Der Mensch und das Meer
„Peter Grimes“ in Gera · Von Tatjana Mehner
Was tut dieser Mann mit kleinen Jungs? Der Fischer Peter Grimes kehrt vom Fang zurück, den toten Lehrjungen in den Armen. Grimes ist von jeher ein Außenseiter. Als er sich einen neuen Lehrjungen nimmt, kann er gegen Argwohn und Ablehnung der Dorfgemeinschaft nichts mehr ausrichten. Das macht auch die aufkeimende Liebe zur Witwe Ellen Orford mehr und mehr unmöglich. Das große Thema von Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“ ist weniger tatsächliche Schuld als vielmehr die Frage, wie Gesellschaft Unsicherheit ausgrenzt.
Mächtiger Chor in „Peter Grimes“. Foto: Stephan Walzl
Ein Seelendrama in einem Seelenraum fordert bei Theater & Philharmonie Thüringen das Publikum. Die Ausstattung von Markus Meyer (Bühne) und Mathias Rümmler (Kostüme) verweigert dennoch nicht ein gewisses Lokalkolorit, das so stilisiert eine fantastische dramaturgische Eigendynamik entwickelt, sich quasi als Subtext lesen lässt. Das Meer, das das Leben der Menschen in dieser Oper so nachhaltig bestimmt, in seinem großen Entwurf wie im kleinen Alltäglichen, umgibt die Szenerie in gigantischen Prospekten. Verblüffend beleuchtet spiegelt es Stimmungen in wunderbar poetischen Effekten. Das Meer als große Projektionsfläche der menschlichen Seele trägt die Oper ebenso wie diese Inszenierung.
Benjamin Britten entwickelt in seinem Opernerstling Psychogramme, aus deren Ineinandergreifen sich musikdramatische Situationen entspinnen. Mit Blick auf sein späteres Werk ist es nicht verwunderlich, dass auch „Peter Grimes“ – wenn auch dezent – den Charakter eines Lehrstückes hat. Kay Kuntze trägt dem in der überaus geschlossenen Ästhetik seiner Inszenierung Rechnung, ohne Emotionalität komplett zu verweigern. Er findet Bilder von starker Symbolkraft – gleichzeitig unmittelbar und distanziert. Zeigen und Deuten greifen kongenial ineinander – ganz im Sinne des Erfinders.
Peter Grimes“ zählt wohl zu jenen Werken, die per se zeitlose Aktualität für sich gepachtet haben, weil sie von jenem Bedürfnis der menschlichen Gemeinschaft erzählen, das auf den eigenen Erhalt abzielend danach strebt, das Andersartige abzustoßen. Jener Sog ist das Thema, der die Masse mitreißt, wenn es gegen einen – aus welchen Gründen auch immer – abtrünnigen Einzelnen geht. Dass ausgerechnet ein Brite das am Ende des Zweiten Weltkriegs schreibt, ist bezeichnend. Die Musik: typisch Britten – gewiss. Anstrengend und eingängig zugleich, wuchtig und sinnlich sind diese Klänge und eben bemerkenswertes Dokument der Tatsache, dass der Einzelgänger Britten keinerlei Probleme mit avantgardistischem Schubladendenken hatte. Anleihen bei den verschiedensten Traditionen und Stilen prägen diese Partitur, die gerade daraus ihre fantastische Eigenwilligkeit zieht. Das zu rezipieren ist wirklich Arbeit – gerade, wenn es so weitestgehend überzeugend musiziert ist wie zu dieser Geraer Premiere. Generalmusikdirektor Laurent Wagner lenkt souverän die Klangwogen aus dem Orchestergraben, kostet die dynamischen Nuancen dieser Ausnahmepartitur quasi genussvoll aus und präsentiert sein Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera auf überzeugendem Niveau.
Was man vor allem braucht, um diese Oper auf die Bühne zu bringen, ist ein echter Peter Grimes. Und das ist der Engländer Jeff Stewart. Seine Stimme ist ideal für Brittens Musik. Obendrein kommt er aus einer Gesangskultur, die wir auf dem Kontinent untrennbar mit Benjamin Brittens Lebenspartner Peter Pears verbinden. Stewart ist überragend. Ein Grimes-Darsteller, der nichts zu wünschen übrig lässt in seiner Gestaltung einer Ausnahmepartie. An seiner Seite ist Anne Preuss eine überzeugende Ellen Orford. Zu einer bemerkenswert geschlossenen Gestaltung seiner Figur findet auch Johannes Beck als Balstrode. In einem soliden Ensemble agieren Chrysanthi Spitadi, Katie Bolding, Caterina Maier, Mark Bowman-Hester, Kai Wefer, Judith Christ, Saya Lee und Laurence Meikle, Kai-Uwe Fahnert sowie Wolfgang Albert als die prägenden Charaktere der Dorfgemeinschaft. Kevin Henkel berührt als John.
Nicht umsonst hört man immer wieder, dass der Chor der eigentliche Protagonist – vielleicht besser Antagonist des Helden – in dieser Oper sei. In Gera hat man den hauseigenen Opernchor für diese Produktion ausgiebig und professionell erweitert. Gut, überzeugend und rundum eindrucksvoll klingt, was Holger Krause mit seinem Ensemble einstudiert hat.
Anhaltender Beifall und stehende Ovationen am Ende eines gelungenen Premierenabends, der die Leistungsfähigkeit dieses Opernensembles aufs Eindrucksvollste unter Beweis stellt.
Tatjana Mehner
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