Berichte
Turbokapitalistisches Sterbe- und Liebesspiel
Nationaltheater Weimar reibt Verdis „La traviata“ an Club-Beats von Brigitta Muntendorf
Die Semperoper Dresden eröffnete 2021 Verdis vieraktige „Don Carlos“-Fassung mit einem neuen Orchesterprolog von Manfred Trojahn. Am Deutschen Nationaltheater Weimar ergänzten Chefdirigent Dominik Beykirch und Operndirektorin Andrea Moses in ihrer zweiten und dort letzten Verdi-Zusammenarbeit „La traviata“ an mehreren Stellen mit „elektroakustischen Inlays“ von Brigitta Muntendorf.

Giuseppe Verdi, „La Traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar mit Ilya Silchuk (Baron Douphol),
Ylva Stenberg (Violetta Valéry) und dem Opernchor des DNT. Foto: Candy Welz
Auf die Weimarer „Aida“, in der Rechtspopulisten die Macht übernehmen, folgte nun eine kalte Gegenwartstopographie ohne Champagneroperetten-Flair. Den religiösen Lack von Verdis 1853 uraufgeführtem Kurtisanen- und Tuberkulose-Drama schabte Moses gründlich ab. Nicht eine „Gestrauchelte“ stand im Zentrum, sondern eine sich dem System mit Herz, Seele und Verstand ausliefernde Ikone, deren historisches Vorbild Marie Duplessis war, die Geliebte ihres Roman-Nachschöpfers Alexandre Dumas und des Weimarer Hofkapellmeisters Franz Liszt. Nach der Premiere des turbokapitalistischen Überraschungseis blieb nur die Frage: Warum macht eine starke Frau wie Violetta Valéry den vom Wohlstandsbürger Giorgio Germont geforderten Entsagungsschmäh mit?
Rasante Aufgaben stellte Andrea Moses dem Opernchor in knallbunt quietschfidelen Party-Gegenwartskostümen von Anja Rabes mit ebenso überzeichneten wie stimmigen Egotrips. Die Vernissage- und Party-Meute rammelt durch den Zuschauerraum raus und rein in Violettas Atelier. Raimund Bauers Bühne ist ein schwarzes Loch und erfüllt Funktionen als Schlafzelle und Broadcast-Studio einer Frau, welche die Liebe, die Entsagung, ihre Kunstproduktion und noch das eigene Sterben verdinglicht. Geldscheine wirbeln nicht nur, wenn Alfredo der Geliebten Violetta „heimzahlt“, was sie auf äußeren Zwang durch dessen Vater verbockt: die Treue, das Vertrauen, die Loyalität. Auch Alfredos Vater Giorgio – typisch vormodern – verwechselt Grundsätzliches, wenn er die Kunstfigur Violetta als sexuelles und domestizierbares Freiwild betrachtet.
Taejun Sun agiert als Alfredo mit authentischer Herzlichkeit bis zu Choleriker-Attacken. Leicht knarzig nahm Jochen Kupfer zur Premiere die Vater-Arie, welche die Staatskapelle mit vorsätzlich klebriger Ölspur unterlegte. Ylva Sofia Stenberg hat nach ihrer silbrigen Bellini-Giulietta fulminant zugelegt und macht als Violetta alles großartig.
Brigitta Muntendorf konsultierte offenbar einen kundigen Discjockey für Basic Beats im Raumklang-Equipment. Die Komponistin generierte kontrastierende, dabei immer respektvolle Soundclips neben Verdi. Bravourös spielt und singt dazu der exaltierte Opernchor (par excellence gecoacht von Jens Petereit): Er gibt eine trendig hochgezüchtete Gemeinschaft als queere Tummelmeute – mit Aktivparolen auf den Klamotten und im Hirn. „My sex my rule“ steht auf einem Shirt.
Jede Winzigpartie wird frei nach Andy Warhol ein temporärer Sekundenstar und geht dann wieder in der amorphen Masse unter. Zur spanischen Soirée bei Flora Bervoix (Luxusbesetzung: Sayaka Shigeshima) mimen die Frauen postfeministische Hennen-Karikaturen, denen ein extrem haariger Stier (Jörn Eichler als Gaston) und die Herren Toreros mit aus dem Schritt pimmelnden Gemächten nachpirschen. Dominik Beykirch und die Staatskapelle Weimar – inklusive Statisterie und Bühnenmusik – durchfurchen die fetzigen Partyszenen mit Verdis ureigenen Mitteln. Man macht Ernst mit der anno 1853 echt avantgardistischen Partitur. Muntendorfs letztes Inlay gilt dem Karnevalschor draußen mit Videobildern des von Rechtsextremisten gewaltsam aufgemischten Bautzener CSD im August 2024.
Das sitzt so bravourös, dass am Ende ein Jubelorkan losbricht.
Roland H. Dippel |