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Das Wagner-Festival Sofia 2024 mit „Der Ring des Nibelungen“ und „Lohengrin“

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Das Wagner-Festival Sofia 2024 mit „Der Ring des Nibelungen“ und „Lohengrin“

Anders als das sich seit Ende des 19. Jahrhunderts als Wagner-Hotspot verstehende Budapest zeigte die bulgarische Hauptstadt Sofia bis vor 15 Jahren keine ausgeprägte Wagner-Affinität. 47 Jahre nach dem Tod Richard Wagners erklang dort in der Nationaloper 1930 mit „Der fliegende Holländer” erstmals eine Wagner-Oper. Bis 1983 gab es in den folgenden 53 Jahren nur elf Wagner-Produktionen. Das änderte sich nach einer weiteren mehrjährigen Wagner-Pause erst 2010. Ab da brachte Intendant Plamen Kartaloff bis zu Wagners 200. Geburtstag 2013 alle vier Teile von „Der Ring des Nibelungen“ heraus. Im Herbst 2015 gastierte die Nationaloper Sofia mit dieser Produktion im Festspielhaus Neuschwanstein in Füssen.

„Lohengrin“ mit Tsvetana Bandalovska (Elsa), Gabriela Georgieva (Ortrud) und dem Chor der Nationaloper Sofia

2023 setzte Kartaloff innerhalb eines Jahres zu einer weiteren Neuproduktion des Zyklus an. Auch diesmal gab es ein Gastspiel in Füssen, allerdings „nur“ mit „Die Walküre“. Vor allem gab diese „Ring“-Neuproduktion den Startschuss zur Gründung des Sofia Wagner Festival. Nun soll in den Folgejahren neben dem „Ring“ jeweils ein weiteres Wagner-Opus erklingen. 2024 war es „Lohengrin“, der zuletzt 2009 in Sofia konzertant gegeben wurde. Ein umfangreicher Band resümierte damals die begeisterten Medienstimmen über Sofia als international konkurrenzfähige Wagner-Metropole. Auch die Reaktionen auf die als DVD veröffentlichte „Götterdämmerung“ aus der ersten Inszenierung von 2013 waren enthusiastisch. Einmal mehr bestätigte der größte Opernbetrieb des Landes das immense Reservoir Bulgariens an großen und großartigen Stimmen.

Das zweite Wagner-Festival vom 13. bis 24. Juni 2024 begann mit der ersten hochsommerlichen Hitzeperiode. Jeweils 15 Minuten vor Beginn trat ein kleines Blechbläser-Ensemble in den Portikus und intonierte – wie in Bayreuth – Motive aus den dann folgenden Werken. Die „Lohengrin“-Premiere war gut besucht, ebenso die Aufführungen von „Rheingold“ und „Walküre“. Wag­ner-Vorstellungen gibt es in Bulgarien fast nur in Sofia. Dabei verfügt das Land mit insgesamt zirka fünf Millionen Einwohnern, von denen zwei Millionen im Großraum Sofia leben, über ein reichhaltiges Musiktheater-Leben. Opernhäuser mit Personalstämmen mittlerer bis großer Häuser gibt es auch in Varna, Burgas, Ruse, Plovdiv und Stara Zagora.

Plamen Kartaloff amtiert nach einer ersten Periode von 1994 bis 2000 nun erneut seit 2008 als Intendant. Was für Ziele verfolgt er? Der 75-Jährige gründete bereits 1973 die Bulgarische Kammeroper Blagoevgrad. Nach dem Studium in Sofia gab er seiner Ausbildung in Berlin den letzten Schliff und war Co-Leiter einer vom bulgarischen Bass Boris Christoff in Rom gegründeten Akademie für Gesang. Außerdem leitete er die Oper Ruse und das Opernfestival in Miskolc/Ungarn, wo er einen Schwerpunkt auf neue Werke setzte.

Vor 2000 schuf er für Sofia einen international vielbeachteten Zyklus mit den Opern „Il Guarany“, „Fosca“ und „Maria Tudor“ des brasilianischen Verdi-Zeitgenossen António Carlos Gomes. Auch brachte er eine Reihe barocker und frühklassischer Werke von Monteverdi bis Galuppi zu bulgarischen Erstaufführungen. Der Musikwissenschaftler und Hochschulprofessor ist ein Workaholic. Mehrere Personen des Leitungsteams berichten, dass er am frühen Morgen als erster im Einsatz ist und nachts als einer der letzten die Nationaloper verlässt. Fast legendär ist sein Applausritual. Kartaloff tritt da nicht nur in eigenen Inszenierungen zu den Mitwirkenden auf die Bühne und legt mit diskreten Gesten die Reihenfolge der Verbeugungen fest.

Kartaloff lässt sich als Kulturfunktionär mit August Everding und als Regisseur mit der Haltung von Otto Schenk vergleichen. Er möchte die internationale Reputation der Nationaloper Sofia steigern und trägt seine Ideen von Produktionen an außergewöhnlichen Orten mit Erfolg an die Politik heran.

Wagner ist einer der wichtigsten Steine in seinem Projekte-Brett, sowohl als Alleinstellungsmerkmal innerhalb Bulgariens als auch als qualitativer Leistungsmaßstab für die internationale Opernwelt. Wagner-Produktionen sichern der Na­tionaloper Sofia weitaus mehr Aufmerksamkeit als die fast immer ausverkauften Ballette sowie die Verdi- und Puccini-Spitzenreiter. Erfolg haben beim einheimischen Publikum verständliche Inszenierungen. Kartaloff folgt in seiner Personenregie genau Wagners Dichtungen. Die Intrigen und Eruptionen in „Lohengrin“ und im „Ring“ werden plastisch und stellenweise mit fast ironisch anmutender Verspieltheit deutlich. Alles ist überaus farbenprächtig; etwa die blutroten Skulpturen der Walkürenrosse  – von Komparsen geführt – und die der Fantasy-Stilistik angenäherten Kostüme von Hristiyana Mihaleva-Zorbalieva. Von Bühnenbildner Hans Kudlich stammen drei einem Alpha-Zeichen ähnelnde Elemente und ein pyramidenartig transparentes Element für Walhall, auf denen sich Lichtmagier Andrej Hajdinjak visuell austoben kann. Viel freie Raumluft bleibt noch dem Pantomimen-Ensemble „Talasumche“, das die Funktion von Doppelgängern übernimmt: Beim Gießen des Schwerts Nothung erscheinen Siegfrieds Eltern, bei Waltrautes Untergangsbeschwörung (packend: Alexandrina Stoyanova-Andreeva) die Götter und zu Brünnhildes Schlussgesang scharen sich die gefallenen Helden aus Walhall und „Hellas nächtlichem Heer“. Der „Ring“ ist in Sofia ein technisch prächtiges Abenteuer mit Gedankenraum fürs Publikum, das Kartaloff in klaren Erzählstrukturen und Erkenntnis­angeboten durch Wagners Mythen-Mix leitet. Der aberwitzig rauschhafte Farb- und Projektionszauber lenkt trotzdem nicht von der Musik ab (Multimedia: Ivan Lipchev, Elena Shopova).

„Götterdämmerung“, 3. Aufzug mit Iordanka Derilova (Brünnhilde). Fotos: Svetoslav Nikolov

Kartaloffs Inszenierung von „Lohengrin“ arbeitet mit einer klaren Anwendung der Dualismen Hell und Dunkel, Gut und Böse, Heil und Verderben. Den Gralsritter Lohengrin zeigt er als Inkarnation göttlich reinen Lichts. Hans Kudlich baute dazu einen gespaltenen Baum mit Astgruppen wie Engelsflügel auf die Bühne. Die beträchtlichen Chormassen der Nationaloper Sofia und der Männer aus dem Bulgarischen Nationalen Rundfunkchor (geleitet von Violeta Dimitrova und Lubomira Alexandrova) stehen auf Stufen wie im Amphitheater. Die Gruppen sind geteilt in farbenfrohe Landser und eine Gruppe von Kapuziner-­Klerikern. Kartaloff besetzt fast immer aus dem eigenen Ensemble der Nationaloper. Er geht davon aus, dass gute Interpreten für das schwere italienische und slawische Fach auch die Wagner-Partien meistern können. Für die Einstudierung von „Ring“ und „Lohengrin“ war der international gesuchte Richard Trimborn der verantwortende Korrepetitor. Die bulgarische Sopranistin Anna Tomowa-Sintow, Elisabeth in „Tannhäuser“ an der Wiener Staatsoper bei Otto Schenk und Elsa in „Lohengrin“ unter Herbert von Karajan, coachte in langen Einzel- und Gruppenmeetings via Zoom. Im Festival-Zyklus sang Aris Argiris als Gast aus dem deutschsprachigen Raum imponierend den Wotan in „Die Walküre“. Als Brünnhilde in „Götterdämmerung“ kehrte Iordanka Derilova, in Dessau seit Jahren überregional gefeiertes Ensemblemitglied, zurück und genießt in Sofia Starstatus. Nach dreißig Bühnenjahren wurde sie zur Ehrenkünstlerin der Nationaloper Sofia ernannt und bei jedem ihrer Auftritte umjubelt. Erstklassige Leistungen lieferten im international konkurrenzfähigen Ensemble besonders Krassimir Dinev (Mime), der von Fafner zu einem nachtschwarzen Hagen aufschießende Petar Buchkov und der kernig verbitterte Alberich von Plamen Dimitroff. Tsvetana Bandalovska war nach ihren starken Leistungen als Elsa und Sieglinde auch eine packende Gutrune. Der fast tenorale Bariton Atanas Mladenov klang als Gunther zwar ungewohnt, damit aber äußerst stimmig im Kontrast zu Martin Ilievs kraftvoll konditioniertem Siegmund in „Walküre“- und Siegfried in „Götterdämmerung“. Etwas matt nach dem Gewaltmarsch durch die „Lohengrin“-Proben samt Premiere wirkte Kostadin Andreev als Jung-Siegfried. Eine vokale Spitzenleistung in „Lohengrin“ bot Gabriela Georgieva als Ortrud mit der seltenen Synergie von Dämonie und Stimmschönheit. Ventseslav Anastasov gab einen angemessen starken Herausforderer Telramund.

„Götterdämmerung“, 1. Aufzug „Halle der Gibichungen“ mit Atanas Mladenov (Gunther), Martin Iliev (Siegfried), Petar Buchkov (Hagen), Tsvetana Bandalovska (Gutrune). Foto: Svetoslav Nikolov

„Götterdämmerung“, 1. Aufzug „Halle der Gibichungen“ mit Atanas Mladenov (Gunther), Martin Iliev (Siegfried), Petar Buchkov (Hagen), Tsvetana Bandalovska (Gutrune). Foto: Svetoslav Nikolov

Das Resultat ist vor allem bei den Frauen- und tiefen Männerstimmen zutiefst beeindruckend. Die Deklamation unterscheidet sich bei guter Textverständlichkeit von der in Mitteleuropa und Amerika durch ansatzweise weichere Konsonanten und einer bei Wagner sonst eher seltenen Gewichtung der Vokale. Das gilt auch für die zu machtvoller Massierung zusammengedrängten Chor-Mannen (Direktion: Violeta Dimitrova). Überdies gelang es, das Premierenpublikum durchweg mit Spannung in hohe Aufmerksamkeit zu versetzen und nicht nur an Aktschlüssen zu euphorisieren. Mit umfangreichen Erfahrungen im Umgang mit mitteleuropäischen Orchestern hielt Dirigent Evan-Alexis Christ im Saal der Nationaloper die Stimmen in allen Dynamikregionen immer knapp in Führung vor dem Orchester. Ihm gelang ein selten schlanker, fast immer singender Gestus bis in die kammermusikalischen Feinheiten und voluminösen Panzerungen hinein. Das Ensemble zeigte ebenfalls eine sehr kantable Grundhaltung mit satter Expression. Kraft­anstrengungen ergaben sich nur selten aus dem dramatischen Nichts, sondern waren immer in die Gesamtlinien verwoben. In dem 1921 gebauten und 1953 renovierten Theaterbau fuhr dagegen Constantin Trinks für „Lohengrin“ schwerere Klanggeschütze auf als in Deutschland bei Wagners nationalistischem Rumpelgetöse als statthaft betrachtet wurde.

Der „Ring“ in Sofia ist kein angeglichener Standard-Klang wie an Opernhäusern Europas und US-Amerikas. Dafür gerät er zu einem fast exotischen Ereignis wie vor 1989, als in den slawischen Ländern ausländische Opern noch in der Landessprache zur Aufführung gelangten und sogar bei Aufführungen in Originalsprache oft regionale musikalische Eigenheiten hörbar wurden. Der bulgarische Wagner-Dialekt vereint, was in Deutschland Kontraste sind: sogar in hohen Lautstärken bleibt er stellenweise samtweich. Und die Stimmen haben in einer sehr schönen Ausrichtung einen individuellen Zugang für Sanglichkeit und Diktion. Das sollte man mindestens einmal im Leben gehört haben.

Roland H. Dippel

 

 

 

 

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