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Mythischer Gigantomanismus
Uraufführung von „Babylon“ in München · Von Wolf-Dieter Peter
Goethes Theaterdirektor fordert im Vorspiel zum „Faust“, dass an „Prospekten…und Maschinen“ nicht gespart werden solle, um „vieles“ zu bieten. Das war nun auch in der Uraufführung „Babylon“ an der Bayerischen Staatsoper zu erleben. Der 39-jährige Münchner Komponist Jörg Widmann sieht in der antiken Stadt und den Mythen um sie herum ein Sinnbild für unsere Zivilisation. Das erfordert einen Text jenseits jedes „Tatort“-Realismus‘, wofür Philosoph Peter Sloterdijk gewonnen wurde. Sein Vor- und Nachspiel führen jeweils eine apokalyptische Trümmerwelt vor, in der ein singender Skorpionmensch anfangs trauert, am Ende aber sowohl Sintflut wie den Untergang der babylonisch hybriden Turm-Kultur überlebt hat und sich stetig verdoppelt: eine Welt voller Skorpione als finale Aussage?

Willard White als Priesterkönig in Widmans Musiktheaterwerk. Foto: Wilfried Hösl
Dazwischen erzählen Widmann und Sloterdijk in sieben unterschiedlich großen Szenen anhand der Metapher „Babylon“ mythische Welt-, Stadt-, Kultur-, Religions- und Menschheitsgeschichte, von – nicht weiter thematisierten! – steingrauen Sklaven dauernd auf- und umgebaut, dann aber doch unterstützt von schwarzen Bühnen-Facharbeitern samt Headset und veritablem Ingenieur-Können. Der im babylonischen Exil lebende Jude Tammu löst sich von seiner personifizierten, singenden „Seele“ und verfällt den diesseitigen Reizen der babylonischen Liebespriesterin Inanna. In einem rauschhaften Traum durchlebt er die Sintflut und den Fluss Euphrat, der singend den Himmel und die Götter anklagt. Dann errichtet ein Priesterkönig eine neue Weltordnung. Tammu erlebt träumend eine orgiastische Liebesfeier mit singenden Phalli und Vulven, während gleichzeitig der jüdische Prophet Ezechiel gegen „die Hure Babylon“ Bibeltexte diktiert. Dabei überlagern sich Noahs mit Abrahams Opfer. Dann wird Tammu als des Priesterkönigs liebster Gefährte zum nächsten Opfer bestimmt. Zur Einleitung des Rituals wird eine babylonische Schöpfungsgeschichte mit dem Gott Marduk als Bezwinger des Urdrachens Tiamat vorgeführt und dann Tammu getötet. In ihrer Liebesklage vereinen sich nun Inanna und die Seele. Inannas Schmerz ist so groß, dass sie in die Welt des Todes hinabsteigt, dabei alle Accessoires ihrer verführerischen Macht ablegt und den müden Tod überzeugt, gerade aus seiner Machtvollkommenheit heraus Tammu weitere fünfzig Jahre Leben zu gewähren. In einer Umkehrung des Orpheus-und-Eurydike-Mythos‘ müssen dabei Inanna und Tammu dauernd Blickkontakt halten, um in die Welt des Lebens aufzusteigen. Dort hat sich über den Priesterkönig hinaus nun eine Ordnung mit sieben Planeten, Wochentagen und Regenbogenfarben etabliert. Doch die Liebenden fliegen in einer Art Raumschiff davon und der Turm zu Babel stürzt ein – mit der genannten Skorpionklage als Ende.
Schon diese gedrängte Beschreibung lässt ahnen, dass da eigentlich Stoffe für „sieben“ Opern angerissen – und prompt nicht bewältigt werden. Keine der Figuren fesselt oder berührt. Auch alle Sexualität wirkt technisch kalt im Stil von „Crazy Horse“. Das liegt zentral an Sloterdijks Text und wohl mangelnder Theatererfahrung (zu Recht mit Buh bedacht), am wenigsten an Jörg Widmanns Musik. Er hat wohl von seinen Lehrern Wilfried Hiller und Wolfgang Rihm, speziell aber von seinem Mentor Hans Werner Henze die Begeisterung für das Musiktheater übernommen – prompt widmeten er und alle Beteilig-ten die Aufführung dem wenige Stunden zuvor verstorbenen Komponisten. Widmanns Riesenorchester bietet eine theatralisch reizvolle Bandbreite: von Vierteltonschichtungen bis zu Schlagzeugexzessen. Da dürfen Tammu und Inanna zunächst von ihrer Liebe sprechen, ehe sich ihre Emotionen in Gesang steigern. Es gibt ein Duett mit puccinihafter Schwelgerei und Terzenseligkeit. Die Babylon-Orgie wird mit herrlich schrägen bayerischen Blasmusikakkorden zwischen „Defiliermarsch“ und „Holzhackerbuam“ ironisiert. Ein hoffnungsvoller Schlusschor klingt nach Musical-Rausschmeißer. Das abermals glänzend disponierte Staatsorchester führte all dies unter der klaren, souverän wirkenden Zeichengebung Kent Naganos bis in die instrumental und gesanglich genutzten Seitenlogen hinein einfach „gekonnt“ vor. Der von Sören Eckhoff einstudierte Staatsopernchor lieferte, vielfältig kostümiert, gestaffelt und gruppiert, Volksmeinung, Wankelmut und Resümee volltönend vor. Jussi Myllys’ Tammu-Tenor, Claron McFaddens Seele-Sopran, Gabriele Schnauts Euphrat-Dramatik, Willard Whites Priester- und Todes-Bass wurden überstrahlt von dem klanglich wie spielerisch verführerischen Inanna-Sopran Anna Prohaskas – rundum Staatsopern-Besetzung in über zwanzig weiteren Partien.
Szenisch schien das „La Fura dels Baus“-Regieteam um Carlos Padrissa den Ausstattungsetat anderer Opernhäuser in dieser einen Inszenierung zu „verfeuerwerken“: Buchstaben-besetzte Steinquader für dauernden Turmbau, ohne dass die „babylonische Sprachverwirrung“ je thematisiert wird; fabelhafte Video-Projektionen, in denen sich Bilder und Figuren formen wie auflösen; Meteoriteneinschläge und Sternenexplosionen; wabernde Pixel-Flächen und -Gebilde; sensationeller Kostümzauber… Am Schluss ein Netz für den Orchestergraben und ein spektakulärer Einsturz der Turmmauer in Richtung Publikum – „a stunning show“ zwischen „Cirque du Soleil“, Las Vegas und Hollywoods Science-Fiction-Studios. Ungetrübter Jubel vom Premierenpublikum dafür, doch dieser Ansatz von „Oper 3.0“ führt in „mythisches Name-dropping“: Große Stoffe und Themen werden effekthascherisch angerissen und benutzt, statt eindringlich vertieft und zum exemplarischen Menschengleichnis verdichtet zu werden. Da wäre bei Wagner sehr viel zu lernen.
Wolf-Dieter Peter
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