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Apokalypse im ewigen Eis
Anno Schreiers „Prinzessin im Eis“ in Aachen · Von Andreas Hauff
Ein Chor von Eisbären auf der Bühne ist zweifellos eine Seltenheit. Erstens sind die Tiere von Natur aus Einzelgänger, und zweitens spielt kaum ein Bühnenstück am Nordpol. Doch der Komponist Anno Schreier, der auf der Opernbühne bislang nur durch ernste Sujets aufgefallen ist, hat für das Theater Aachen eine „multinationale Polarkomödie mit Musik“ geschrieben, die haarscharf am apokalyptischen Abgrund zu balancieren scheint. Im Jahr 2015 werden demnach die Zustände in der Arktis so bedrohlich, dass die Eisbären sich miteinander Gedanken machen.
Keith Stonum, Herren des Opern- und Extrachors Aachen als Eisbären. Foto: Carl Brunn
In dem von Constantin von Castenstein verfassten Szenario geht es um eine internationale Arktis-Expedition, die den Auftrag hat, im Polareis die Genproben seltener und ausgestorbener Tiere für die Nachwelt einzulagern. Dass die Mannschaft zugleich nach wissenschaftlichen, organisatorischen und politischen Proporz-Gesichtspunkten zusammengesetzt ist, erschwert bereits ihr Gelingen, gibt aber dem Theater Gelegenheit zum lustvollen Spiel mit Rollen- und Nationalklischees. Und eine Wissenschaftssatire wird auch daraus. Denn bei den ersten Probebohrungen findet die Forschergruppe unter Leitung des deutschen Expeditionsleiters Ralf Schneupel (der schwedische Tenor Johan Weigel) etwas, was nicht im Handbuch steht: eine eingefrorene Prinzessin, die auf den versprochenen Märchenprinzen wartet und von der Gegenwart des Jahres 2014 nicht den geringsten Begriff hat. Den Expeditionsleiter etwa hält das schöne Dornröschen aus dem Eis (Katharina Hagopian) für einen schlechten Hofnarren.
Teils aus Ratlosigkeit, teils aus Experimentierfreude und teilweise auch aus erotischer Neugier entschließen sich die Forscher, das Märchenspiel mitzumachen. Alle Männer außer dem korrekten Schneupel treten als hochadlige Bewerber auf, während die beiden Frauen, eine quirlige chinesische Polarforscherin (Jelena Rakic) und eine kettenrauchende französische Ärztin (Eun-Kuyong Lim) den Hofstaat markieren. Doch weder der brasilianische Mechaniker mit Don-Juan-Eigenschaften (Patricio Arroyo) noch der Klimatologe von der Elfenbeinküste (Keith Stonum), weder der Geheimdienst-Mitarbeiter (von der NSA? Rüdiger Nikodem Lasa) noch das unzertrennliche russische Genetiker-Brüderpaar (Pawel Lawreszuk und Jorge Escobar) betragen sich höflich genug, um akzeptiert zu werden. Schließlich erkennt die Prinzessin im Expeditionsleiter den Gesuchten, und während er sich noch gegen ihre Annäherungsversuche verwahrt und Rat im Handbuch sucht, schleudert sie letzteres als schlechtes „Witzebuch“ in den Tiefschnee. Während die Wissenschaftler im Schneesturm danach suchen, entfernt die Prinzessin im Zelt die Präparate aus den Gläsern, denn diese braucht man ja schließlich zum Anstoßen bei der bevorstehenden Verlobungsfeier. Damit aber ist die Expedition gescheitert.
Schneupel malt sich schon verzweifelt den Ärger mit Geldgebern und EU-Bürokratie aus, da löst sich mit einem Donnerschlag ein Teil des Polareises. Die Prinzessin, die auf einer Eisscholle abtreibt, ruft nach ihm, und nach einigem Zögern springt er ihr nach – in die Welt des Märchens, aber mit zwei Tierpräparaten unter dem Arm. Erstarrt kauern die zurückgelassenen Wissenschaftler im Schneetreiben, und zum dritten Mal an diesem Abend erscheinen die Eisbären. Sie stellen lakonisch fest, die Menschen seien wieder einmal mit einem Projekt gescheitert, und eigentlich sei es sinnlos, ihnen unter diesen Umständen auch noch die Zukunft des Planeten Erde anzuvertrauen. Mehrmals geben die beiden vordersten Bären dem Dirigenten das Zeichen zum Abwinken, bis er endlich reagiert.
Schreier lässt das Stück mit sphärischen Klängen und Geräuschen, wie man sie aus der Neuen Musik kennt, beginnen und enden. Über weite Strecken nimmt die Musik einen leicht ironischen neoklassischen Ges-tus an, der an Prokofjew, Hindemith oder den grotesken Schostakowitsch der „Nase“ erinnert. Die Singstimmen sind in leichtfüßigem Parlando gehalten, Prinzessin und Chinesin singen an passender Stelle Koloraturen. Zu den patriotischen Phrasen des US-Amerikaners wird seine Nationalhymne zitiert, bei Nennung der Namen „Beethoven“ und „Napoleon“ erklingen die Anfänge der Marseillaise und der Schicksalssinfonie. Lateinamerikanische Rhythmen begleiten einen vom brasilianischen Teilnehmer initiierten Tanz. Frühbarock anmutende Ritornelle umrahmen das Ritual der Brautwerbung. In einem urkomischen „Lohengrin“-gefärbten Duett besingt die Prinzessin die Liebe, Schneupel hingegen die Wissenschaft. Das Bärenensemble schließlich parodiert den Chor der griechischen Tragödie, wobei Schreier sich in Melodie- und Bassführung an Kurt Weills choralartigem Männerchor-Stil anlehnt. Zitate und Stilzitate sind nicht plakativ eingesetzt, sondern augenzwinkernd geistreich verfremdet; die Kontinuität der Bühnenerzählung ist auch musikalisch gewahrt.
Unter Leitung von Christoph Breidler agieren das Sinfonieorchester Aachen, das Solistenensemble und der unter den Eisbärenfellen steckende Chor- und Extrachor exakt, animiert und witzig. Regisseurin Anna Malunat, Bühnenbildnerin Geelke Gaycken und Kostümbildnerin Mona Ulrich nehmen sich der erzählten Geschichte mit viel Liebe zum Detail an. Dank deutlicher Diktion, dank der Übertitel, dank des präzisen Spiels gibt es immer wieder viel zu lachen, doch hinter der Situationskomik und dem musikalischen Witz, oder wenn man so will, unter dem Eis, lauert eine durchaus bissige Gegenwartsdiagnose.
Andreas Hauff |