Berichte
Starker Opernabend mit Charme
Giacomo Puccinis „La Bohème“ in Gelsenkirchen
Puccini versammelt die frierende „Crème de la Crème“ der brotlosen Kunst. Der unbeugsame Vermieter steht ausgerechnet an Heiligabend vor der Tür der stets finanziell klammen Wohngemeinschaft. Und nicht nur er klopft an – auch das tragische Schicksal lässt nicht lange auf sich warten. „La Bohème“ könnte man als Versammlung einer ganzen Reihe von Klischees bezeichnen. Und die Gelsenkirchener Inszenierung bringt all diese bekannten Motive auch schnörkellos und direkt auf die Bühne. Regisseurin Sandra Wissmann hält sich dramaturgisch eng an die Handlung, verzichtet auf experimentelle Regieansätze und präsentiert im Wesentlichen das, was Puccinis Werk ohnehin an dramatischer Wucht mitbringt. Während Verfechter eines intellektuellen Regietheaters dies womöglich als zu schlicht oder wenig vielschichtig empfinden könnten, hat diese klassische Herangehensweise durchaus ihren Reiz. Eine Inszenierung, die sich auf das Werk selbst konzentriert, mag heutzutage nicht mehr oft anzutreffen sein – aber genau darin liegt ihr besonderer Charme.

Giacomo Puccini, „La Bohème“, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen mit Ensemble, Chor, Extrachor, Kinderchor und Statisterie des MiR. Foto: Pedro Malinowski
Vieles ist ebenso durchdacht wie naheliegend: Wenn sich der Vorhang im Musiktheater im Revier hebt, richtet sich der Blick unweigerlich nach oben. Schließlich spielt ein Großteil der Handlung im Dachgeschoss einer schlicht eingerichteten Künstler-WG. In Gelsenkirchen thront diese Kulisse auf einem zentral positionierten Kubus auf der großen Drehbühne. Im weiteren Verlauf entpuppt sich dieser als das beliebte Stammcafé der Bohème. Dadurch entsteht ein vielseitig einsetzbares Bühnenbild, das durch die Drehbewegungen der Bühne (Britta Tönne) unterschiedliche Funktionen übernimmt und kontinuierlich im Fokus der Inszenierung von Sandra Wissmann bleibt. Ein Hauch von Schnee dazu – und die winterliche Kulisse für das ultimative Künstlerdrama ist geschaffen.
Unterstützt wird das Konzept durch das hervorragende Ensemble der ausschließlich hauseigenen Kräfte. Die Darsteller verkörpern ihre Figuren mit spürbarer Authentizität und Nähe zum Publikum. Gerade das verdichtete Finale berührt zutiefst, denn das Klischee des darbenden Künstlers ist bei genauerer Betrachtung längst nicht so weit von der Realität entfernt, wie es scheinen mag. Obwohl man das Ende der Oper kennt, entfaltet Mimis Tod dennoch eine geradezu erschütternde Wirkung. Die realitätsnahe Gestaltung des Dramas hinterlässt durchgehend einen starken Eindruck.
Sängerisch und musikalisch überzeugt der Abend auf ganzer Linie. Besonders herausragend ist Benedict Nelson als Marcello: Mit sonorem, kraftvollem, aber nie überreiztem Bariton liefert er eine Musterinterpretation der Rolle. Auch Yancheng Chen als Schaunard beeindruckt mit kultiviertem Gesang und engagiertem Spiel – ein echter Gewinn für das Ensemble. Khanyiso Gwenxane als leidenschaftlicher Rodolfo und Heejin Kim als Mimi bilden ein ideales Paar, auch wenn Kim anfangs ein wenig Zeit braucht, um ihre Stimme vollständig zur Entfaltung zu bringen. Margot Genet interpretiert die Musetta mit einer gelungenen Mischung aus morbider Koketterie und laszivem Glanz. Ebenso überzeugend besetzt sind Philipp Kranjc als Colline, Urban Malmberg in der Doppelrolle Benoit/Alcindoro sowie Jin-Chul Jung als Parpignol. Chor, Extrachor und Kinderchor des MiR sorgen für lebendige und eindrucksvolle Massenszenen – auch wenn hier und da noch kleinere Abstimmungen nötig sind.
Nicht zu vergessen die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Giuliano Betta: Er lotet sämtliche Möglichkeiten des Orchesters aus und treibt es bis an die Grenzen. Über weite Strecken gelingt das brillant – mit vielen Momenten voller Glut, Leidenschaft und musikalischer Exzellenz. Nur gelegentlich schrammt das Klangbild an der Grenze zur Übersteuerung. Doch gerade noch rechtzeitig gelingt es, die Balance zu wahren. Ein musikalisch und szenisch starker Opernabend.
Guido Krawinkel |