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Sabrina Sadowska und Jürgen Reitzler, Ballettdirektorin und Operndirektor der Theater Chemnitz, über die Europäische Kulturhauptstadt 2025

Im Gespräch mit Tobias Könemann, Rainer Nonnenmann und Gerrit Wedel

Die letzte deutsche Kulturhauptstadt Euro­pas war 2010 das Ruhrgebiet. Nun wird es 2025 Chemnitz. Die drittgrößte Stadt im Freistaat Sachsen setzte sich mit ihrer Bewerbung gegen Magdeburg, Hannover, Hildesheim und Nürnberg durch. Die Theater Chemnitz sind ein Fünfspartentheater mit Oper, Ballett, Philharmonie, Schauspiel und Figurentheater. Ballettdirektorin ist seit 2017 Sabrina Sadowska. Die Tänzerin wurde in ihrer Heimatstadt Basel ausgebildet und hatte Engagements in Trier, Bremerhaven, Halle und Kopenhagen. Anschließend wirkte sie als Ballettmeisterin und stellvertretende Ballettdirektorin am Theater Vorpommern. 2013 kam sie zunächst als Ballettbetriebsdirektorin und 1. Ballettmeisterin nach Chemnitz. Hier gründete und leitet sie das Festival TANZ | MODERNE | TANZ sowie die 2010 gegründete Stiftung TANZ – Transition Zentrum Deutschland, die sich für die berufliche Neuorientierung von Tänzer*innen einsetzt.

Operndirektor in Chemnitz ist seit der Spielzeit 2023/24 Jürgen Reitzler. Er begann als Regieassistent und Regisseur am Landestheater seiner Heimatstadt Coburg. Als Regisseur, Spielleiter, Chefdisponent und Künstlerischer Betriebsdirektor wirkte er an Theatern in Mannheim, München, Hamburg, Lübeck, Linz, Hannover, Dresden und Berlin sowie neben Stefanie Carp als stellvertretender Intendant bei der Ruhrtriennale der Jahre 2018 bis 2020.

Oper &Tanz: Frau Sadowska, wie haben Sie den 2018 offiziell gestarteten Prozess der Chemnitzer Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas miterlebt?

Sabrina Sadowska und Jürgen Reitzler. Foto: Kati Hilmer

Sabrina Sadowska und Jürgen Reitzler. Foto: Kati Hilmer

Sabrina Sadowska: Maßgeblich angestoßen hatte das unser Generalintendant Christoph Dittrich zusammen mit der damaligen Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig unterstützt vom neuen Kulturamtsleiter Ferenc Csák, der bereits 2010 die erfolgreiche Kulturhauptstadt-Bewerbung des ungarischen Pécs verantwortete. Ich selbst war als Programmrats- und Kuratoriumsmitglied dabei und durfte als eine Vertreterin unserer „Zehn für Chemnitz2025“ nach Berlin, wo wir unser erstes Bewerbungsbuch, das Bid Book AUFBRÜCHE OPENING MINDS, CREATING SPACES der EU vorgestellt haben.

O&T: Wie konstruktiv oder auch konfliktreich war und ist dieser komplexe Prozess zwischen Politik, Verwaltung, städtischen Kultureinrichtungen sowie freien Akteuren, Vereinen, Ensembles und der Bevölkerung?

Sadowska: Die Mitbewerber Hannover oder Nürnberg hatten andere Budgets, mit denen sie zusätzliches Personal verpflichten konnten. In Chemnitz haben wir dagegen versucht, mit eigenen Ressourcen zu arbeiten. Der Programmrat bestand aus Vertretern und Vertreterinnen aller Bereiche der Bevölkerung, und jeder hatte eine andere Vorstellung, wie sich Chemnitz präsentieren sollte und was Kulturhauptstadt sei. Das war ein zweijähriger Prozess, bei dem viele Meinungen gehört und gebündelt werden sollten. Und das war eine Chance, dass Verwaltung, Ordnungsamt und Kulturschaffende für ein gemeinsames Ziel enger zusammenarbeiten. Eine direkte Folge davon war die Kulturstrategie 2018–2030 und eine deutliche Mittelerhöhung für die freie Szene.

O&T: Was soll das Jahr der Kulturhauptstadt für Chemnitz längerfristig bewirken?

Sadowska: Es gibt viele städtebauliche Projekte und neue Interventionsflächen. Wir wollten alle Kulturschaffenden zusammenbringen, die sich bislang kaum oder gar nicht kannten. Es geht um die Auseinandersetzung mit der Stadtgeschichte, vor und nach dem Krieg, vierzig Jahre DDR und um die fehlende Generation, die nach der Wende 1990 gleich in den Westen gegangen ist. Es geht um ein großes Demokratieprogramm und darum, Entwicklungen in Gang zu setzen, die die Stadt in den nächsten zehn Jahren prägen werden.

O&T: Herr Reitzler, wie haben Sie die Theater Chemnitz wahrgenommen, als Sie 2023 Operndirektor wurden. Die Stadt hatte ja bereits 2020 den Zuschlag für die Europäische Kulturhauptstadt 2025 erhalten.

Jürgen Reitzler: Ich war schon seit 2021 mit dem Theater in Kontakt und habe mich dann schnell in den laufenden Prozess eingearbeitet. Aufgabe der Oper war es, in der noch verbleibenden Zeit etwas zu machen, was sich von dem Üblichen abhebt und vielleicht überregionales Interesse erweckt, aber zugleich mit Stadt und Region zu tun hat. Nun bringen wir im Herbst 2025 die Uraufführung einer neuen Oper von Ludger Vollmer heraus, basierend auf einem Libretto von Jenny Erpenbeck nach dem Roman „Rummelplatz“ des Chemnitzer Autors Werner Bräunig über die Aufbaujahre der DDR in einem erzgebirgischen Dorf mit Uran-Bergbau der SAG Wismut. Hinzu kommt, dass wir momentan von vielen Künstlerinnen und Künstlern gefragt werden, ob sie während der Kulturhauptstadt bei uns auftreten können. Da kommen wir aber schnell an unsere personellen und infrastrukturellen Grenzen. Auch wir müssen darauf achten, dass das Programm das Chemnitzer Publikum anspricht.

O&T: Die Stadt hat sich unter anderem gegen Hannover durchgesetzt, wo Sie selbst gearbeitet haben. Hat Sie das überrascht?

Reitzler: Ich mache seit dreißig Jahren Theater und war auch bei der Ruhrtriennale, wo die Verwaltung aus der Kulturhauptstadtverwaltung von 2010 besteht. Von daher weiß ich, was in so einer Bewerbung steckt. Dass es dann Chemnitz wurde, hat mich nicht überrascht, weil die Stadt große Chancen hatte. Zum Motto „Aufbrüche“ gehört, dass wir Kunst in die Stadt vermitteln. Ganz junge Menschen kommen zu uns ins Theater, doch dann verlassen viele immer noch die Stadt. Viele waren noch nie im Theater, und wer neu in der Stadt ist, weiß oft gar nicht, dass es überhaupt ein Theater gibt.

O&T: Ein wichtiges Anliegen der Chemnitzer Bewerbung war die Aktivierung der Stadtgesellschaft.

Sadowska: Als die Stadt 2014 das Jahr der „Moderne(s) in Chemnitz. Architektur und Kultur“ veranstaltet hat, haben wir im Stadtbad die Revue „Die Moderne geht Baden“ gemacht. Zu seiner Fertigstellung im Jahr 1935 war es das größte und modernste Hallenbad Europas. Es wird jedes Jahr von 200.000 Menschen besucht und liegt hinter einer Hochhauszeile direkt neben dem Opernhaus. Dennoch haben mich Menschen gefragt, wo wir denn sonst tanzen. Das war für mich der Anstoß, den Chemnitzern zu zeigen, dass sie ein Opernhaus haben, wo es Kunst und Kultur gibt. Wir müssen die Menschen da abholen, wo sie sind, in ihrem Alltag, ihren Problemen, ihrer Bildung, womit sie sich identifizieren können.

O&T: Gab es in Politik und Gesellschaft auch Widerstände gegen das Projekt Kulturhauptstadt?

Sadowska: Viele waren anfangs skeptisch und meinten, das wird nichts. Das war der Tenor der ersten Phasen. Die Kulturakteure und vor allem die damalige Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig standen aber sehr schnell hinter der Bewerbung. Doch es gibt auch Pro Chemnitz und die AfD, die zunächst dagegen angegangen sind, sich dann aber im Stadtrat enthalten haben.

O&T: Bei der letzten Kommunalwahl im Juni 2024 wurde die AfD mit über 24 Prozent stärkste Fraktion im Chemnitzer Stadtrat. Das neue BSW kam aus dem Stand auf 15 Prozent. Wie wird sich das auf die Theaterarbeit auswirken?

Sadowska: Wir haben noch keine Ahnung, der Stadtrat hat sich eben erst konstituiert. Auch die Landtagswahl am 1. September wird für die Kultur in Sachsen sehr wichtig sein.

„Moderne geht baden“ mit Anna-Maria Maas, Ivan Cheranev, Benjamin Kirkman. Foto: Nasser Hashemi

„Moderne geht baden“ mit Anna-Maria Maas, Ivan Cheranev, Benjamin Kirkman. Foto: Nasser Hashemi

Reitzler: Es gibt von diesen Parteien keine Aussagen oder Zusagen an das Theater. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Unser Generalintendant Christoph Dittrich hat das in einer Eröffnungsrede an alle Mitarbeiter richtig gesagt: Er kann nur versuchen, mit den politisch Verantwortlichen im Gespräch zu bleiben und die Wichtigkeit unserer Institutionen und der Kultur zu erklären. Am besten zeigen wir das aber durch ein wirksames und emotionales Programm.

Sadowska: Mir ist es wichtig, das Verständnis von Tanz als gesellschaftliches Plus zu implementieren. Tanz bedeutet nicht, wir müssen auf der Bühne ein paar Künstler bewundern, die sich toll bewegen, sondern Tanz fängt bei jedem einzelnen an, denn ohne Bewegung haben wir keine Lebensqualität. Jährlich machen wir ein Schultanzprojekt mit Aufführungen vor 700 Eltern, denen dabei bewusst wird, dass bei der neuronalen Entwicklung des Gehirns Bewegung ein Muss ist, weil sich sonst das räumliche Denken nicht strukturiert. Wir bieten die Projekte „Silbertanzclub“ und „Die tanzenden Nachbarn“ an, und ich war erstaunt, wie stark die Nachfrage ist.

Reitzler: Ich bin oft auch noch in Dresden und werde da regelmäßig von Leuten gefragt, ob ich ihnen Karten für das Ballett der Sadowska in Chemnitz besorgen kann, weil sie da lieber hingehen als zum Dresdner Ballett, mit dem Effekt, dass in Chemnitz viele Ballett-Veranstaltungen ausverkauft sind.

O&T: Eine Besonderheit von Chemnitz sind rund 30.000 Garagen, die während der DDR-Zeit und bis heute von der Bevölkerung auch als Stauräume, Hobbykeller oder Werkstätten genutzt werden. Im Rahmen des Projekts „#3000Garagen“ sollen daraus Fundstücke mit ihren Geschichten, Erinnerungen und Lebenswegen sichtbar gemacht werden. Beteiligen sich daran auch die Theater Chemnitz?

Reitzler: Das ist eine schöne Idee, aber nicht einfach in der Umsetzung, das durften die Projekt­träger schon lernen. Für viele Menschen ist die Garage ein privater Raum, ein Raum des Rückzuges, in den man nicht einfach Fremde lässt. Man muss mit den Menschen in Kontakt treten, einen Austausch schaffen und einen Zugang zum Projekt ermöglichen. Damit steht das Projekt fast sinnbildlich dafür, wie man die Chemnitzer und die Kulturhauptstadt zu verbinden versucht. Seitens des Theaters beteiligt sich am Garagen-Projekt das Figurentheater mit dem Projekt „Archäologie der Dinge“.

Peter Eötvös, „Sleepless“ mit Alexander Kiechle, Tommaso Randazzo (Fishermen), Johann Kalvelage (Inkeeper), Marie Hänsel (Alida), Thomas Kiechle (Asle), Thomas Essl (Man in Black), Jason Lee, Felix Rohleder (Fishermen). Foto: Nasser Hashemi

Peter Eötvös, „Sleepless“ mit Alexander Kiechle, Tommaso Randazzo (Fishermen), Johann Kalvelage (Inkeeper), Marie Hänsel (Alida), Thomas Kiechle (Asle), Thomas Essl (Man in Black), Jason Lee, Felix Rohleder (Fishermen). Foto: Nasser Hashemi

Sadowska: Ich plane für 2025 innerhalb des Festivals TANZ | MODERNE | TANZ ein Sonder­event. Inspiriert vom Jahrhundertroman „Ulysses“ von James Joyce laden wir alle Zuschauer auf eine Tanz-Entdeckungsreise quer durch Chemnitz ein. Von früh bis spät zeigen internationale Tanzschaffende an 18 Orten Kreationen in Bezug auf „Ulysses“. Was in diesem Buch erzählt wird, ist Erbe der europäischen Kulturgeschichte. Gleichzeitig arbeiten wir seit vier Jahren an einem zentraleuropäischen choreografischen Zentrum, welches ein Leistungszentrum für Breaking und ein Zentrum Tanz der Generationen unter einem Dach beherbergt, Träger ist der Verein TANZ | MODERNE | TANZ. Dort wird es dann Tanztherapie für Demenz- und Parkinsonkranke geben, Tanz der Generationen, eine Bürgertanzbühne, Programme für Kinder und Jugendliche, Integrationsprojekte, Raum für inklusiven Tanz und vieles mehr. Das ist ein Projekt der Legacy für die Zeit nach 2025.

O&T: Auf solch nachhaltige Entwicklungen, Vernetzungen und Strukturbildungen legt das EU-Programm der Kulturhauptstadt ja besonderen Wert. Gibt es Ihnen kulturpolitischen Rückenwind, dass dieses Jahr in Paris erstmalig Breaking als olympische Disziplin zu erleben war?

Sadowska: Ja, das hoffen wir. Wie würde Deutschland aussehen, wenn wir in allen Grundschulen einmal pro Woche HipHop im Sportunterricht hätten, ganzheitlich mit Musik und Bewegung, wo sich je zwei einen Battle liefern, kompetitiv und zugleich voll Respekt füreinander?

O&T: Profitieren auch die Theater Chemnitz von den durch Stadt, Freistaat und Bund zusätzlich für die Kulturhauptstadt bereitgestellten Geldern?

Reitzler: Finanzielle Unterstützung erhalten wir für unsere Bid-book-Projekte. Für den laufenden Spielbetrieb oder zusätzliche Projekte wie Gastspiele ist dabei leider nichts vorgesehen. Und die Mittel des Freistaates aus dem „Kulturpaket“ werden unabhängig von der Kulturhauptstadt vollständig für den Ausgleich der Tarifsteigerungen gewährt. Momentan wird im Landtag zwar noch das „Kulturraumgesetz“ über die Finanzierung nicht­staatlicher Kultureinrichtungen in Sachsen evaluiert, aber es kann künftig schwierig werden. Ministerpräsident Michael Kretschmer hat sich in den letzten Jahren mit Entschiedenheit für die Unterstützung von Orchestern, Theatern und Kultur eingesetzt.

Sadowska: Wir arbeiten personell, räumlich und finanziell oft am Limit. Das nächste Jahr wird zur besonderen Herausforderung, der wir aber mit viel Enthusiasmus entgegensehen.

O&T: 2018 geriet Chemnitz durch ausländerfeindliche Übergriffe in die Schlagzeilen. Seitdem demonstrierte die Bürgerschaft immer wieder für Schutzsuchende, Freiheit, Frieden und Demokratie. Derartige Polarisierungen lassen sich gegenwärtig vielerorts beobachten, scheinen aber in Chemnitz besonders stark zu sein. Wie reagieren Theater, Oper und Tanz darauf?

Sadowska: Es gibt Dinge, die ändern sich nie: Liebe, Tod, Trauer, Neid, Hass, all die Grundthemen, für die Theater steht. Jeder möchte gesehen und respektiert werden. Statt immer nur an den Kopf, müssen wir uns auch an das Herz richten. Wir haben versucht Brücken zu bauen. In der Aufführung des „Nuss­knacker“ zeigen wir zur Ouvertüre Bilder vom alten Chemnitz, damit dann die Oma ihrem Enkel erzählen kann, warum Chemnitz heute nicht mehr so aussieht. Wir hoffen damit auf einen anderen Dialog. Und dann haben wir in der Aufführung einige historische Berühmtheiten der Chemnitzer Kunst- und Industriegeschichte zusammen Weihnachten feiern lassen.

O&T: Welche Möglichkeiten haben Sie in der Oper?

Reitzler: Wir hatten in der letzten Spielzeit eine sagenhafte Neuinszenierung von Peter Eötvös’ „Sleepless“. Jon Fosse, von dem die Vorlage stammt, war soeben Literaturnobelpreisträger geworden und Peter Eötvös war leider vier Wochen vor der Premiere verstorben. Dennoch kamen nur sehr wenige Leute und keine Kritiker von auswärts. Das hatten wir nicht erwartet und beschäftigt uns bis heute. Vielleicht muss ich daraus schließen, dass sich für diesen Stoff kaum jemand interessiert? Also gehe ich – wie auch viele andere Häuser – zurück auf die gängigen Titel, „Hoffmanns Erzählungen“ und „La Bohème“.

O&T: Wie nehmen Sie das Ensemble mit?

Reitzler: Ich pflege mit meinem sehr jungen Ensemble sowie mit Chor und Orchester einen fast täglichen Austausch über unsere Arbeit, die Kulturhauptstadt und die Stadt an sich. Wir hatten alle sehr große Freude an „Sleepless“. Leider blieben in den Vorstellungen oft zahlreiche Plätze frei, der Stoff schien viele Besucher nicht abzuholen. Das respektieren wir und passen unser Programm entsprechend an. Auch an solchen Stellen ist der Austausch besonders wichtig.

O&T: Gibt es Fluktuationen im Ensemble?

Reitzler: Die meisten sind ja erst ein Jahr in Chemnitz und im Erst-Engagement für drei Jahre, das auch alle ausfüllen wollen. Wenn man sich den Sängermarkt ansieht, dann ist dieser gerade von guten jungen Sängerinnen und Sängern sehr gut gefüllt.

Sadowska: Auf eine Stelle im Tanz bewerben sich auch in Chemnitz zweihundert junge Menschen und mehr.

O&T: Chemnitz wurde im Krieg fast völlig zerstört, war in der DDR das Zent­rum des Maschinenbaus, hieß von 1953 bis 1990 Karl-Marx-Stadt und hat seit 1971 als Wahrzeichen den vierzig Tonnen schweren Karl-Marx-Kopf, der einst als Kulisse für sozialistische Jubelfeiern diente. Von damals 315.000 Einwohnern leben heute trotz weiterer Eingemeindungen nur noch 245.000 Menschen in Chemnitz. Bis heute ist die Stadt nicht ans ICE-Netz angeschlossen. Welche Rolle spielen die wechselvolle Geschichte und der demographische Wandel für das Theater?

Theaterplatz Chemnitz mit Opernhaus von 1909, König-Albert-Museum und Petrikirche. Foto: Nasser Hashemi

Theaterplatz Chemnitz mit Opernhaus von 1909, König-Albert-Museum und Petrikirche. Foto: Nasser Hashemi

Sadowska: Die Stadt und ihre Bewohner können im Vergleich zu Dresden und Leipzig noch mehr an Selbstbewusstsein und Mut gewinnen. Wir finden Wege, daran mitzuwirken. Während des Festivals TANZ | MODERNE | TANZ bieten wir jeweils eine Fahrradtour mit verschiedenen Stationen in Chemnitz an, an denen wir Stadtgeschichte und Tanz kombinieren. Die Veranstaltung ist heiß begehrt. Sie bringt den Einwohnern ihre Stadt wieder näher.

Reitzler: Dabei sind heute in Chemnitz weltweit führende Unternehmen ansässig, etwa ein Ausstatter für Boulder-Hallen oder Spezialfirmen in der Textilindustrie, nur ist das so nicht bekannt und stiftet keine Identität.

O&T: Das Kulturhauptstadt-Jahr steht unter dem Motto „C the unseen“. Es wird am 18. Januar 2025 mit einem großen Straßenfest eröffnet. Welche nachhaltigen Wirkungen erhoffen Sie sich davon?

Reitzler: Wir freuen uns wahnsinnig auf das Jahr und hoffen natürlich, dass das große Kulturangebot in 2025 nicht nur bei unserem Chemnitzer Publikum, sondern auch überregional Nachwirkungen zeigt. Als erste Legacy kündigt sich bereits 2026 Deutschlands größtes internationales Theaterfestival „Theater der Welt“ an, das wir gemeinsam mit der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 GmbH und „The Festival Academy“ nach Chemnitz holen.

Sadowska: Die erhöhte Aufmerksamkeit, die es in der Stadt gibt und die jetzt auch von außen kommt, ist sehr wichtig. Es ist ein großes Geschenk mitzuerleben, was jetzt gerade alles in Gang gesetzt wird. Die Mathe-Olympiade kommt nach Chemnitz, die Universität entdeckt ihre Verantwortung für die Stadt und vieles mehr. Ich hoffe, wir können der nächsten Generation eine Stadt überlassen, die wieder Menschen, Neugierige, Tüftler, Bastler, Kreative und Selbständige mit neuen Zielsetzungen anzieht und dann vielleicht in 2030 alles das greift, was wir uns heute noch gar nicht vorstellen können.

O&T: Vielen Dank für dieses informative Gespräch. Wir wünschen Ihnen alles Gute für Ihre vielen Unternehmungen!

  • Das Gespräch fand am 21. August 2024 per Zoom statt.

 

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