Editorial
Reset – Gesellschaft und Kunst
Editorial von Tobias Könemann
Die vorgezogene Bundestagswahl haben wir hinter uns gebracht – mit einem Ergebnis, über das niemand uneingeschränkt jubeln, mit dem man aber jedenfalls auf den ersten Blick leben kann, sieht man von beklemmenden Parallelen zu den Entwicklungen von vor etwa einem Jahrhundert einmal ab.

Tobias Könemann. Foto: Foto: Pascal Schmidt
Ebenso bemerkenswert wie besorgniserregend ist jedoch, was vor diesen Wahlen geschehen ist. Damit meine ich nicht, dass die „Ampelkoalition“ über Jahre hinweg mutmaßlich vorsätzlich von innen ausgehöhlt worden ist. Nein, ich meine, dass es außerdemokratischen Kräften gelungen ist, praktisch alle demokratischen Parteien im Wahlkampf „wie die Säue durchs Dorf“ zu treiben, indem sie es geschafft haben, unter massiver Verdrehung von Fakten ein Wahlkampf-Thema flächendeckend an erster Stelle zu platzieren, das jedenfalls derzeit primär gar kein politisches, sondern allenfalls ein administratives ist. Dabei setzten diese Kräfte gezielt auf Xenophobie, die einer großen Anzahl von Menschen offenbar latent innewohnt und, richtig bedient und mit griffigen Feindbildern garniert, jegliches Bewusstsein für wirkliche Probleme in den Hintergrund drängt. Und so ist es gelungen, dass vor allem das Thema, das die Zukunft der Menschheit weltweit am grundlegendsten bedroht und in wenigen Jahrzehnten, wenn nicht Jahren, Migrationsströme unvorstellbaren Ausmaßes hervorzurufen droht, im Wahlkampf und in den Programmen der Parteien, wenn überhaupt, nurmehr eine untergeordnete Rolle spielt. Gleiches gilt – auf anderem Niveau – für Kultur und Kunst.
Dies ist beileibe kein nationales Phänomen. Wie schon in den vergangenen Jahrzehnten unter anderem in Sachen gelebte Demokratie, offene Gesellschaft, technologischer Fortschritt und Wohlstand gibt nun auch in Sachen Rücksturz ins Mittelalter die große westliche Leitmacht jenseits des Atlantiks den Schritt vor – und zwar durch Abbau von Gewaltenteilung, Klimaschutz, sozialer Absicherung, gesellschaftlicher Integration und globaler Verantwortung sowie bezüglich der Zerstörung einer lebendigen, vielfältigen, freien und kritischen Kulturszene. Symbolisch hierfür steht die radikale Umstrukturierung des John F. Kennedy Center for the Performing Arts, die auch hierzulande ein erhebliches Medienecho gefunden hat.
Es wäre naiv, zu glauben, dass Europa und Deutschland, wenn sich bestimmte politische Entwicklungen fortsetzten, vor derartigem gefeit wären. Daher gilt es hier vorzubauen. Die größte Gefährdung unserer lebendigen Kultur- und Kunstlandschaft liegt erkennbar nicht mehr in ihrer immer knapper werdenden Finanzierung, sondern in einer fundamentalen inhaltlichen Infragestellung, die wiederum ihre immer wieder beschworene gesellschaftliche Funktion auszuhöhlen droht.
Um hier gegenzusteuern, bedarf es einer Anpassung der Prioritäten insbesondere der etablierten künstlerischen Institutionen. Was ohnehin schon lange ein kritischer Faktor ist, die breite gesellschaftliche Durchdringung künstlerischen Schaffens und der dadurch idealerweise auszulösenden Wahrnehmungs- und Denkprozesse, muss noch stärker in den Vordergrund rücken, notfalls auch zu Lasten künstlerischer Selbstverwirklichung. Die klassische Funktion der Katharsis ist – in einem ganz weiten Sinne – aktueller denn je. Um sie erfüllen zu können, müssen dringend neue Wege erprobt werden.
Die klassische Lehre der drei Gewalten in einem Rechtsstaat ist überholt. Spätestens seit der pandemischen Ausbreitung der „social media“ mit all ihren Licht- und Schattenseiten ist klar, dass Gewalten nicht mehr nur verfassungsrechtlich, sondern gesellschaftlich zu definieren sind. Die Kunst darf hier nicht überrollt werden.
Unsere Wohlfühlgesellschaft der letzten Jahrzehnte ist kein Selbstläufer mehr. In ihrer simplen Wohlstands- und Wachstumsorientiertheit wird sie kaum eine langfristige Perspektive haben. Es gibt aber auch andere Glücksparameter. Ein Katalysator, diese erfahrbar zu machen, ist gelebte und aktiv erlebte Kunst. Arbeiten wir daran!
Tobias Könemann |