
Grenzen und ihre Ambivalenz
Rainald Endraß im Gespräch mit Malve Gradinger
Rainald Endraß, neben Rafaële Giovanola Leiter der Compagnie Cocoondance in Bonn, hat gemeinsam mit seiner Partnerin und weiteren Tanzpädagogen das Projekt „Heinrich tanzt!“ in München betreut. Malve Gradinger sprach mit dem Künstler für „Oper & Tanz“.
Oper&Tanz: Herr Endraß, die Schüler und Schülerinnen des Heinrich-Heine-Gymnasiums erproben sich hier zum ersten Mal in einer Choreografie. Das heißt, sie lernen etwas über die Bewegung im eigenen Körper, im Raum und in der Gruppe. Da liegt es nahe, den Jugendlichen mit dem Motto „Grenzen“ Denkanstöße für dieses Bewegungsprojekt zu geben.

Rainald Endraß. Foto: Klaus Fröhlich
Rainald Endraß: Das Thema „Grenzen“ ist eigentlich ideal, nicht nur, weil den Schülern dazu ganz viel eingefallen ist. Sehr viel Kluges, zum Beispiel wie wichtig Grenzen sind. Sie haben das Thema auch in seiner ganzen Ambivalenz erfasst. Es gibt den Wunsch nach Grenze als Schutz, als Geborgenheit. Aber es gibt auch die Sehnsucht, die Grenzen zu überschreiten und eine Freiheit für sich einzufordern, die Elternhaus und Schule nicht zugestehen. Und diese ganze Ambivalenz dem Thema „Grenzen“ gegenüber versuchen wir, in diesem Stück zu erzählen.
O&T: Bei der Probe haben Schüler laut Gedanken zum Thema „Grenzen“ in den Saal gerufen. Zum Beispiel „Bei Mutproben muss ich wissen, wie weit ich gehe.“ Oder „Wenn ich unsicher bin, sage ich ‚stopp‘ – ich brauche meine Grenzen.“
Endraß: Das sind Texte, die die Schüler selber geschrieben haben. Das Aufregendste für mich war dabei, dass die Schüler verstanden haben, dass man „Grenze“ als innere Grenze definieren kann. Und dass das bedeutet: Wenn etwas nicht klappt, dann bist du selber verantwortlich. Denn nach der neoliberalen Theorie „Jeder kann, wenn er nur will“ kannst du die Grenze im Kopf überwinden. Aber die Schüler haben auch die Kehrseite der Medaille verstanden: dass man dann Verletzungen riskiert. Dass man auch psychisch abstürzen, in ein Loch fallen kann. Und die Ängste, Eigen-
erkenntnisse, Selbstkritik und Kritik, die sie für sich formuliert haben, dürfen sie ins Publikum hinausschreien.
O&T: Das hat sicher eine befreiende Wirkung... Aber Kritik an was? An auferlegten Regeln, an gesellschaftlichen Forderungen?
Endraß: Ihre Kritik hat sich vor allem an dem Thema „Sport und körperliche Verausgabung“ kristallisiert. Ohne von uns gelenkt worden zu sein, haben die Schüler über Muskelüberdehnung, Überanstrengung, über „Burnout“, Depressionen, Zusammenbruch gesprochen. Da frage ich mich: Wieso kommen die bei so einem Projekt auf Gedanken wie Überanstrengung? Für mich heißt das, dass diese jungen Menschen, die damit beschäftigt sind, ihren Platz im Leben zu finden, durchaus schon den Druck spüren, unter dem wir Erwachsenen stehen: Globalisierung, Mobilität, Flexibilität, Ausdauer, Leistungssteigerung – Parameter, die uns durch die allgegenwärtigen Medien regelrecht eingeimpft werden. Dieser Leistungsdruck wird meiner Meinung nach sehr stark am Profifußball, überhaupt an Profi-Sportarten sichtbar. Selbst große Talente, Stars begeben sich heute in psychiatrische Behandlung – ein Phänomen, das es früher im Sport nicht gab.
O&T: Wie haben Sie das „Grenzen“-Thema szenisch umgesetzt?
Endraß: Ein Beispiel: Es gibt eine Gruppe, die als „Hausmeister“ agiert. Das sind im weitesten Sinn Menschen, die das Bedürfnis repräsentieren, Sauberkeit und Ordnung zu schaffen. Im Grunde haben wir Menschen ja alle diese Sehnsucht in uns, dass unser Leben endlich mal eine Ordnung findet. Und dann gibt es die „Springer“, die über die Absperrbänder der „Hausmeister“ einfach drüberspringen. Und dieses Grenzen-Überspringen ist dann auch ein Bild für überbordende frei gelassene jugendliche Energie. Jugendliche sausen ja gerne im Galopp Treppen hinunter, in manchen Großstädten springen sie von Dach zu Dach... In unserem Stück ist durchgehend diese Ambivalenz zwischen Grenzen-Setzen und Grenzen-Überwinden präsent.
O&T: Simone Schulte von „Tanz und Schule“ (TuSch) und ihre Partnerin Andrea Marton sind in Schulprojekten erfahren. Mit Beginn des von der Bundeskulturstiftung 2006 initiierten „Tanzplan Deutschland“ (TPD) wurde TuSch im Rahmen des Münchner TPD-Modells „Access to Dance“ gefördert und kooperiert seitdem mit dem Staatsballett. Es waren der Schulleiter und zwei Lehrer des Heinrich- Heine-Gymnasiums, Neuperlach, die sich vor gut einem Jahr bei TuSch gemeldet hatten, mit dem Wunsch nach einem Großprojekt für die 8. Klassen. Ziel von TuSch ist es, möglichst allen Kindern, nicht nur den Geneigten, einen Zugang zu Kunst, Theater und Kultur zu eröffnen. Gab es zwischen Ihnen und Schulte einen gedanklichen Austausch?
Endraß: Wir haben natürlich immer wieder gemeinsam mit Simone Schulte und den Mitgliedern des Projektteams gesprochen, überlegt, was wir aus dieser Erfahrung gelernt haben. Und man lernt ständig dazu, lernt auch von den Schülern. Es gibt keine fertigen Rezepte. Im Grunde betreten wir Neuland. Man darf aber keine Angst, keine Scheu haben, Sachen ganz einfach auszuprobieren.
O&T: Bettina Wagner-Bergelt, die immer auf der Suche nach Choreografen für ihre „Campus“-Schulprojekte ist, hat Ihre Cocoondance-Compagnie und Ihre Kulturarbeit in Bonn kennengelernt und Sie nach München geholt. Wie kamen Sie ursprünglich zu diesen pädagogischen Aufgaben?
Endraß: Wie die Jungfrau zum Kinde eigentlich. Eine leidenschaftliche Lehrerin hat uns 2006 angesprochen, ob wir uns ein gemeinsames Schulprojekt vorstellen könnten. Meine Frau Rafaële und ich hatten damals keine einschlägige Vorerfahrung mit Schülern und haben es aus dem Bauchgefühl heraus, aus unserer künstlerischen Erfahrung gemacht. Das Gelingen steht und fällt aber mit den Lehrern, mit deren Engagement. Meine Frau hat damals – und übrigens auch hier in München – mit den Schülern genauso gearbeitet, wie mit professionellen Tänzern. Das hat hervorragend funktioniert. Jetzt gehören wir zu den zwölf Institutionen, die über das Programm „Tanzfonds Partner“ der Kulturstiftung des Bundes zwei Jahre gefördert werden. Wir sind da die einzige freie Compagnie, was uns schon ein bisschen stolz macht. Wir finden es total wichtig, dass es Künstler sind, die ihre Erfahrung den Schülern vermitteln, und nicht – was typisch ist für Deutschland –, dass wieder Pädagogen und Spezialpädagogen eingesetzt werden.
O&T: Umreißen Sie kurz Ihre spezielle Erfahrung, sprich Ihre Vorgeschichte?
Endraß: Seit 2006 sind wir intensiv in der kulturellen Bildung engagiert. Und sie befruchtet die künstlerische Arbeit für unsere freie Cocoondance in Bonn. Wir kommen ursprünglich aus dem Stadttheater. Rafaële hat eine klassische Ballettausbildung, hat dann bei William Forsythe in seinen ersten wichtigen acht Frankfurter Jahren getanzt. Ich war Dramaturg am Schauspiel Frankfurt. Danach waren wir zwölf Jahre bei Pavel Mikulastik in Freiburg und in Bonn am Stadttheater.
O&T: Rafaële Giovanola war „Mikulastiks Muse“, schrieb eine Kollegin in einem Cocoondance-Porträt. 2003 holte der neue Bonner Intendant Klaus Weise Johann Kresnik für die Sparte Tanztheater. Einerseits für Sie ein Schock, andererseits auch eine Chance. Sie haben sich dann selbständig gemacht. Ihre Cocoondance bestand ja schon seit 2000. Und seitdem gastieren Sie weltweit zwischen Avignon und Zagreb, zwischen China und Südamerika.
Endraß: Wir hatten tatsächlich das Glück, dass die Stadt Bonn uns anbot, das Theater im Ballsaal zu übernehmen, ein freies Theaterhaus, das wir mit einem Schauspielensemble teilen. Wir haben dort absolute künstlerische Freiheit. Wir machen Residenz-Programme, Audience-Development-Programme und kulturelle Bildungsprojekte. Und wir haben unsere freie Compagnie Cocoondance. Das sind ganz verschiedene Baustellen, die sich aber wunderbar gegenseitig befruchten. Und wenn unsere Tänzer in Bonn sind, dann arbeiten sie auch mit den Kindern und Jugendlichen. Die freie Szene wird ja oft nur als Durchlauferhitzer benutzt. Es gibt keine Entwicklung, keine Nachhaltigkeit. Jeder lebt von der Hand in den Mund, von einem Projekt zum nächsten. Wir haben in Bonn die Möglichkeit, die verschiedenen Baustellen und Projekte miteinander zu vernetzen. Das ist eine einmalige Chance, auf diese Weise wirklich auf eine Nachhaltigkeit hinzuarbeiten.
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