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Farbe und Exzellenz
Neue Tanz-DVDs · Von Malve Gradinger
Strawinsky
Stravinsky & Les Ballets Russes. Vaslav Nijinsky, „Le Sacre du Printemps“; Michel Fokine, „L’ Oiseau de Feu“. BelAir classiques
Bei der Uraufführung von Igor Strawinskys und Waslaw Nijinkys „Sacre du Printemps“ durch die Ballets Russes am 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs Elysées liefert sich das Publikum eine regelrechte Schlacht. Die modern Gesinnten klatschen begeistert, die Traditionalisten pfeifen, schreien und schimpfen empört auf die avantgardistische Musik und den Atavismus dieses rhythmisch stampfenden heidnischen Frühlingsrituals. Da das Ballett nach nur acht Aufführungen abgesetzt wurde und Nijinsky es nicht notiert hatte, geriet es – trotz Léonide Massines Bearbeitung 1920 – nach und nach in Vergessenheit. Dass dieses Sig-nalwerk der anbrechenden Moderne dennoch 70 Jahre später wiedererstehen konnte, ist der Choreografin Millicent Hodson und dem Tanzhistoriker Kenneth Archer zu verdanken. Anhand von mündlichen Quellen, Fotografien und Zeichnungen haben sie „Sacre“ rekonstruiert (erhellend dazu auch das Interview mit den Beiden im Bonus-Teil).
Mit „Sacre“ und „L’Oiseau de Feu“ (1910) des anderen Ballets-Russes-Choreografen Michail Fokine (rekons-truiert von Isabelle Fokine und Andris Liepa) ist man unmittelbar am Ursprung der Ballettmoderne. Ganz nach Wunsch des Ballets-Russes-Impresarios Sergej Diaghilew sind es Gesamtkunstwerke, an denen auch Maler und Ausstattungskünstler wie Alexander Golovin, Leon Bakst und Nicholas Roerich beteiligt waren. Prachtvoll die Szenerie für das „Feuervogel“-Märchen, dunkel-farbglühend die Landschaft für das „Frühlingsopfer“. Zu Strawinskys eher pointiert impressionistischer „Feuervogel“-Partitur choreografierte Fokine zwar eine traditionelle Handlung, aber schon mit noch heute modernen Pas de deux für den Feuervogel und Ivan Tsarevich. Und zu Strawinskys rhythmisch explodierendem „Sacre“ jagte Nijinsky die Tänzer in einfachen Gruppenformationen, aber in höchst unklassischen und rhythmisch kompliziertesten Schritten über die Bühne. Für die schwierige Einstudierung, die 120 Probenstunden in Anspruch nahm, hatte man sogar Marie Rambert, Schülerin der Rhythmus-Koryphäe Jacques-Dalcroze, zu Hilfe gerufen. Beide Werke werden hier exzellent getanzt vom Ballett des St. Petersburger Mariinsky Theaters mit Valery Gergiev am Pult.
Ashton Celebration
Ashton Celebration – The Royal Ballet Dances Frederick Ashton. Opus Arte
Sir Frederick Ashton (1904-1988) hat ab Mitte der 1930er-Jahre und von 1963 bis 1970 intensivst als Leiter des Londoner Royal Ballet den britischen neoklassischen Stil geprägt: einen hochästhetischen, immer vornehmen, ungemein musikalisch-tänzerischen Stil. Ashton, das ist feinst geschliffene Fußarbeit und elegant frei beweglicher Oberkörper. Und Sir Frederick, übrigens bis jetzt der einzige britische Choreograf, der für seine Verdienste um das Ballett zum Ritter geschlagen wurde, ist anbetungswürdig vielseitig – wie gerade diese DVD offenbart. Sein Ravel-Ballett „La Valse“ (1958) ist ein einziger eleganter, sich ständig wiegend-walzernder Tanzrausch für einundzwanzig Ball-Paare; ein spritzig-frecher technisch virtuoser Pas de deux dagegen sein „Voices of Spring“ für eine Inszenierung von Johann Strauß‘ „Fledermaus“. In Kontrast dazu der trancehaft lyrische Pas de deux „Méditation“ (1971) für die Massenet-Oper „Thais“. Noch erstaunlicher anders wirkt die pointiert verlangsamte skulpturale Bewegung von je drei Tänzern in „Monotones I and II“ (1965/66), seinen beiden mysteriös-poetischen Satie-Balletten. Und in der von dramatischem Gefühl durchflammten Liebesgeschichte „Marguerite and Armand“ nach Alexandre Dumas’ „Kameliendame“ – 1963 kreiert für Dame Margot Fonteyn und den charismatischen 25-jährigen Exil-Russen Rudolf Nurejew –, hier interpretiert von der darstellerisch umwerfenden Tamara Rojo und dem Jungstar Sergei Polunin, erlebt man auch noch den grandiosen Erzähler Ashton. Ergänzend die Extras mit Solisten und Coaches.
La Bayadère
„La Bayadère“, ML: Pavel Sorokin. BelAir classiques
Mit „La Bayadère“ hat Marius Petipa 1877 ein Ballett überraschend abseits des damals gängigen klassischen Märchenambientes geschaffen. Hier gibt es keine Feen, Hexen und Verwandlungen. Hier geht es um Liebe, Eifersucht und Mord. In Anlehnung an das Drama „Sakuntala“ des klassischen indischen Dichters Kalidasa lieben sich die Tempeltänzerin Nikiya und der Krieger Solor, der jedoch aus Standesgründen die Radscha-Tochter Gamzatti heiraten muss. Als diese von Nikiya erfährt, schickt sie ihr ein Blumengebinde mit einer darin verborgenen Giftschlange, an deren Biss die Bajadere stirbt. Getroffen von ihrem Tod, folgt Solor in einer Art Trance seiner geliebten Nikiya ins Reich der Schatten. Dieser typisch romantische weiße Schatten-Akt mit seinen zweiunddreißig sich wie im Traum bewegenden Bajaderen einerseits, die tänzerisch farbige orientalische Atmosphäre des Liebes-Dreiecks andererseits machen „La Bayadère“ zu einem einzigartigen Juwel. Zumal Yuri Grigorovich in seiner Neuinszenierung einfühlsam schrittbereichernd brillante Variationen aus älteren Neuproduktionen eingeflochten hat. Dirigent Pavel Sorokin lässt dem so oft verachteten Ludwig Minkus seinen Melodien-Charme. Und das Bolschoi, angeführt von seiner Prima Svetlana Zakharova und dem neuen Star Vladislav Lantratov, wird seinem Ruf als Eliteensemble mehr als gerecht.
Malve Gradinger |