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Aktuelle Ausgabe

Reset – Gesellschaft und Kunst
Editorial von Tobias Könemann

Kulturpolitik

Brennpunkt
„Sie haben dieses einzigartige Ensemble zerstört“

Auf ein Wort mit …
Choreologin Birgit Deharde und Tänzer Kenji Takagi über das Einstudieren von Ballett und Tanztheater

Eine Gattung, viele Gesichter
Uraufführungen neuer Musiktheaterwerke in Hannover, Darmstadt und Wiesbaden

Künstliche Intelligenz
Und ihre Auswirkungen auf Live-Darbietungen

Berichte

Auf schnelle Lacher geschielt
Hinrich Horstkottes „Rinaldo“ zur Eröffnung der Händel-Festspielen Karlsruhe

Zwischen Komödie und Märchen
Uraufführung der Mannheimer Fassung von Zemlinskys „Kleider machen Leute“ in Cottbus

Starker Opernabend mit Charme
Giacomo Puccinis „La Bohème“ in Gelsenkirchen

Bestenlese im Schaufenster
Der Wettbewerb CIDOO für Nachwuchs im Operndirigat in Liège

Bekannte Geschichte, packende Inszenierung
„Faust“ von Charles Gounod in Wuppertal

Demontage eines Propheten
Mendelssohns Oratorium „Elias“ am Theater Krefeld Mönchengladbach

Lebkuchen und Geisterbahn
Franz Schrekers „Der Schmied von Gent“ am Nationaltheater Mannheim

Verharmlost, verbürgerlicht, verfehlt
Brecht/Weills „Dreigroschenoper“ am Staatstheater Nürnberg

Turbokapitalistisches Sterbe- und Liebesspiel
Nationaltheater Weimar reibt Verdis „La traviata“ an Club-Beats von Brigitta Muntendorf

Wohlstandsabsturz mit Liebessegen
Richard Strauss’ späte Oper „Die Liebe der Danae“ in München

Zeitgebunden, überbrückend, zeitlos
Neue Bücher über Musikschaffende im Exil und transatlantischen Raum

Ungebändigt und Gebändigt
Anne Fontaines Film zeigt die Mühen um Maurice Ravels „Boléro“

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VdO-Nachrichten
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Berichte

Turbokapitalistisches Sterbe- und Liebesspiel

Nationaltheater Weimar reibt Verdis „La traviata“ an Club-Beats von Brigitta Muntendorf

Die Semperoper Dresden eröffnete 2021 Verdis vieraktige „Don Carlos“-Fassung mit einem neuen Orchesterprolog von Manfred Trojahn. Am Deutschen Nationaltheater Weimar ergänzten Chefdirigent Dominik Beykirch und Operndirektorin Andrea Moses in ihrer zweiten und dort letzten Verdi-Zusammenarbeit „La traviata“ an mehreren Stellen mit „elektroakustischen Inlays“ von Brigitta Muntendorf.

Giuseppe Verdi, „La Traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar mit Ilya Silchuk (Baron Douphol), Ylva Stenberg (Violetta Valéry) und dem Opernchor des DNT. Foto: Candy Welz

Giuseppe Verdi, „La Traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar mit Ilya Silchuk (Baron Douphol), Ylva Stenberg (Violetta Valéry) und dem Opernchor des DNT. Foto: Candy Welz

Auf die Weimarer „Aida“, in der Rechtspopulisten die Macht übernehmen, folgte nun eine kalte Gegenwartstopographie ohne Champagneroperetten-Flair. Den religiösen Lack von Verdis 1853 uraufgeführtem Kurtisanen- und Tuberkulose-Drama schabte Moses gründlich ab. Nicht eine „Gestrauchelte“ stand im Zentrum, sondern eine sich dem System mit Herz, Seele und Verstand ausliefernde Ikone, deren historisches Vorbild Marie Duplessis war, die Geliebte ihres Roman-Nachschöpfers Alexandre Dumas und des Weimarer Hofkapellmeisters Franz Liszt. Nach der Premiere des turbokapitalistischen Überraschungseis blieb nur die Frage: Warum macht eine starke Frau wie Violetta Valéry den vom Wohlstandsbürger Giorgio Germont geforderten Entsagungsschmäh mit?

Rasante Aufgaben stellte Andrea Moses dem Opernchor in knallbunt quietschfidelen Party-Gegenwartskostümen von Anja Rabes mit ebenso überzeichneten wie stimmigen Egotrips. Die Vernissage- und Party-Meute rammelt durch den Zuschauerraum raus und rein in Violettas Atelier. Raimund Bauers Bühne ist ein schwarzes Loch und erfüllt Funktionen als Schlafzelle und Broadcast-Studio einer Frau, welche die Liebe, die Entsagung, ihre Kunstproduktion und noch das eigene Sterben verdinglicht. Geldscheine wirbeln nicht nur, wenn Alfredo der Geliebten Violetta „heimzahlt“, was sie auf äußeren Zwang durch dessen Vater verbockt: die Treue, das Vertrauen, die Loyalität. Auch Alfredos Vater Giorgio – typisch vormodern – verwechselt Grundsätzliches, wenn er die Kunstfigur Violetta als sexuelles und domestizierbares Freiwild betrachtet.

Taejun Sun agiert als Alfredo mit authentischer Herzlichkeit bis zu Choleriker-Attacken. Leicht knarzig nahm Jochen Kupfer zur Premiere die Vater-Arie, welche die Staatskapelle mit vorsätzlich klebriger Ölspur unterlegte. Ylva Sofia Stenberg hat nach ihrer silbrigen Bellini-Giulietta fulminant zugelegt und macht als Violetta alles großartig.

Brigitta Muntendorf konsultierte offenbar einen kundigen Discjockey für Basic Beats im Raumklang-Equipment. Die Komponistin generierte kontrastierende, dabei immer respektvolle Soundclips neben Verdi. Bravourös spielt und singt dazu der exaltierte Opernchor (par excellence gecoacht von Jens Petereit): Er gibt eine trendig hochgezüchtete Gemeinschaft als queere Tummelmeute – mit Aktivparolen auf den Klamotten und im Hirn. „My sex my rule“ steht auf einem Shirt.

Jede Winzigpartie wird frei nach Andy Warhol ein temporärer Sekundenstar und geht dann wieder in der amorphen Masse unter. Zur spanischen Soirée bei Flora Bervoix (Luxusbesetzung: Sayaka Shigeshima) mimen die Frauen postfeministische Hennen-Karikaturen, denen ein extrem haariger Stier (Jörn Eichler als Gaston) und die Herren Toreros mit aus dem Schritt pimmelnden Gemächten nachpirschen. Dominik Beykirch und die Staatskapelle Weimar – inklusive Statisterie und Bühnenmusik – durchfurchen die fetzigen Partyszenen mit Verdis ureigenen Mitteln. Man macht Ernst mit der anno 1853 echt avantgardistischen Partitur. Muntendorfs letztes Inlay gilt dem Karnevalschor draußen mit Video­bildern des von Rechtsextremisten gewaltsam aufgemischten Bautzener CSD im August 2024.

Das sitzt so bravourös, dass am Ende ein Jubelorkan losbricht.

Roland H. Dippel

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