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Wandlungsfähig und anspruchsvoll
Der Staatsopernchor Hannover · Ein Porträt von Frank Domnick
Als die Sängerinnen und Sänger des Hannoverschen Staatsopernchores den Chorsaal verlassen, haben einige noch Melodien von Schostakowitsch oder Strawinsky auf den Lippen. Andere murmeln einzelne Worte in russischer Sprache. „Lady Macbeth von Mzensk“ und „Les Noces“ werden im Herbst 2012 auf dem Spielplan stehen. „Eugen Onegin“ folgt ebenfalls in russischer Sprache im Frühjahr. 55 Chorsängerinnen und -sänger repräsentieren insgesamt 13 Nationen. Der russische Tenor Vladimir Slobinov steht den Kollegen in diesen Tagen bei der Erarbeitung des Textes besonders hilfreich zur Seite, so dass die konsonantenreiche Sprache in den zahlreichen Presti flüssig über die Zunge kommt. Der Staatsopernchor Hannover ist im Spielplan jeder Saison in sechs bis acht Premieren, zahlreiche Wiederaufnahmen und Repertoirestücke eingebunden. Chordirektor ist Dan Ratiu, aufgewachsen in einer rumänischen Musikerfamilie; er ist für die Einstudierung verantwortlich, vertritt den Dirigenten bei szenischen Proben und leitet auch den Extra- und Kinderchor.
Damals und heute
Im Jahre 1689 war mit dem Barocktheater im Leineschloss das erste Opernhaus Hannovers mit 1.300 Plätzen entstanden. Es galt als das größte und beste seiner Zeit. 1710 wurde Georg Friedrich Händel Kapellmeister der Königlichen Hofkapelle, hielt sich aber in den Folgejahren mehr in England als in der Leinestadt auf. Später wurde sein Dienstherr, Kurfürst Georg, König von England; 123 Jahre wurden daraufhin England und Hannover in Personalunion regiert. Als Herzog Ernst-August als König von England nach Hannover kam, ließ er dort ein neues Opernhaus bauen, das 1852 eröffnet wurde. 50 Chorsängerinnen und -sänger interpretierten das damals zeitgenössische Repertoire eines Heinrich Marschner und Richard Wagner. Und noch heute ist das repräsentative Gebäude in der Innenstadt der Ort, an dem zeitgenössisches wie „historisches“ Musiktheater seine Heimat hat.

Individuelle Rollen sind bei den Chorsängern durchaus beliebt – ebenso wie viele von ihnen auch das Genre der Operette und der Komischen Oper lieben. Hier: „Il viaggio a Reims“ mit Mareike Morr, Marek Durka, Ania Vegry, Young Myoung Kwon und dem Chor. Foto: Jörg Landsberg
Vieles hat sich seitdem verändert. Heute kommen Regisseure unter anderem nach Hannover, weil sie im Staatsopernchor einen neugierigen Partner für ihr „bewegendes“ Regiekonzept finden. Das Opernklischee – Kommen, Stehen, Singen, Abgehen – ist längst überwunden. Von durchchoreografierten Chorpartien über kurze Sprints und Verfolgungsjagden, halbstündigem Sich-Schlafenstellen bis zum (freiwilligen) Baden in der Sintflut haben die Sänger schon viel erlebt und mitgemacht. Sie unterscheiden in Zeiten des modernen Regietheaters sehr genau zwischen Effekthascherei und dem, was in der Darstellung menschlichen Dramas überzeugend szenisch entstehen kann. Die Individualisierung der Chorsänger, die Zuteilung einzelner Rollen wird neben der Kollektivdarstellung sehr geschätzt. Unbefriedigend wird es für den Chor aber dann, wenn neben der Szene auch Kostüme und Kopfbedeckungen die Erfordernisse des Sängers unberücksichtigt lassen und auf Kosten der musikalischen Detailgenauigkeit und Klangnuancierung durchgesetzt werden. So ist der Opernchor neugieriger Partner, interessiert an der künstlerischen Kommunikation; er erfragt und hinterfragt die Anweisungen des Regieteams.
Es war vielleicht genau die richtige Mischung aus Vertrauen, Kommunikation und der Bereitschaft, Neues auszuprobieren, mit der der Opernchor Hannover große überregionale Erfolge feiern konnte. In den letzten Jahren gehörten dazu unter anderem die Werke von Luigi Nono „Al gran sole carico d’amore“ und „Intolleranza 1960“ unter der Regie von Peter Konwitschny und Benedikt von Peter. Als Hauptdarsteller in „Intolleranza“ stand der Chor gemeinsam mit den Zuschauern bei geschlossenem eisernen Vorhang auf der Bühne des Opernhauses, lag ihnen stellenweise zu Füßen oder sang vor, neben oder hinter ihnen. Für viele eine „irre Erfahrung“. Absolut schwierige, aber auch äußerst berührende Momente erlebten die Chorsänger auch in David Mouchtar-Samorais „Billy Budd“, Barrie Koskys „Peter Grimes“ und „Aus einem Totenhaus“ und nicht zu vergessen Ingo Kerkhofs „Orfeo“. Lohn der Arbeit ist der in den letzten Jahren zweimal an die Staatsoper Hannover verliehene Regiepreis „Der Faust“ für die beste Inszenierung; der Staatsopernchor war an beiden ausgezeichneten Produktionen maßgeblich beteiligt. Mehrfachnennungen des Chores durch Kritiker der Fachzeitschrift „Opernwelt“ kommen hinzu.

Oben: Opernchor und Publikum vermischen sich bei der „Intolleranza“. Foto: Thomas M. Jauk
Da wundert es nicht, dass die Pläne von Benedikt von Peter im Konzeptionsgespräch zur „Traviata“, seiner zweiten Regiearbeit in Hannover, bei den Chorsängern zunächst auf Unverständnis stießen: Er kündigte an, er werde den Opernchor in den szenischen Hintergrund setzen. Die Einstellung dazu hat sich allerdings geändert. „Wir singen die ganze Chorpartie nur vom Zuschauerrang oder aus dem Foyer. Dieser Abend gehört einfach der Kollegin Nicole Chevalier in der Titelrolle“, ist Chorinspektor Martin Kreilkamp vom Konzept des Regisseurs mittlerweile überzeugt und gönnt wie seine Kollegen der Darstellerin der Traviata eine One-Woman-Show, die stets mit frenetischem Beifall im ausverkauften Haus endet.
Kein Problem hat der Staatsopernchor mit dem Genre Operette und Musical – im Gegenteil. Mögen andere große Kollektive ihren Status als seriöser Opernchor gefährdet sehen, so freuen sich viele Kollegen in Hannover geradezu auf vertrackte Beinschwünge in den äußerst humorvollen Produktionen von Matthias Davids und Bernd Mottl, wie „Im Weißen Rössl“, „My Fair Lady“, „Guys and Dolls“, „Lady in the Dark“, „Kiss me, Kate“ und die komische Oper „Il viaggio a Reims“.
Hoher künstlerischer Anspruch
Auch hinter verschlossenen Türen herrscht in der Chorgemeinschaft eine konstruktive Atmosphäre. „Trotz aller unterschiedlichen Sichtweisen sind wir ein wirklich gutes Team. Auch bei uns gibt es manchmal Reibereien, doch wenn es darauf ankommt, ziehen wir an einem Strang“, beschreibt Chorvorstand Daniela Butina das Miteinander: „Wir sind ein Chor mit großem künstlerischem Anspruch. Manchmal führt man uns an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit. Manchmal müssen wir uns die Umsetzung unseres Anspruchs allerdings auch erkämpfen.“
Die neu engagierten Mitglieder des Opernchores fühlen sich in der Gemeinschaft schnell wohl. Ihre Eindrücke sind fast durchgehend positiv, auch im Hinblick auf das Leben in Hannover. So mancher kann den schlechten Ruf der Stadt nicht verstehen, zumal es eine absolut grüne Stadt ist, die extrem viele Annehmlichkeiten bietet. Viele Mitglieder des Staatsopernchores engagieren sich neben ihrer Chorarbeit. Kleinere Soloaufgaben, die Übernahme von kleinen und mittleren Partien gehören ebenso dazu, wie die Betriebsrats-, Vorstands- und Chorinspektorentätigkeit. Ein Kollege ist Revisor der VdO. Zwei Chorsänger führen in ihrer Freizeit Zuschauergruppen und Vereine mit großem Enthusiasmus durch das Opernhaus und haben den einen oder anderen Opernfremdling zu einem Vorstellungsbesuch überreden können. Auch zu Veranstaltungen wie dem Opernball findet sich ein Sängerensemble, das dort mal ein ganz anderes Repertoire vorstellt.
Damoklesschwert Stellenabbau
Rigide Sparmaßnahmen des Ministeriums oder auch hausinterne vertragliche Veränderungen haben dem Staatsopernchor im Laufe der Zeit erhebliche und nicht zu ersetzende Personalverluste beschert. „Für ein Eins-a-Haus und eine derart große Bühne sind wir mit 55 Chorsängerinnen und -sängern am absoluten Minimum angekommen, um die Qualität und die Durchsetzungskraft im großen Repertoire zu gewährleisten“, warnt die VdO-Ortsdelegierte Nathalie Lampe-Seegers. Tatsächlich haben die Kürzungen der letzten Jahre zehn wichtige Stellen gekostet. Und die Unsicherheit bleibt. Der Stellenabbau ist das Damoklesschwert, das über den Köpfen der Chorsänger immer mal wieder ins Schwingen gerät, wenn Haushaltsdebatten geführt werden. „Politiker halten flammende Reden darüber, wie wichtig die Kunst sei. Und kaum drehen sie sich um, denken sie ans Sparen. Nach dem Motto: Was kümmert mich das Geschwätz von gestern“, erbost sich Bariton Hans-Peter Prahst.
In Hannover hat es der Opernchor aber immer wieder geschafft, sich durch Kompromisse ein stetiges Miteinander mit der Geschäftsleitung zu erarbeiten. Chorvorstand und Chordirektion sind im ständigen Dialog; das ermöglicht den Einblick in die relativ genaue und langfristige Planung von Vorstellungen und Proben. Dadurch ist das Planen des Privatlebens viel leichter als in manch anderen Theatern.
Kritische Worte findet man im Opernchor Hannover zur deutschen Nachwuchssituation. Zwar präsentierte Intendant Michael Klügl bei der Eröffnung der Spielzeit 2012/2013 stolz die Zusammenarbeit mit der hiesigen Musikhochschule und den erfolgreichen Ausbau der Sparte „Junge Oper“. „Doch der deutsche Nachwuchs für den Chor bleibt aus. Hier klappt es mit der Zusammenarbeit überhaupt nicht. Alle streben zum Solistenberuf. Es sei ihnen gegönnt. Doch bevor sich Studenten auf eine Chorvakanz bewerben, geben sie lieber Gesangsunterricht. Diese mentale Blockade ist wie eingemeißelt. Trotz der vielen Vorteile, die der Beruf Opernchorsänger zu bieten hat, wird er in vielen Köpfen gar nicht erst in Erwägung gezogen. Das ist schon bitter. Und die alte Mär, dass man sich mit dem Chorsingen die Stimme kaputt macht, ist absoluter Quatsch“, kritisieren zwei Kollegen die Einstellung vieler Studierender und Professoren. Sie wissen es, denn sie haben selber an der hiesigen Musikhochschule studiert.
Harmonischer Feierabend
Die Chorsänger sind gut gelaunt, denn nach der musikalischen Probe treffen sich fast alle zu einem Umtrunk in der Damengarderobe. Russische Silben und Melodien werden beiseitegeschoben, denn jetzt gibt es ein kräftiges „Happy Birthday“ für eine Kollegin. Man singt Englisch – und das recht harmonisch.
Frank Domnick |