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Tomasz Kajdanski und sein „Revisor“ in Dessau

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Berichte

Zum Politikererweichen

Tomasz Kajdanski und sein „Revisor“ in Dessau · Von Vesna Mlakar

Besuch in Dessau-Roßlau, wo Tomasz Kaj-danski den offensichtlich falsch angelegten Daumenschrauben der Sparpolitiker Sachsen-Anhalts mit einer rasanten Umsetzung von Gogols Verwechslungskomödie „Der Revisor – Eine Stadt steht Kopf“ neuen Erfolgswind seiner Sparte entgegenwirbelt: in solch dynamischer, zwölfköpfiger Besetzung wohl bald zum letzten Mal! Vor 35 Jahren war Kaj-danski als junger Solist von Warschau nach Deutschland emigriert. Die Kultur, so sagt er, habe den Diktaturflüchtling damals gerettet. Im Tanz ausgelebt hat er sie zwischen Johann Kresnik und dem Ballett der Bayerischen Staatsoper. Es folgten Spartenchefposten in Rostock, Coburg, Kiel und Eisenach. Dass er nun gerade hier, in Deutschland, um deren Erhalt kämpfen muss, findet er krass.

Die Stadt liebt ihr 1.072 Plätze fassendes Theater, doch dem Land ist das egal. Die letzten fünf Jahre hat der Ballettchef Dessau-Roßlau neun gänzlich unterschiedliche Uraufführungen beschert, und sein (anfangs 14-köpfiges) Ensemble ist dabei von Stück zu Stück sichtlich mitgewachsen.

Sparen ist das Problem der Bewohner aus Gogols weltvergessener Provinzstadt nicht. Die nämlich vergnügen sich in einem Sumpf aus Veruntreuung, Schieberei und Amoral. Drei Kellnerinnen lassen lasziv ihre Kurven kreisen. Die beiden Gutsbesitzer (Thomas Ambrosini/Sokol Bida) – wie alle Mannsbilder des korrupten Orts in ihren bauschigen Fellhosen – protzen mit animalisch großen Sprüngen, bevor sie sich auf die Frauen stürzen. Vor den Toren der Stadt streifen zwielichtige Gestalten mit Hut und Koffer durch ein Labyrinth aus nebelverhangenen Birkenstämmen. Plakative Vergleiche will Choreograf Tomasz Kaj danski in seinem neuen Tanztheaterstück nicht ziehen. Lieber nutzt er die gesellschaftssatirische Komödie aus dem Jahr 1836 dazu, in einem unglaublichen Spieltempo die erstaunliche Typenvielfalt und Qualität seines kleinen Ensembles herauszustellen.

Nach kurzem Vorspiel gehen Kajdanskis „Revisor“-Darsteller – musikalisch mit einer Collage aus Film- und Ballettmusiken von Alfred Schnittke und Einschüben von Gundolf Nandico aufs Beste untermalt – gleich in medias res. Juan Pablo Lastras-Sanchez, eine der zentralen Persönlichkeiten der Compagnie, verkörpert athletisch-stürmisch die Rolle des Bürgermeisters, an dessen Seite Frau (rothaarig-schrill: Anna-Maria Ta-
sarz) und Tochter (verwöhnt-naiv: Charline Debons) wie zwei ungleiche Schmuckstücke glänzen. Als der vermeintliche Revisor in ihrem Haus Herberge bezieht, werfen beide sich dem eleganten Betrüger an den Hals. Eine choreografische Paradesequenz für das Trio, mit allerlei Anspielungen auch auf das klassische Formenvokabular. Die groteske Wohnzimmercharade endet in der Verlobung des liebesblinden Töchterchens mit dem Fremden: Joe Monaghan at his best.

Für die passende szenische Atmosphäre zeichnet einmal mehr Ausstatter Dorin Gal verantwortlich. Um Häuserfronten, ein Vergnügungslokal oder die gut-bürgerliche Stube zu suggerieren, genügen ihm wenige Stühle, ein rotes Sofa, ein Lüster und mobile transparente Wände. Kajdanski macht nach 75 Minuten kurzen Prozess mit der korrumpierten Gemeinde. Ein Lichtflackern später steht da – zweifelsohne ein Symbol! – ein kleiner Mann (Kajdanskis Sohn Piotr) an einen riesigen roten Stift gelehnt. Ein Bild zum Politikererweichen… Kämen sie denn mal, um eine der bedrohten Vorstellungen selbst zu sehen.

Mit einem ausverkauften Haus konnte Kajdanskis schmissige Adaption von Nikolai Gogols „Der Revisor“ am Premierentag urlaubsbedingt noch nicht punkten. Dafür mit einer grandiosen Riege Männer, von denen Kajdanski zum Ende der Spielzeit gleich drei ans Leipziger Ballett verliert: Dessau als Sprungbrett für junge Talente – Glück für Mario Schröder und für Jonathan Augereau, Joshua Swain und Enea Bakiu. Für den erfahrenen Ballettchef entspricht dieser Erfolg einem Desaster, denn keine der Stellen darf nachbesetzt werden. So startet Kaj-danski mit nur mehr acht Tänzern in seine vertragsletzte Saison! Für einen theatervollblütigen Geschichtenerzähler durchaus ein Handicap.

Vesna Mlakar

Tomasz Kajdanski: Wir brauchen die Kultur

Oper & Tanz: Will die Bevölkerung von Dessau-Roßlau weiterhin Ballett am Anhaltischen Theater sehen?
Tomasz Kajdanski: Das wollen nicht nur die Bewohner dieser Stadt, sondern von ganz Sachsen-Anhalt – so mein Eindruck. Die Leute hier wissen: Wir brauchen Kultur. Die Politik dagegen denkt: Da die Leute hier zunehmend älter werden, benötigen wir nicht mehr so viele kulturelle Institutionen. Politik scheint sich – leider – nur noch um Geld zu drehen. Menschen stehen im politischen Denken allzu oft nicht mehr im Vordergrund. Wir Künstler sind da anders. Die Menschen sind das Wichtigste. Und sie brauchen Kultur – gerade die Älteren, die schon immer den Hauptanteil der Zuschauer gestellt haben.

O&T: Sie leben seit 2009 in Sachsen-Anhalt. Ist seitdem das kulturelle Nutzungsverhalten des Theaterpublikums geringer geworden?
Kajdanski: Im Gegenteil. Ich sehe, dass die Leute in Sachsen-Anhalt Kultur mehr denn je wollen. Sie wollen Europäer sein. Was wir momentan erleben, ist eine leichtsinnige Sparpolitik – insbesondere im Hinblick auf das Erstarken politischer Splitterparteien, die bei den Enttäuschten fischen gehen. Die Gefahr ist eine Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung aufgrund dieser verantwortungslosen Sparpolitik. Auf dem Spiel stehen nicht Millionen, sondern die Seele vieler Menschen in Deutschland.

O&T: Ist das, was gerade geschieht, nicht ein völlig falsches Signal für die Entwicklungschancen und die Zukunft des gesamten Bundeslands Sachsen-Anhalt?
Kajdanski: Genau. Die gut ausgebildeten Jüngeren werden nichts Besseres tun können als das Land weiter scharenweise zu verlassen, weil das kulturelle Umfeld zunehmend verödet. Die Kommunen haben dieses Phänomen längst erkannt, die Landesregierung offenbar nicht. Die Stadt Dessau-Roßlau steht voll hinter uns; das Land tötet uns dagegen, indem es seinen ursprünglichen 50-Prozent-Zuschuss immer weiter herunterfährt.

O&T: Gerade die Tänzerinnen und Tänzer des Dessauer Ensembles könnten aufgrund ihrer Internationalität und bedingungslosen Hingabe ein positives Beispiel geben.
Kajdanski: Es geht in der momentanen Situation primär nicht um uns persönlich. Letztlich müssen wir auch an so etwas wie Generationengerechtigkeit denken. Bislang gab es die Möglichkeit, in der eigenen Stadt ins Theater zu gehen, um Oper, Schauspiel und Tanz zu erleben. Sollte unter das, was sich frühere Generationen trotz viel schlimmerer wirtschaftlicher Umstände geleistet haben, jetzt einfach ein Schlussstrich gezogen werden?! Ich möchte nicht in der Haut dessen stecken, der dies vor der deutschen und europäischen Kulturgeschichte zu verantworten hat.

Interview: Vesna Mlakar

 

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