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Ambitioniertes Programm
Der neue Intendant in Regensburg, Jens Neundorff · Von Juan Martin Koch
Orpheus schwächelt. Schlaff sitzt er in seiner Künstlernische, kritzelt ab und zu ein paar Noten aufs Papier, doch keiner nimmt Notiz von ihm. Dem Gluckschen „Orfeo“ die Kantate „Der neue Orpheus“ von Kurt Weill als Prolog voranzustellen, erweist sich in der ersten Opernproduktion unter dem neuen Regensburger Intendanten Jens Neundorff von Enzberg als großer Wurf. Ivan Golls zwischen Großstadtpoesie und Entzauberung der mythischen Figur changierender Text und Weills ebenso schillernde Musik verschieben die Sichtachse auf den Klassiker in wohltuender Weise.

Jens Neundorff. Foto: Juan Martin Koch
Regisseur Peter Lund belässt die Verbindung zu Glucks unmittelbar sich anschließender Oper in einem anregenden Schwebezustand. Die Zäsur, die sich durch die Pause vor dem kurzen dritten Akt ergibt, macht in Lunds Regiekonzept Sinn, denn nunmehr rückt der Aspekt seiner Interpretation des Stoffes in den Vordergrund, der Euridice als Opfer eines gefühlskalten Ehepartners umdeutet. Orpheus’ Unfähigkeit sich ihr zuzuwenden treibt sie in den Selbstmord; seine Reue und sein Entschluss, sich dem Götter-Gebot zu widersetzen, kommt zu spät, ehe Amor dem dys-funktionalen Ehepaar dann doch eine zweite Chance zugesteht.
Wichtige Rolle in der Stadt
Das szenische und – mit gewissen Abstrichen – auch das musikalische Niveau dieser umjubelten, ebenso sinnlichen wie intelligenten Produktion, die mit der Regielegende Peter Konwitschny einen prominenten Premieren-Zuschauer hatte, ist der Maßstab, an dem man Jens Neundorff von Enzbergs Intendanz künftig messen darf. Der fühlt sich nach eigenem Bekunden schon ein gutes Stück weit in Regensburg angekommen. Im Gespräch mit Oper & Tanz stellt er fest: „Man merkt, dass das Theater eine wichtige Rolle in der Stadt spielt, und das heißt, dass es identitätsstiftend sein kann, möglicherweise sogar identitätsbildend.“ In seinem ersten Regensburger Opernspielplan will er von Purcell über Verdi, Kalmán und Janácek bis zu Bernstein und Ludger Vollmer die ganze Bandbreite des Repertoires abdecken, einschließlich eines klaren Bekenntnisses zum Zeitgenössischen: „Zum großen Spektrum gehört natürlich die Gegenwart – die Zukunft kann nur darin bestehen, dass wir in der Gegenwart etwas dafür tun. Wir können ja nicht nur anachronistisch von den alten Werken leben.“ Was „Lola rennt“ betrifft, das Werk, das Ludger Vollmer für Regensburg schreibt (Uraufführung am 28. Februar), so setzt Neundorff nicht auf den Kino-Effekt: „Ausgangspunkt dieses Stoffes war nicht der Film, es war das Thema Zeit, mit dem wir uns in dieser Spielzeit aus verschiedenen Blickwinkeln beschäftigen. Zusammen mit Ludger Vollmer haben wir überlegt, wo uns in der jüngeren Vergangenheit ein zeitgemäßer, interessanter musiktheatralischer Stoff im Umgang mit Zeit begegnet ist, und das war ‚Lola rennt‘.“
Der Regensburger Intendant, der zuvor als Operndirektor und Musiktheaterdramaturg am Staatstheater Braunschweig tätig war, nimmt aus seiner Zeit als Leiter der experimentellen Musiktheaterreihe „bonn chance!“ Partnerschaften mit vielen zeitgenössischen Komponisten mit, gleichzeitig schränkt er ein: „Hier in Regensburg muss ich das anders dosieren, weil ich gar nicht die Möglichkeit habe, einen eigenen Spielort einzurichten, der explizit für experimentelle Musiktheaterformen geeignet ist.“
In Sachen Tanztheater freut sich Neundorff vor allem darauf, wie der neue Ballettchef Yuki Mori sich mit Richard Wagner auseinandersetzen wird („Ich, Wagner. Sehnsucht!“, 26. Januar): „Als Asiate geht er einerseits mit höchstem Respekt an das Thema heran, andererseits mit einer, nennen wir es ‚intellektuellen Naivität‘. Mori sucht sich bestimmte Aspekte heraus, die für ihn interessant sind, und das sind andere, als wenn wir das als Europäer machen würden, die wir mit Wagner sozialisiert wurden.“
Auf den für ein Haus dieser Größe üppigen Spielplan und die Gefahr einer Überlastung des Ensembles angesprochen reagiert Neundorff problembewusst, aber gelassen: Eine Zahl von 27 Premieren sei sehr ambitioniert, gehe aber nach seiner Einschätzung nicht über die Möglichkeiten des Hauses hinaus. „Natürlich können wir nicht hintereinander ‚Lohengrin‘, ‚Elektra‘, ‚Salome‘ und ‚Turandot‘ spielen, es ist eine Frage der Spielplangestaltung.“
Polemik ohne Wirkung
Schließlich kommt das Gespräch auf die Diskussion rund um das Buch „Kulturinfarkt“, in der sich Neundorff zu Wort gemeldet hatte. Sein Fazit ist ernüchternd: „Positiv gesprochen ist es nur bei einer Polemik geblieben, negativ gesprochen hat es nichts bewirkt, es ist keine Diskussion angestoßen worden.“ Und doch, oder gerade deshalb, münden seine Überlegungen in ein Plädoyer: „Wir sind in der Verantwortung, darüber nachzudenken, was uns im Theater am Leben hält und wie Theater eine Zukunft haben kann. Und das hat wiederum etwas mit Zeitgenossenschaft zu tun. Was sind die Texte, die Themen die uns heute interessieren? Wenn das Theater sich auf das beruft, was es kann, nämlich live Geschichten zu erzählen und zu interpretieren, dann hat es hoffentlich noch lange eine Chance zu überleben.“
Sollte sich des Intendanten Enthusiasmus weiterhin auf die Bühne übertragen, so darf sich das Regensburger Publikum auf spannende Jahre freuen.
Juan Martin Koch
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