nicht. Neu war Loebes Programmsäule von – wie er es nannte – „wagnernahen“ Werken in Ergänzung zum Großprojekt „Ring“ und „Lohengrin“. Es reihten sich Dvořáks „Rusalka“, Humperdincks „Königskinder“ und Chaussons „Le Roi Arthus“. Durch Regiekonzeptionen ergaben sich zum Teil Bezüge zum Aufführungsort: Florentine Klepper stellte in „Rusalka“ die Welt des Prinzen als cleanes Landschafts-Areal mit Golfrasen dar und ließ die Nixe Rusalka am Ende der Oper in einem verschmutzten Naturraum mit totem Gewässer vegetierten. Gleichzeitig gab es zum Jahresende 2019 die Meldungen vom gefährlichen Absinken des Grundwasserspiegels im Voralpenraum.
Interessant sind auch die verschiedenen Casting-Strategien der drei Leiter. Gustav Kuhn arbeitete zumeist mit Sängerinnen und Sängern aus seiner Accademia di Montegral, wobei er oft lyrische Stimmen an das schwere Wagner-Fach heranführte. Bernd Loebe brachte bewährte und aufstrebende Stimmen des Frankfurter Ensembles mit Gästen zusammen. Jonas Kaufmann kündigt mit seinem Chefdirigent Asher Fisch neben hochkarätigen jungen Besetzungen Freunde wie den Bariton Ludovic Tézier, Stars wie Pretty Yende zum konzertanten Partiendebüt als Leonora in Verdis „Troubadour“ und Lise Davidsen an. In Erl scheint vieles möglich. So gab es in den letzten Jahren immer wieder herausragende Konstellationen: Als Gewinn erwies sich zum Beispiel die kontinuierliche Verpflichtung der Belcanto-Sopranistin Bianca Tognocchi, eine Erler Ensemblesäule von „La sonnambula“ über Walter Braunfels‘ „Die Vögel“ bis zu einer bemerkenswert nekrophilen Lesart von „Don Pasquale“. Loebe hatte Probenzeiten und Bedingungen für das Orchester optimiert, aber keine musikalische Oberleitung verpflichtet. So ist Kaufmanns Entscheidung für einen kontinuierlichen Dirigenten des Projektorchesters richtig. Diesen fand er in Asher Fisch. In der ausgezeichneten Akustik des Festspielhauses und auf der Hinterbühne des Passionsspielhauses, das keinen Orchestergraben hat, klang das exzellent spielende Orchester der Tiroler Festspiele Erl bislang ohne ausgeprägte Individualität.
Der Chor der Tiroler Festspiele wurde 2007 gegründet und besteht aus 32 Stammpositionen, die je nach Erfordernissen erweitert werden. Unter Leitung von Olga Yanum gehört die Kernbesetzung zur „Capella Minsk“. Diese probt die Chorpartien in ihrer Heimat vor und reist dann erst zu den szenischen Proben an. Große Choropern wie „Lohengrin“ waren in den letzten Jahren selten, die Spannweite der Aufgaben von Rossinis „Ermione“ über Adolphe Adams „Le postillon de Lonjumeau“, Rimski-Korsakows „Schneeflöckchen“ bis Tschaikowskys „Mazeppa“ dagegen beträchtlich.
Vorstöße ins 20. Jahrhundert gab es bei Kuhn und Loebe kaum. Unter der Interimsleitung von Andreas Leisner gelangte 2018 Christian Spitzenstaetters Oper „Stillhang“ zur Uraufführung. Das Stück handelt vom Aufenthalt der Münchner Volkskünstlerin Liesl Karlstadt nach dem Bruch ihrer Beziehung mit Karl Valentin bei den Gebirgsjägern auf der Ehrwalder Alm hinter Garmisch im Kriegsjahr 1943. Insofern versprechen Kaufmanns Vorstöße ins 20. und 21. Jahrhundert mit Bártóks „Herzog Blaubarts Burg“ und Poulencs „Die geliebte Stimme“ sowie der österreichischen Erstaufführung von George Benjamins „Picture A Day Like This“ in Koproduktionen im Juli 2025 neue Impulse.
So lebendig die Tiroler Festspiele Erl auch sind, sie müssen sich trotz traumhafter Lage und offenem Publikum immer wieder neu positionieren und gegen eine Vielfalt an Festivals von Salzburg bis Bregenz behaupten. Dazu gehören auch die Klangspuren Schwaz, die Herrenchiemsee Festspiele, das Immling Festival. Historische Bühnen wie das Volkstheater Flintsbach und die Ritterschauspiele Kiefersfelden sind wertvolle Traditionsorte des ländlichen Laienspiels, welche im Schatten der Erler Passionsspiele entstanden und weiter bewahrt werden. Neben dekorativ gehaltvollen Produktionen setzte Loebe in seinem letzten Festspielsommer 2024 ein Zeichen dafür, wie ambitioniertes Musiktheater aussehen kann: „Mazeppa“ wurde durch Matthew Wilds strategisches Konzeptdenken und ein ebenso ideales wie hoch engagiertes Ensemble zu Oper auf Höhe des Zeitgeschehens. Brigitte Fassbaenders „Ring des Nibelungen“ zeichnete sich durch eine penible Erzählhaltung und unaufgeregten Aktualitätsbezug aus, der dem Projekt in der dichten Musiktheater-Landschaft Südbayerns und Österreichs hohe Sympathiewerte einbrachte. Das sind in Hinblick auf Publikumsbindung und Legitimation für Jonas Kaufmann und sein Team gute, aber auch anspruchsvolle Voraussetzungen.
Roland H. Dippel
|