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Berichte
Exzess im spätfeudalen Prachtbau
„The Littmann-Sessions: eine Pop-Gala“ in der Staatsoper Stuttgart
Gleich zu Beginn kollidieren verschiedene Genres. Sopranistin Maria Theresa Ullrich erscheint im funkelnden Paillettenkleid mit roter Kamelie im Haar wie Traviata. Doch sie singt sich bloß ein und übt am Flügel die berühmte Habanera aus Bizets „Carmen“. Lässig und cool in Jeans und Sweatshirt klappt dann DJ Laima Adelaide den Klavierdeckel demonstrativ zu, um ihren Laptop darauf zu stellen und lautstarke Techno-Beats in den Saal zu pumpen. Als Ballettstange zweckentfremdet wird das Klavier dann auch noch von Hip-Hoperin Abenaa, die mit anrührend weinerlicher Stimme umso schärfer gegen Rassismus und Männermacht wettert: „Unsere Welt ist ein Desaster, wir gehen drauf, die Erde ist verkauft, Papa-Patriarcha-Raatatata.“
ArnoArial, Laima Adelaide, Maria Theresa Ullrich, Thomas Zehnle und Ollenixxe. Foto: thatswhatshesaeed
Die unterschiedlichen Stile und Sparten gleiten in der Regie von Daniela Victoria Kiesewetter zu einer bunten Revue zusammen. Die Württembergische Staatsoper füllt sich mit immer mehr Garderobe, Podesten, E-Gitarren, Drumsets, Mikrophonen, Verstärkern und Sitzgelegenheiten für alle Beteiligten, die nach ihren Auftritten auf der Bühne weiter tanzen oder sich auf Couch und Sesseln fläzen. Das Duo „Zweilaster“ steht mit clowneskem Lo-Fi-Garagen-Punkrock für antibürgerliche Gegenkultur. Ollenixxe und ArnoArial rebellieren rotzig gegen Repertoire und Etikette im ehrwürdigen Musentempel mit Fäkalsprache, knallroten Haaren, übergroßer Pumphose, verlottertem Brautkleid und obszönen Dessous. Ihr Song „Norma“ meint nicht Bellinis Oper, sondern den gleichnamigen Discounter, dessen Schnäppchenpreise man angesichts gestiegener Lebenshaltungskosten feiert: „Ich will zurück zur Norma…lität.“
„The Littmann-Sessions: eine Pop-Gala“ fand in der Staatsoper Stuttgart in Kooperation mit dem regionalen Pop-Büro und dessen aktuellen Pop-Stipendiat*innen statt. Dafür gab es neben künstlerischen auch kulturpolitische Gründe. Weil Opernhäuser mit Abstand die kostspieligsten Kultureinrichtungen von Städten und Ländern sind, müssen sie angesichts eines zunehmenden Legitimationsdrucks neue Angebote entwickeln, um die durch Migration, Globalisierung und Digitalisierung gewachsene Diversität von Musik, Musikschaffenden und Gesellschaft besser abzubilden, indem sie sich möglicherweise auch für andere Genres öffnen und idealerweise alle in der Bevölkerung vertretenen Altersgruppen, Herkünfte und Kulturen ansprechen. Zugleich soll sich Oper nicht dem Mainstream und Kommerz unterwerfen oder programmatisch beliebig werden.
In Stuttgart kommt hinzu, dass das vom Münchner Architekten Max Littmann von 1909 bis 1912 errichtete Königlich Württembergische Hoftheater umfassend renoviert werden muss. Als Ausweichquartier soll ausgerechnet jenes Wagenhallen-Gelände in Stuttgart-Nord dienen, auf dem einige Bands der lokalen Popszene ihre Studios haben. Freie „Subkultur“ wird dann durch staatliche „Hochkultur“ verdrängt. Um diesen Konflikt zu moderieren, braucht es die Solidarität zwischen Staatstheater und Popszene. „The Littmann-Sessions“ diente dabei als Good Will-Aktion und Werbeveranstaltung für das Interim. Angesichts der noch vor Maßnahmenbeginn bereits auf sagenhafte eine Milliarde Euro bezifferten Kosten muss die Oper Stuttgart vermitteln, dass das viele Geld der Breite der Öffentlichkeit zugutekommt.
Max Littmann hatte einst den Theaterbau reformiert, indem er den Zuschauerraum amphitheatralisch weitete und sanft ansteigen ließ, um möglichst überall für gute Sicht und Akustik zu sorgen. Zudem hatte er unkomplizierte Überdeckelungen des Orchestergrabens geschaffen, damit in der Oper auch Theater und Konzert stattfinden kann. Bei der Stuttgarter Pop-Gala war die Bühne folglich bis zur ersten Parkettreihe verlängert, so dass das Heavy-Metal-Trio „Die Nerven“ dem Auditorium mit seinem Exzess aus Tempo, Lautstärke, Noise, knallharten Drums und rückhaltlos ausgelebter Lust an Action und Krach bis an die Schmerzgrenze auf den Leib rücken konnte. Der spätfeudale Prachtbau zwang das Publikum indes wie ein Benimmkasten zum Sitzenbleiben. Denn an versenkbare Stuhlreihen für ungebremstes Feiern, Tanzen, Toben hatte der Architekt noch nicht gedacht. Vielleicht kommt das demnächst noch.
Rainer Nonnenmann |