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Hintergrund
Eine Gattung, viele Gesichter
Uraufführungen neuer Musiktheaterwerke in Hannover, Darmstadt und Wiesbaden
Von Rainer Nonnenmann
Oper und Musiktheater verhandeln idealerweise Themen, die uns hier und heute betreffen, selbst wenn die Stoffe, Werke und Ausdrucksweisen längst historisch sind. Statt altbekanntes Repertoire umständlich für die Gegenwart neu zu deuten, wie es das Regietheater versucht, liegt es eigentlich näher, gleich neue Stücke herauszubringen, die sich mit der aktuellen Lebens- und Erfahrungswelt auseinandersetzen. Die über 80 Opernhäuser in Deutschland bringen regelmäßig neue Werke heraus. Die Statistik „Wer spielte was?“ (2024) des Deutschen Bühnenvereins listet für die Spielzeit 2022/23 insgesamt 44 Opern-Uraufführungen. Die Ausstrahlung dieser 6 Prozent aller 749 Neuinszenierungen ist gegenüber dem dominierenden Repertoirebetrieb jedoch marginal, da die Novitäten meist nur zwei- oder dreimal auf kleinen Studiobühnen gespielt werden und nur zwei Prozent des Publikums erreichen. Wie unterschiedlich neue Musiktheaterproduktionen in Material, Medien, Stilistik, Verlauf, Aussage, Produktions- und Darstellungsweise sein können, zeigen drei aktuelle Uraufführungen.
„Echo 72“ in Hannover
Michael Wertmüller komponierte „Echo 72. Israel in München“ auf ein Libretto von Roland Schimmelpfennig im Auftrag der Staatsoper Hannover. Dem Schweizer Komponisten und deutschen Dramatiker gelang in der Uraufführungsinszenierung von Lydia Steier eine parabelartige Verdichtung des Attentats auf das israelische Team bei den Olympischen Spielen München 1972. Die zeitgenössische Text-, Klang- und Bildsprache versetzte das historische Ereignis ins Hier und Heute durch Bezugnahmen zum Ort der Premiere und zur deutschen Geschichte. Die von Flurin Borg Madsen gestaltete Bühne zeigt anfangs in einem Museumssaal die dem Hannoveraner Publikum wohlbekannte Monumentalstatue „Fackelträger“ des Bildhauers Hermann Scheuernstuhl. Seit 1936 ziert die Bronzeskulptur am Ufer des Maschsees die 18 Meter hohe „Siegessäule“ für „Freude, Gesundheit und Kraft“. Mit emporgereckter rechter Hand deutet die Figur den Hitlergruß an, und zwar in Richtung der damaligen Spiele in Berlin. Auf der Opernbühne wurde die Hinterlassenschaft des Dritten Reichs – zwei Tage vor dem 80. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz – zum Symbol für die durch Diktatur und Holocaust bedingte besondere Verbindung von Deutschland und Israel.

Michael Wertmüller, „Echo 72“, Staatstheater Hannover, mit Idunnu Münch. Foto: Sandra Then
Als Besuchergruppe im Museum besingt der Chor den olympischen Geist von Frieden, Freude, Fairness, Völkerverständigung. Projektionen zeigen historische Fotos und Filmaufnahmen der Spiele 72 sowie Gesichter der damaligen israelischen Sportlerinnen und Sportler. Nach und nach schleichen sich Irritationen ein. Der Museumswärter tremoliert leise auf einer E-Bassgitarre in Form eines Maschinengewehrs. Gleichzeitig schildert „Die Klage“ (Idunnu Münch) als wandelbare Reiseführerin, Siegesgöttin Nike und Todesengel den Hergang des Attentats von schwer bewaffneten palästinensischen Terroristen in den frühen Morgenstunden des 5. September 1972. Der dilettantische Versuch der bayerischen Polizei, die neun Geiseln zu befreien, endete mit dem Tod aller und eines deutschen Polizisten. Die BRD wollte sich freundlich, demokratisch, modern, offen und bunt präsentieren, versagte aber vor laufenden Fernsehkameras beim Versuch zu verhindern, dass auf deutschem Boden erneut Juden ermordet werden. Eben diesen langen Nachhall der damaligen Tragödie bis zum Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 benennt der von Intendantin Laura Berman hinzugefügte Obertitel „Echo 72“.

Michael Wertmüller, „Echo 72“, Staatstheater Hannover, mit Ensemble und Statisterie. Foto: Sandra Then
Das als „Oper“ bezeichnete Stück wurde nach der Uraufführung in Hannover fünf weitere Male gespielt. Es ist weniger eine dramatische Erzählung mit emotionalisierender Musik als eine poetische Allegorie. Die von den israelischen Olympioniken betriebenen Sportarten Fechten, Gewichtheben, Ringen und Hürdenlauf sind Metaphern menschlicher (Über)Lebensstrategien. Und so wie Spitzensport unzählige Wiederholungen derselben Bewegungsabläufe verlangt, werden auch Traumata immer wieder neu durchlebt. Die Läuferin auf 100 Meter Hürden (Ketevan Chuntishvili) besingt nichts anderes als den bei tausenden Trainingsstunden eingeübten Lauf von dreizehn Metern bis zur ersten Hürde und achteinhalb Metern bis zu jeder weiteren. Die Wettkampfregel gleicht einer klar vermessenen Lebenslinie, die das Attentat dann gewaltsam auflöst.
Die Musik ist anfangs repetitiv, rhythmisch, reduziert, eintönig. Die Vokalisten wiederholen ihre Aussagen mehrmals in nüchternem Deklamationsstil. Polizist (Ziad Nehme) und Gewichtheber (Philipp Kapeller) wechseln abrupt vom Tenor ins Falsett, als fielen sie aus ihren Rollen. Dumpfe Trommelschläge und Totenglocken durchziehen die fast zweistündige Aufführung wie ein Schicksalsfaden. Zunächst unmerklich wird die Musik nach und nach immer schneller und greller. Rhythmisch gerappt zählt der Sprechchor alle Namen der damals in München angetretenen 121 Nationen in alphabetischer Folge auf, stockt aber zweimal schockartig bei Israel und Deutschland. Mit dem Niedersächsischen Staatsorchester Hannover unter Leitung von Titus Engel erzeugt das von Wertmüller bereits öfters eingesetzte Jazzrocktrio Steamboat Switzerland mit E-Bass, Drumset und Hammondorgel eine Highspeed-Energie zwischen frenetischer Begeisterung, gehetzter Angst, drohendem Kollaps und panischem Kreischen. Während die Sportler in großen Museumsvitrinen ihre Wettkämpfe vor johlenden Zuschauern ausüben, regnet es Blut und verkehrt sich das sportliche Kräftemessen zum Todeskampf. Als Gipfel der Apokalypse werden schließlich alle israelischen Sportlerinnen und Sportler in einer Vitrine vergast. Das Trauma der Shoa wiederholt sich. Wer es je vergessen haben sollte, weiß dann wieder, warum das Existenzrecht Israels deutsche Staatsräson ist.
„Oper Otze Axt“ in Darmstadt
Die Vorstellung beginnt staatstragend mit Absingen der DDR-Nationalhymne: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Der Feierlichkeit des fünfköpfigen Minichors folgt jedoch prompt eine rotzig gegrölte Parodie durch Matthias Baresel, der fortan in der Titelrolle lautstark kreischt und wütet, verzweifelt einknickt und wie beim Drogenentzug in höchstem Falsett fistelt. An den energetischsten Stellen traktiert Baresel alias Otze wie außer Rand und Band E-Gitarre und Drumset. Da geht dann momentweise wirklich der Punk ab.

„Oper Otze Axt“ mit Frieda Gawenda, Johann Kalvelage, Clara Kreuzkamp, Mathias Baresel, Georg Festl.
Foto: Lara Roßmann
Mit bürgerlichem Namen Dieter Ehrlich war der Sänger und Gitarrist als Otze bekannt. Die von ihm 1980 gegründete Punkband „Schleimkeim“ gehörte in der DDR zum Untergrund und spielte hauptsächlich in Kirchen. Otze wurde wegen „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten und Rowdytum“ inhaftiert. Der rebellische Musiker, Anarchist, Krawallmacher, Knasti, informelle Stasi-Mitarbeiter, Drogenjunkie und Mörder wurde bereits 2023 im Dokumentarfilm „Schleimkeim – Otze und die DDR von unten“ porträtiert. Nun widmete ihm das junge Musiktheaterkollektiv „Dritte Degeneration Ost“ die Produktion „Oper Otze Axt“, uraufgeführt in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt.
Der Titel stellt dem Künstlernamen die Musikgattung voran und hängt ihm die Tatwaffe an, mit der Otze 1999 seinen Vater erschlug und daraufhin den Rest seines Lebens in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt verbrachte. Zentrales Sinnbild der Unfreiheit im real existierenden Sozialismus sind auf der vom RHO-Kollektiv gestalteten Bühne zwei große Käfige: Im ersten kauert Otze wie in der Gefängniszelle, im zweiten steuert die Musikerin Antonia Beeskow als Stasi-Offizierin die Live-Elektronik wie eine Abhörvorrichtung. Neben Morsepiepen, Rauschen, Drones und Noise blendet sie auch ein, was Otze in der Zelle im Radio hört, darunter Fragmente einer Rede des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker. Auch Stasi-Protokolle über den Punkmusiker werden diktiert.
Otze wird von vier Gestalten umlagert, die ihn aufwiegeln, besänftigen und mit Brechstangen das scheppernde Metall attackieren, das ebenso als Kulisse wie als Krachinstrument dient. Wer die Figuren sind, lässt die Regie von Romy Dins und Frithjof Gawenda offen: Otzes Band-Kollegen, Alter Egos, innere Dämonen?
Das Programmheft listet die Vokalpartien als „Schläger“ (Georg Festl), „Tier“ (Frieda Gawenda), „Magier“ (Clara Kreuzkamp) und „Schatten“ (Johann Kalvelage). Der Hass auf den repressiven Staat ist Otzes Lebenselixier. Doch dann kommt plötzlich die Wende. Die DDR geht, die Wut aber bleibt. Als stumme Rolle betritt mehrmals Otzes Vater (Martin Gernhardt) wie der Geist von Hamlets totem Vater die Bühne. Der letzten Erscheinung geht Otze schließlich nach, indem er eine in der Zimmerecke lehnende Axt ergreift: Ende der Vorstellung.
Die Mitglieder des Theaterkollektivs „Dritte Degeneration Ost“ wurden nach 1990 geboren und stammen überwiegend aus den „neuen Bundesländern“. Sie möchten verstehen, warum die alten Nahtstellen zwischen Ost und West aktuell wieder aufreißen. Es gibt lange Erzählpassagen über den 2005 an einem Herzinfarkt verstorbenen Titelhelden und die Nachwendezeit, ohne dass sich die Berichte in sichtbarer Handlung und hörbarer Musik niederschlagen.
Epik geht auf Kosten von Dramatik. Das hinter der Bühne erhöht platzierte Instrumentalensemble unter Leitung von Neil Valenta hat wenig zu tun. Die Kollektivkomposition von Mathias Baresel, Frieda Gawenda und Richard Grimm setzt mehr auf Punk-Songs und Elektronik denn auf musikdramatische Verdichtung.
Finanziert und mitproduziert wurde das eineinhalbstündige Stück vom Förderprogramm NOperas! des NRW Kultursekretariats. Einmal pro Jahr bewerben sich hier Musiktheaterkollektive, aus denen eine Fachjury ein Projekt zur Realisation auswählt. Entscheidendes Kriterium ist die Aufhebung der im Opernbetrieb sonst üblichen Arbeitsteilung von Text, Musik, Bühnenbild, Kostüme, Regie. Die Dimensionen sollen kollaborativ erarbeitet und idealerweise anders zusammengefügt werden, als man es aus der 400-jährigen Gattungsgeschichte kennt. Da sich drei Häuser beteiligen, gibt es nach der Uraufführung in Darmstadt zwei Weiterentwicklungen der Produktion am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (Premiere 13. April) und Theater Bremen (Premiere 4. Juli).
„Fassaden“ in Wiesbaden
Bereits die Garderobe hält die erste Überraschung bereit: „Behalten Sie besser Ihren Mantel, denn die Aufführung findet teilweise im Freien statt.“ Der Musik-Theater-Walk „Fassaden“ um und durch das Hessische Staatstheater Wiesbaden bietet dann zahlreiche weitere Irritationen, Kreuzungen von (Theater)Alltag und Inszenierung, Reflexionen des Apparats und Selbstbegegnungen des Publikums. Von einer Tür zur anderen wechselt der Parcours zwischen offiziellen Publikumswegen und Orten, die sonst nur Theatermitarbeitenden zugänglich sind. Die Hemisphären werden durchlässig bis zur Ununterscheidbarkeit. Das Produktionsteam arbeitete kokreativ mit klaren Zuständigkeiten: Inszenierung Elli Neubert, Komposition Dariya Maminova, Licht und Video Jakob Boeckh, Kostüme Johanna Winkler, Dramaturgie Hanna Kneißler. Die Sprechtexte entwickelte man gemeinsam mit den beteiligten zwei Schauspielern, drei Instrumentalisten, einer Tänzerin und einer Sängerin des Ensembles und der Statisterie des Theaters.

Musik-Theater-Walk „Fassaden“, Staatstheater Wiesbaden, mit Raquel Nevado Ramos und Edzard Locher.
Foto: Maximilian Borchardt
Analog den getrennten Stiegenhäusern des spätfeudalistischen Prachtbaus, die das Publikum auf Parkett, Logen und Ränge verteilen, werden vier Publikumsgruppen bei insgesamt vier Aufführungen zeitgleich auf vier verschiedenen Routen durch den labyrinthischen Gebäudekomplex gelotst. Getrennt erlebt man alle vier Stationen, sieht sich einmal kurz und kommt schließlich zu einem Finale zusammen. Draußen auf den Kolonnaden des Kurplatzes informiert zunächst ein Stadtführer (Timur Frey) über die Geschichte des Orts und die königlichen Häupter, die hier gastierten. In den Wilhelminischen Prachtbau gelangt man durch einen Materialgang im Untergeschoss. Vorbei am Orchestergraben, aus dem tatsächlich Musik klingt, geht es über Treppen von ganz unten nach ganz oben in den zweiten Rang. Dort staunt man über drei ebenso erstaunt zurückblickende Garderobefrauen vor vollen Kleiderhaken, als würde im Großen Haus tatsächlich gerade „Der fliegende Holländer“ gegeben, dessen flüchtige Anklänge man zuvor nur für eine Audio-Zuspielung gehalten hatte. Realer und inszenierter Theaterbetrieb verschwimmen. Von einer Galerie aus belauscht man einen Liederabend im 1902 vollendeten Neo-Rokoko-Foyer. Über Fluchttüren, Laufwege auf dem Dach, Feuertreppen und Gänge gelangt man schließlich hinunter ins prächtige Foyer. Nun ist man nicht mehr bloß Zaungast, sondern lauscht bei einem Glas Sekt der Uraufführung von Dariya Maminovas „Crystal Songs“. Die sanften Arpeggien und Tonpendeln des Pianisten (Tim Hawken) und mattgold leuchtenden Kantilenen der Sopranistin (Josefine Mindus) passen zur Schwüle des mit vielen Stuckornamenten und barbusigen Musenfiguren überladenen Prunksaals. Doch eine aufheulende Sirene unterbricht die Aufführung und der Raum wird unverzüglich geräumt. In einem Innenhof trifft man auf einen gruftig schwarz gekleideten und geschminkten Arbeiter (Edzard Locher), der mit seiner Flex an Stahlteilen und Drahtkäfig die Funken fliegen und Ohren sirren lässt. Schicksalhaft mit einer Tänzerin im gleichen Outfit (Raquel Nevado Ramos) verkettet, geht es tiefer hinein in die Kellergewölbe der Requisitenkammer. Zwischen Stühlen, Tischen, Koffern, Beilen, Vogelkäfigen und menschlichen Kunststoffkörperteilen nimmt sich das auf Tuchfühlung gedrängte Publikum selbst und gegenseitig verstärkt wahr. Auch die aus nächster Nähe beobachtete Tänzerin blickt den Betrachtenden provokativ in die Augen zurück.
Eine Stahltüre wie zu einem Heizungsraum führt überraschend in das private Wohnzimmer eines Mannes, der zunächst verdutzt, aber dann alle Eintretenden individuell als ihm bekannte Personen begrüßt. Während sich das Publikum auf wenige Stühle und Sofas zwängt, sitzt der Gastgeber gemütlich im Ohrensessel vor dem Fernseher, wo gerade der Liederabend aus dem Prunkfoyer läuft. Zu hören ist davon allerdings wenig, weil der Gastgeber als stolzer Vater der Sängerin von dieser schwärmt und gerührt ein Album mit Familienfotos herumzeigt, dann aber plötzlich die Tochter unflätig beschimpft, weil er sich als Taxifahrer jahrelang alles vom Munde abgespart habe, um ihr den Klavier- und Gesangsunterricht zu bezahlen, nur damit sie heute „ihre scheiß Kunst“ machen könne.
Am Schluss gelangt das Publikum in sein angestammtes Theater-Zuhause. Im Auditorium des Kleinen Hauses versammeln sich alle vier Besuchsgruppen zum großen Publikum. Alle Aufmerksamkeit ist nun eindeutig auf die Bühne gerichtet. Diese besteht aus einer Wand mit Guckkastenöffnung wie beim Kasperletheater. Der Durchblick rahmt das Wohnzimmer, in dem man vorher noch selber saß. Nun treffen sich dort alle aufgetretenen Figuren wie zu einer Familienfeier, wozu eine Klangcollage die bisherigen Stationen Revue passieren lässt. Sämtliche Erzählfäden laufen im finalen Knoten zusammen. Doch alle Besuchsgruppen haben den „Musik-Theater-Walk“ in anderen Reihenfolgen erlebt, so dass die verschieden erinnerten Chronologien auch das Finale jeweils anders erscheinen lassen. Alle im Publikum haben Ähnliches erlebt, doch niemand dasselbe. Ein Musiktheater – viele Fassaden. |