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Mit den Schülern auf Augenhöhe
Reportage über ein Tanzeducation-Projekt · Von Malve Gradinger
Lernen, aber anders als in der Schule – dieser Gedanke steht hinter den „Campus“-Aktionen des Bayerischen Staatsballetts. Das Projekt „Anna tanzt!“ mit Schülern des Münchner St. Anna Gymnasiums war über sechs Jahre hinweg so erfolgreich, dass es jetzt mit dem Heinrich-Heine-Gymnasium München-Neuperlach unter dem Titel „Heinrich tanzt!“ fortgeschrieben wird.

Hausmeister und Grenzüberschreiter in der Reithalle. Foto: Franz Kimmel
Wie schon bei dem „Anna“-Vorläufer hat Staatsballett-Dramaturgin Bettina Wagner-Bergelt das Konzept entworfen. Für die Choreografie holte sie diesmal zwei Profis aus Bonn: Die Leiter von Cocoondance Rafaële Giovanola und Rainald Endraß (s. auch Interview auf der folgenden Seite) – sie Ex-Forsythe-Tänzerin und Choreografin, er Dramaturg – konnten neben ihrer Arbeit in der freien Tanz-Compagnie seit 2004 breite Erfahrung mit Kulturprojekten sammeln.
„Grenzen“ schien ihnen ein jugendgerechtes assoziationsreiches Thema zu sein. Was sie dazu mit 135 Schülerinnen und Schülern des 8. Jahrgangs – 15 davon sind „Gäste“ vom St. Anna Gymnasium – erarbeitet haben, war im Sommer 2012 in der Münchner Reithalle zu sehen. Für die vier Vorstellungen wurde Attacca, das Jugendorchester des Bayerischen Staatsorchesters unter Allan Bergius, gewonnen. Ein Besuch der Endproben erlaubte Einblicke in die Arbeit des sechsköpfigen Projektstabs mit den Schülern.
Wuselige Schulhofatmosphäre
„Es wird anstrengend“, war ich von Simone Schulte, der Leiterin von „Tanz und Schule e.V.“, vorgewarnt worden. Kein falscher Alarm. Schon in der Lobby des großzügigen Staatsballett-Probengebäudes am Platzl 7, direkt neben dem Münchner Hofbräuhaus, ist das quirlige junge Stimmendurcheinander zu hören. Im großen, vom Schwitzen schon dampfigen Heinz-Bosl-Ballettsaal dann eine lärmige, aber entspannte Schulhofatmosphäre. Rundum im Saal Schüler in Wartestellung. Andere probieren in der Saalmitte ihre Schrittfolgen, angefeuert von Ex-Staatsballett-Tänzer und Pädagogen Peter Jolesch, der mit lautem Zählen Takt und Achter-Phrasen markiert. Als engagierter „Animateur“ macht er auch meistens die Bewegung vor und führt Reihen von Schülern an der Spitze an, wenn die Choreografie in den Raum geht.

Proben zu „Heinrich tanzt!“. Foto: Franz Kimmel
Zum letzten Mal proben hier die Achtklässler des Neuperlacher Heinrich-Heine-Gymnasiums im Staatsballett-Domizil – vor der Premiere in der Münchner Reithalle. Noch wirkt die große Ensemble-Schlussformation ein bisschen wuselig. Verständlich: Für dieses „Heinrich tanzt!“-Projekt mit immerhin 135 Mädchen und Jungen ist die Probenzeit eigentlich zu kurz – mit nur 4 Tagen im Februar und zweieinhalb Wochen im Juli, wenn auch jeweils 6 Stunden am Tag. Man braucht ja schon ein Stück Zeit, um überhaupt erst einmal ein Interesse am Tanz zu wecken. Denn hier machen nicht nur Tanzinteressierte mit, sondern, auf Wunsch der Schule, geschlossene Klassen. Dass da auch manch einer lieber Fußball spielen möchte, ist den Trainern und Coaches sehr wohl bewusst.
Tanzen – auch für Jungen
Bei den Mädchen braucht es meist keine Überzeugungsarbeit. Von den beiden Freundinnen, die der Besucherin mit dem Mikrofon gerne Auskunft geben, nimmt die eine schon länger privat Tanzunterricht. Und beide beteuern: „Wir wussten eigentlich schon, dass es sehr schön wird – und es macht auch viel Spaß. Die Tanzschritte sind eigentlich alle ziemlich leicht. Deswegen begreift man auch schnell, was man tun muss.“
Ob der 14-jährige Philipp Stetter einmal Tanzunterricht nehmen wird, steht in den Sternen. Aber so, wie er sich in die Proben wirft, wie er sich artikuliert, wird er von dieser Arbeit für seine persönliche Entwicklung profitieren: „Für mich ist es das erste Tanzen überhaupt. Am Anfang wusste ich auch nicht so ganz, was ich mir darunter vorstellen sollte. Aber nach ein, zwei Tagen hat man schon gesehen, wie es hier läuft mit dem Aufwärmtraining. Eine halbe Stunde laufen wir im Kreis herum und machen Dehnübungen. Und danach fangen wir schon mit den Choreografien an. Das sind einstudierte kleine Geschichten. Zum Teil ist es schwierig, sich auf die ungewohnten Schritte einzustellen. Man muss eben sehr viel üben... Ich hab mir Tanzen eigentlich ganz anders vorgestellt. Wir klatschen auch dazwischen oder schnipsen mit den Fingern. Und was ich sehr schön finde, ist, dass wir diese Choreografien selber machen.“
Eine eigene Kraft
Das eigene Denken bei den Schülern zu fördern, sie zu Kreativität zu ermutigen, ist das Arbeitsprinzip von Rafaële Giovanola. „Ich versuche, mit den Schülern auf Augenhöhe zu arbeiten, so wie mit meinen Tänzern“, sagt sie. „Ich gebe ihnen die gleichen Aufgabenstellungen. Ich lasse sie improvisieren und nehme fast das ganze von ihnen selbst gefundene Material. Wir geben also sehr, sehr wenig vor – das versuchen wir zumindest. In der Kürze der Probenzeit war das schon etwas stressig. Aber die Kids haben es trotzdem geschafft, das Erarbeitete als ihr Stück zu verstehen. Und es auch so darzustellen. Und das sieht man. Das hat eine eigene Kraft.“
Wer sich die – soweit man davon reden kann – „tänzerischen Ergebnisse“ anschaut, ohne zu wissen, wie schwierig, wie pädagogisch mühevoll eine solche Unternehmung ist, der wird natürlich enttäuscht sein. Die Jugendlichen sind bei einfachen funky Bewegungen, wie man sie aus Jazz-Grundkursen oder auch aus der Disco kennt, im Raum verteilt aufgestellt. Sie formen Kreise und sammeln sich zu dichten Pulks. Es gibt kleine halb erzählerische Szenen, wie zum Beispiel zwischen einem Aggressor und einem verängstigten Opfer. Insgesamt ergibt sich daraus eine Laien-Performance auf formal zwangsläufig niedrigem Niveau. Aber es geht hier gar nicht um das Endergebnis – wie wichtig es auch für die Schüler und ihre Zuschauer-Eltern sein mag –, sondern um einen Arbeitsprozess, der für die Mitwirkenden fruchtbar sein kann.
Peter Jolesch, neben Tänzern und Assistenten der Cocoon Compagnie, des Staatsballetts und des Vereins „Tanz und Schule“ einer der erfahrensten Pädagogen im Team – er hat auch „Anna tanzt!“ betreut –, fasst das Projektanliegen sehr gut zusammen: „Das ist oft die Gefahr, dass man als Tänzer natürlich glaubt: Sich zu bewegen ist das Selbstverständlichste der Welt. Da muss man sehr zurückfahren und sehr vorsichtig sein, um niemanden zu verletzen. Es gibt ja auch Schüler, die sich genieren. Bei dem Ganzen geht es doch darum, dass man eben keine Tänzer aus den Schülern machen will. Es geht darum, dass man lernt, sich zu überwinden, dass man eine Eigendisziplin entwickelt, die man im Leben später ja auch braucht.“
Malve Gradinger
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