|

Wir haben die meisten Jobs
Der Chor der Berliner Staatsoper „in concert“ · Von Gisela Sonnenburg
Im Berliner Schiller Theater, dem Ausweichquartier der sich in Sanierung befindlichen Staatsoper, war am 19. und 21. Oktober mal alles anders als sonst. Kein Opernbühnenbild, kein Orchestergraben, keine Kostümshow erwartete die Besucher. Sondern ein großer Auftritt derer, die sonst im Hintergrund stehen: Der Staatsopernchor gab unter der Leitung von Frank Flade das Konzert „Große Opernchöre“. Damit richtete sich das Ohrenmerk auf einen Klangkörper aus schönen Stimmen, der oft zu Unrecht wenig beachtet wird.

Chor der Berliner Staatsoper mit (vorne Mitte) dem Chordirektor Eberhard Friedrich, dem stellvertretenden Chordirektor Frank Flade und dem Assistenten des Chordirektors Piotr Kupka. Foto: Thomas Bartilla
Die musikalische Beweisführung für die Bedeutung der Chöre begann mit Richard Wagners kraftvoll-feierlichem „Einzug der Gäste“ („Tannhäuser“). Unterm Kronleuchter versammelte sich der Chor auf der Bühne, davor nahmen die Orchestermitglieder der Staatskapelle Berlin (Leitung: Alexander Vitlin) ihre Plätze ein. Die Orchestermusiker waren übrigens – wie immer – auf dem Besetzungszettel beziehungsweise im Programmheft einzeln namentlich aufgeführt. Die Chormitglieder hingegen – 91 hat der Staatsopernchor – blieben wie meistens namenlos, mit Ausnahme jener Sänger, die einige Passagen als Soli übernahmen. Einer von ihnen: Andreas Neher, VdO-Mitglied und bis vor kurzem auch stellvertretender Obmann des Vorstands seines Chores. Der 43-jährige geborene Thüringer singt seit 2000 im Berliner Staatsopernchor und fühlt sich rundum wohl damit: „Wir haben die meisten Jobs“, sagt er. Tatsächlich gibt es kaum eine Oper, die ohne Chorauftritte auskommt, und Glanzstücke der Kulturgeschichte wie „Carmen“ oder „Aida“ wären ohne Chöre überhaupt nicht denkbar. Dennoch, so beklagt Neher die Nachwuchs-Situation, denken Gesangsstudenten und Berufsanfänger fast ausschließlich an die Solistenkarriere. „Dabei ist dort das Gedränge groß, während für die Chöre gute Leute gebraucht werden.“
International gemischt sind die Kollektive sowieso. Der Staatsopernchor besteht unter anderem aus Russen, Asiaten, Rumänen – und aus vielen Deutschen. Gemeinsam ist man stark, auch was den Berufsverband angeht. Von der VdO fühlen sich Neher und seine Kollegen gut beschützt: „Sie steht wie ein Schutzpatron hinter uns.“ Das Arbeiten in der Gruppe muss indes mitunter erst erlernt werden. Vor allem, wenn jemand lange zielstrebig auf ein Dasein als Solokarrierist zuging. Spät in den Chor zu wechseln, kann auch stimmlich Schwierigkeiten bereiten: So, wenn die Stimme bei über 40-Jährigen schon geprägt und der „Atemhabitus“ auf den Modus „Solo“ festgelegt ist.
So wird laut Neher viel zu selten speziell fürs Chorsingen ausgebildet. Ein Projekt zur Kooperation mit Berufsanwärtern, die von Mitgliedern des Staatsopernchores als Mentoren auf die Arbeit im Chor vorbereitet werden sollten, liegt wegen finanzieller Engpässe noch als Konzept in einer Schublade. Beim Konzert im Schiller Theater brillierte derweil die Stimmenvielfalt des Staatsopernchores. Die Männer klangen heroisch-stark, aber nicht aufdringlich, die Frauen hatten einen betörend lyrischen Zauber. Das erste Tutti des Abends erbrachte eine zart verschmelzende Akkordeinheit. Bizets dynamische „Carmen“ und Verdis „Patria oppressa“ aus dem „Macbeth“ bildeten dann kontrastreiche Folien, um das weitere Können des Chores zu zeigen; heiter-bunt das eine, tragisch-trommelnd das andere. Besonders berückte aber der „Gefangenenchor“ aus Verdis „Nabucco“.
Die Macht des Chores, bei dem Konzert geballt präsent, wirkt sonst bei Aufführungen eher unterschwellig. Viele empfinden den Chorus als illustrierendes Hintergrund-Element – und würden ihn erst so richtig zur Kenntnis nehmen, wenn er ausfiele. Darum kam die Idee zum Konzert nicht einfach so daher, sondern mit Hintersinn: „Es war immer ein Anliegen unseres Vorstandes, den Chor mal stärker in den Fokus zu rücken“, sagt Andreas Neher. Das gelang. Ein weiterer Höhepunkt des Konzertabends entstammte der Feder von Modest Mussorgsky: Der Prolog zu „Boris Godunow“ rief viele „Bravo“-Rufe hervor. Hier steigerte sich in fast unmerklichen Halbtonschritten ein dunkles Aufbegehren zur großen, majestätischen Apotheose. Das hatte schon fast etwas Religiöses.
Der Chor, das Volk: Keine kapriziöse Solopartie, sondern die Grundierung des Ganzen macht eine Oper in der Essenz aus. Auch die „Polowetzer Tänze“ von Alexander Borodin belegen das, sind sie doch das bekannteste Stück der nationalrussischen Oper „Fürst Igor“. Im Schiller Theater erklangen diese Chor-„Tänze“ fein differenziert, fast analytisch klar gesungen – und überraschend leicht im Ausdruck.
Neher genießt es, wenn ein oft gesungenes Lied vom einen Regisseur so, vom nächsten ganz anders verlangt wird: „Man lernt die verschiedenen Handschriften kennen.“ Auch das Schauspielerische kann unterschiedlich gewichtet sein: Mitunter müssen jeder Schritt und jede Geste individuell gestaltet sein. Sprachverschiedenheiten werden aber von Coachs „auf eine Linie“ gebracht. „Man sieht sich selbst als Individuum, weiß aber, dass man als Gruppe wahrgenommen wird“, sagt Neher. Der Lohn ist schäumender Applaus, im Schiller Theater vor und nach der Zugabe aus Wagners „Meistersingern von Nürnberg“. Denn Meistersinger sind Chormitglieder mindestens.
Gisela Sonnenburg
|