
Nicht reden, sondern machen
Interview mit Christian Thielemann · Von Martin Morgenstern
Seit Beginn dieser Spielzeit ist Christian Thielemann Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Von Berlin über München in die sächsische Landeshauptstadt: Sein Faible für große (spät)romantische Werke hat ihn überall hin begleitet. In seiner ersten Dresdner Spielzeit wird er unter anderem den „Parsifal“ sowie zwei Sonderkonzerte zum Geburtstag Richard Wagners dirigieren. Über seine Arbeit, sein Werkverständnis und seine ersten Erfahrungen mit dem Semperopernchor sprach für „Oper & Tanz“ Martin Morgenstern mit dem Dirigenten.
Oper&Tanz: Sie bezeichnen sich gern als „Kapellmeister“ – in meinen Ohren ein sehr handwerklicher Begriff. Aber Sie arbeiten mit dem Orchester wie mit dem Publikum auch auf sehr suggestive Art.

Christian Thielemann. Foto: Creutziger
Christian Thielemann: Handwerk und Suggestion müssen Hand in Hand gehen, das haben Sie schon richtig bemerkt. Aber das Handwerkliche kommt zuerst und ist natürlich unabdingbar. Wissen Sie, ich erlebe jetzt bei Proben mehr und mehr interessante Dinge: dass mich beispielsweise eine Solistin bittet, die Dinge am Klavier noch einmal durchzugehen, weil man offenbar nicht mehr gewohnt ist, die Dinge im Orchester zu regeln. Bevor wir überhaupt etwas angespielt haben, heißt es: das Tempo aber bitte so und so. Dann sage ich mir: Mensch, sing doch überhaupt erst mal! Ich bin ein Dirigent, der mitgehen kann! Es wird heute vieles zerredet, anstatt es einfach zu tun. Aus dem Orchester der New Yorker Metropolitan Opera hörte ich vor fünfzehn, zwanzig Jahren mal den wunderbaren Satz: „Don’t talk about it. Just do it!“ So ist es: nicht drüber reden. Einfach machen. So ergibt sich das meiste von selbst. Theoretisches Wissen ist wichtig, aber kein Allheilmittel. Nachdem wir nun wissen, welchen Pfefferminztee Beethoven morgens trank: Und wie dirigierst du nun diesen Übergang in der „Eroica“? Machst du da ein Ritardando oder nicht? Da sind mir die Pfefferminzteekompressen, die sich der Meister früh um vier auflegen lassen hat, völlig schnuppe.
O&T: Authentizität gehört zum Dirigieren. Aber ein bisschen „abrunden“ kann man die Sache hinterher schon, oder?
Thielemann: Klar, das gehört dazu. Aber es darf nicht einstudiert sein, muss aus der Natürlichkeit kommen. Natürlich soll sich beides miteinander vermählen! Das Publikum hat aber ein untrügliches Gespür, wenn etwas aufgesetzt ist. Bei mir kommen viele Dinge spontan. Wenn ich mich wohl fühle, dann fallen die Hemmungen.
O&T: Den Sächsischen Staatsopernchor hatten Sie jetzt schon einige Male vor sich. Wie sind Ihre ersten Eindrücke?
Wandlungsfähiger Chor
Thielemann: Meine Erfahrungen mit dem Sächsischen Staatsopernchor beschränken sich ja bisher im Prinzip nur auf den Konzertbereich. Unsere erste Zusammenarbeit waren Konzerte mit dem Brahms-Requiem anlässlich des Dresdner Gedenktags im Februar 2003. 2010 haben wir dann Beethovens „Missa solemnis“ aufgeführt, 2011 Liszts „Faust-Symphonie“. Hinzu kommen natürlich die beiden Silvesterkonzerte 2010 und 2011 mit Höhepunkten aus den Operetten von Franz Lehár. Hier hat sich aber gezeigt, dass der Chor äußerst wandlungsfähig und flexibel ist und sich – ähnlich wie die Staatskapelle – durch einen besonders warmen und dunklen Klang auszeichnet, was mir sehr gut gefällt. Die Zusammenarbeit auf der Opernbühne steht noch bevor. Am 18. November dirigiere ich erstmals im Graben der Semperoper den „Rosenkavalier“ von Richard Strauss. Darauf freue ich mich natürlich sehr.
O&T: Nun eine Frage zum bevorstehenden Wagner-Jahr. Mich erstaunt, wie hermetisch man in Deutschland sein musikalisches Werk von seinen Schriften trennt: Man kann das eine ohne das andere haben.
Thielemann: Da muss ich Ihnen widersprechen. Das Thema ist allgegenwärtig. Wir kommen einfach nicht zum Zuge, wir können das weiter fassen: persönliche Äußerungen von Künstlern, Malern, Dichtern, Musikern… Hat das nun Einfluss auf das C-Dur? Die Publikationen von vor zwanzig, dreißig Jahren haben sich diese Frage gestellt und sind nach langem Hin und Her erfreulicherweise zum Schluss gekommen, dass man es in der Musik nicht festmachen kann: E-Dur ist so wenig politisch wie Es-Dur. Das sehen Sie an einem Stück wie „Les Préludes“. Ich habe mich aufgemacht, dieses grandiose Werk wiederzuentdecken. Wir dürfen den Sieg nicht dem Negativen überlassen! Gerade wir sind aufgerufen, diese Dinge zu spielen. Aber natürlich: It’s up to you. Wenn Sie der Auffassung sind, dass Sie damit nicht zurande kommen, ist es nicht meine Aufgabe, Sie davon abzubringen. Wer bestimmt eigentlich, was ich zu wissen habe? Ich möchte das selber entscheiden. Es gibt in Deutschland noch etwas anderes als diese zwölf Jahre. Das ist unsere Generation: Wir sind die Geläuterten, die Wissenden.
O&T: Hm. Das C-Dur ist sicher nicht politisch. Aber in Israel werden Wagners Werke bis heute nicht gespielt – eben weil man gewisse Dinge weiß.
Thielemann: Sie wissen, dass diese Diskussion zu nichts führt. Irgendwann sagen Sie: Ich entscheide mich jetzt dafür oder dagegen. Und ein anderer macht’s anders, und dann trennt man sich in Freundschaft. Ich finde es nur schade, wenn man Leuten Informationen vorenthält. Die geschichtliche Wahrheit ist die geschichtliche Wahrheit. Sie können nicht eine Tonart und vor allen Dingen nicht Menschen für eine spätere Vereinnahmung verantwortlich machen. Sie können auch Dinge aus dem Zusammenhang reißen und hochstilisieren, dass sie mit einem Mal eine Wichtigkeit erhalten… Gerade bei Wagner ist das sehr ambigue Geschichte gewesen. Wichtig ist: Ist das in der Musik drin? Ist das Stück deshalb schlecht?
Vielleicht war Wagner ein Ekel
O&T: Ich verstehe das Problem eher so: Wir fragen uns, was für ein Mensch das war, der diese Musik schrieb, welche moralischen Ansichten er hatte; und dann fließt das ja irgendwie auch in die Bewertung dessen ein, was er geschaffen hat, oder?
Thielemann: Sie führen eine Diskussion, die ins Nichts führt. Sie werden zu keinem Ergebnis kommen. Und wenn der Lohengrin losgeht, strecken Sie sich wohlig auf Ihrem Sessel aus und werden sagen: Ist das schön! Wenn der Tristan losgeht, sind Sie benebelt… Womöglich war Wagner unsympathisch, da sind wir uns doch einig. Wenn wir jetzt sagen, wir gehen nach Wahnfried und treffen ihn… – vielleicht wäre er derartig unangenehm, dass wir uns ärgern, dieses Ekel getroffen zu haben. Hätten wir uns mal am Tristan berauscht! Beethoven war ungepflegt und hochgradig cholerisch. Schubert war ein Trinker… Schumann war vielleicht nett, aber er hat sich im nächsten Moment aus dem Fenster gestürzt. Vielleicht war Liszt ein eleganter Mensch, aber: Wenn Sie die jetzt alle kennen würden…
O&T: Sie plädieren also für die Abstraktion: Das Werk soll vom Künstler unabhängig wahrgenommen werden?
Quasselgesellschaft
Thielemann: Absolut. Ich sammle keine Autographen mehr. Ich hatte zwei Bruckner-Briefe, Liszt-Briefe, Strauss-Briefe, eine Beethoven-Unterschrift, eine Wagner-Unterschrift… Ich habe das verschenkt, weggegeben, verkauft. Ich verehre Wagner über die Maßen. Aber ich verehre seine Kunst. Einen sehr berühmten Künstler lernte ich kennen, nachdem ich ihn lange bewundert hatte. Es war ein fürchterliches Zusammentreffen, es steckt mir heute noch in den Knochen. Wie konnte der auf der Bühne so toll sein, und dann so was… Womöglich waren Goethe und Schiller unmöglich, der Hölderlin… Viele Säufer, Syphilitiker, möchte man das so genau wissen?
O&T: Womöglich waren das Voraussetzungen für den großen Wurf!
Thielemann: Ja, ach! Ich sag Ihnen mal was: Als jüngerer Interpret macht man zwei Fehler: Der eine ist, nur nach dem Bauchgefühl zu gehen. Und der andere, weit verbreitete: zu viel nachzudenken. Irgendwann ist die Spontaneität aus den Fingerspitzen raus. Ein guter Lehrer taxiert seine Schüler und Schülerinnen nach Typ: Bist du der Gefühlstyp? Dann muss ich mit der Heckenschere kommen. Bist du der Grübler? Dann muss ich dich entgrübeln. Aber in dieser Quasselgesellschaft, in der so vieles zerredet und zerfleddert wird, sagst du irgendwann: Mensch, lass doch einfach mal fließen. Ich komme mehr und mehr darauf. Vor fünf Jahren hätte ich das noch weit von mir gewiesen.
Martin Morgenstern |