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Berichte

Würdigung eines großen Meisters

Henzes „We come to the river“ in Dresden · Von Martin Morgenstern

Vor einem halben Jahrhundert hörte das Dresdner Publikum erstmals ein Werk des jungen Komponisten Hans Werner Henze. Nun sollte der inzwischen 86-jährige Henze ein Jahr lang als „Capell-Compositeur“ in Dresden fungieren. Sein Tod hat die Vorzeichen zu diesen Plänen verändert. Die Premiere seines Musiktheaterwerks „Wir erreichen den Fluss...“ im September in der Semperoper durfte der Komponist aber noch erleben. Und der Henze-Schwerpunkt in Dresden, den die ebenfalls verstorbene Intendantin Ulrike Hessler noch geplant hatte, wird die ganze Spielzeit begleiten.
Das Licht, das Klima hatten es ihm angetan. Seit fast sechzig Jahren lebte Hans Werner Henze in Italien. Aber ein Erzählfaden seiner Biografie reicht auch nach „Elbflorenz“. Vor einem halben Jahrhundert dirigierte Otmar Suitner erstmals für das Dresdner Publikum Henzes „Des Kaisers Nachtigall“ und die „Fünf neapolitanischen Lieder“. Bis 1968 blieb der Komponist in den Konzerten der Staatskapelle präsent; 1964 erklang sein Bläserquintett und die Erste Sinfonie, 1966 dirigierte Henze selbst die DDR-Erstaufführung seiner Fünften Sinfonie, 1967 kam „Der junge Lord“ auf die Bühne, 1968 „Six Absences“ für Cembalo.

Rainer Maria Röhr (Leutnant Hillcourt), Iris Vermillion (Alte Frau). Foto: Matthias Creutziger

Rainer Maria Röhr (Leutnant Hillcourt), Iris Vermillion (Alte Frau). Foto: Matthias Creutziger

Dann reißt der Faden in den Süden erst einmal ab, bis er Mitte der Achtziger Jahre wieder aufgenommen und bis heute weitergesponnen wird. Das dreiaktige Ballett „Undine“ etwa kam im März des Wendejahres 1989 auf die Bühne der Semperoper. 1997 ist eine Inszenierung der „Bassariden“ zu verzeichnen (die Henze gut gefiel), 2002 „L’Upupa“ (die ihm weniger gefallen haben soll), 2010 eine eigens für Dresden geschaffene Neufassung von „Gisela! oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“ (die ihm – so die damalige Regisseurin Elisabeth Stöppler – leider überhaupt nicht gefiel!), schließlich in dieser Spielzeit eine denkwürdige Inszenierung von „Wir erreichen den Fluss – We come to the river“. Erneut durfte Elisabeth Stöppler inszenieren; die verstorbene Intendantin Ulrike Hessler hatte fest an sie geglaubt, sie immer wieder für Inszenierungen an ihr Haus geholt. Und diesmal war Henze begeistert!

Dabei waren die Hürden für den Erfolg eigentlich unmenschlich hoch aufgetürmt. Einhundert Rollen sind von den siebzig Bühnendarstellern zu bewältigen. Drei Ensembles, im Theaterraum verteilt, werden quasi zu Akteuren im Stück. Kein Wunder, dass „Wir erreichen den Fluss…“ seit der Uraufführung 1976 in London erst fünf Mal aufgeführt wurde. Elisabeth Stöppler entschied sich, die Fragen nach der Wirklichkeitsabbildung von Kunst, nach den Grenzen des musiktheatralischen Realismus zum Zentrum ihrer Lesart zu machen. Sie hat das Kriegswerk im Herzen der Semperoper selbst angesiedelt: Augenscheinlich (Bühnenbild: Rebecca Ringst und Annett Hunger) hat die Soldateska vom Opernhaus Besitz ergriffen, den Fundus geplündert, sie foltert und vergewaltigt sich quer durchs Parkett, schießt, schreit und schändet.

Die Inszenierung mit vielen schönen Einzelbildern steckt am Ende dennoch fest: Sie hat sich in der Schlucht zwischen dem Musiktheater und den tatsächlichen kriegerischen Handlungen unserer Zeit verlaufen, die Landkarten scheinen gefälscht, geben jedenfalls keine Marschrichtung vor, man trappelt etwas hilflos auf der Stelle. Nein, die komplexe Musikwelt ist es, die verstört, aufrüttelt und hell begeistert. Der Dirigent Erik Nielsen leistete Fantastisches und sammelte mit den Kapellmusikern – neben den vielen sehr guten sängerischen Einzelleistungen – viel Premierenapplaus ein. Zahlreiche der Solistenrollen wurden kompetent und überzeugend von Mitgliedern des Semperopernchores übernommen.

Generalmusikdirektor Fabio Luisi war es übrigens, der sich für die alljährliche Benennung eines „Capell-Compositeurs“ eingesetzt hatte. Seit 2007 haben Isabel Mundry, Bernhard Lang, Rebecca Saunders, Johannes Maria Staud und zuletzt Lera Auerbach den Titel getragen und für teils durchaus kontrovers besprochene Uraufführungen gesorgt. Unter Christian Thielemann nun will man neue Schwerpunkte setzen und greift offenkundig auf etabliertere Namen zurück. Mit seinen freundschaftlichen Beziehungen zu Dresden – und zu Christian Thielemann – war Henze da sicherlich die erste Wahl für den neuen Chefdirigenten. In der laufenden Spielzeit sind seine Werke in vier verschiedenen Konzerten und Aufführungsabenden der Sächsischen Staatskapelle präsent; unter anderem steht mit „Isoldes Tod“ ein neues, mit Salzburg geteiltes Auftragswerk auf dem Wagnerjahr-Programm; und demnächst hat der Ballettabend „Das Vokaltuch der Kammersängerin Rosa Silber“ Premiere. Richard Wagner? Ach ja. Gefühlt ist Dresden momentan eher Henze-Stadt. Dass er dies nun nicht mehr erleben darf, tut der Würdigung des großen Komponisten keinen Abbruch.

Martin Morgenstern

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