Vom Schicksal und von der Hoffnung
Enescus „Oedipe“ an der Oper Frankfurt · Von Wolf-Dieter Peter
Nach der zweimaligen Auszeichnung mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST lockt die Oper Frankfurt erneut – mit einer bislang meist „stummen“ Rarität, der 1931 fertig gestellten Vertonung des Ödipus-Mythos‘ durch den Rumänen George Enescu, inszeniert von Regie-Altmeister Hans Neuenfels, dirigiert vom Chef des Münchner Kammerorchesters Alexander Liebreich.
Simon Neal als Ödipus in der Bildmitte sowie der Chor der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus
Enescus nach langem Ringen 1936 uraufgeführtes Musikdrama „Oedipe“ erwies sich als verkanntes Meisterwerk. Liebreich entfaltete mit dem Frankfurter Museumsorchester allen spätromantischen Klangzauber der sofort zugänglichen und eingängigen Musik, die der Bühne dient, aber sie auch kommentiert – vom vehementen Ausbruch bis hin zur fahlen Verzweiflung, zu der Enescu ein Saxophon einsetzt. Den meist als Volksmasse auftretenden Chor zeichnet Neuenfels durch fast scholarenhafte Kostüme (Elina Schnizler) als zeitlich entrückte Lernende, die auch einmal von Hörsaalbänken aus das Geschehen verfolgen. Mal uniform, mal vereinzelt müssen die Chorsänger auf die Entsetzlichkeiten der Handlung reagieren, mal auch nur vokal mit Einzelstimmen, an anderer Stelle kompakt. All das gelang in der Einstudierung von Matthias Köhler: Der gut abgestufte Chorgesang bildete eine weitere, leuchtende Klangfolie, ergänzt zusätzlich durch die aus dem Off hereintönenden Chorstimmen der Erynnien.
Mit klarer Zeichengebung und dynamischer Abstufung führt Liebreich ein glänzendes Solistenensemble – bis in die Nebenrollen auch im Timbre bestens abgestuft: die schöne und liebevolle Ersatzmutter Merope von Jenny Carlstedt; die trotz aller Sonnigkeit vom Leiden des Vaters Oedipe verstörte Antigone von Britta Stallmeister; die herbe Jokaste von Tanja Baumgartner; die in ihrem Kurzauftritt als verführerisch phallische Sphinx förmlich betörende Katharina Magiera. Ähnlich die Männer – vom eitel-selbstgefälligen Beau Kreon Dietrich Volles, der nach Federkopfschmuck sich gleich die Krone aufsetzt, über den kriegerisch wuchtigen Laios von Hans-Jürgen Lazar bis hin zum Boten Phorbas, den Kihwan Sim mit anrührender Bass-Wärme ausstattete.
Als bühneninteressierter Dirigent hat Liebreich Regisseur Hans Neuenfels zugestimmt, den mitunter „Parsifal“-nahen, fast christlich auf Erlösung gestimmten langen vierten Akt des Werkes – Oedipe findet bei den Athenern einen friedlichen Tod auf Kolonos – zu streichen. Denn als Kenner mythisch antiker Stoffe will Neuenfels deren Aktualität szenisch beweisen – und da findet er in seiner aktuellen Weltsicht wenig von „Erlösung“. Auch andere, von der zentralen Frage entfernte Passagen wurden gekürzt, so dass in den pausenlosen 100 Minuten unausweichlich eine Frage im Zentrum stand: Kann ein Mensch sich gegen das Schicksal behaupten?
Neuenfels’ Oedipe ist ein Wissenschaftler von heute, der bei seinen Forschungen auf diese Herausforderung samt ihrem antiken Personal und einer Punker-Gruppe als Erynnien stößt und sich dem stellt. Das aus bühnengroßen dunklen Schultafeln bestehende Bühnenbild von Rifail Ajdarpasic vereint gleichsam alle Formeln heutiger Weltbeschreibung, chemische, philosophische, mathematische – doch trotz all dieses Wissens und der vom Schicksalsspruch ausgelösten Flucht aus der Heimat tötet Oedipe den ihm unbekannten Vater nach einer rüden Demütigung, die aus Bildern von US-Soldaten im Irak abgeleitet ist. Die betörende Sphinx, die Oedipe die Frage nach dem Wesen stellt, das stärker als das Schicksal ist, bezwingt er mit der vehementen Antwort „Der Mensch!“ – und in einer musikdramatisch faszinierenden Ergänzung des mythischen Originals lässt Enescu die Sphinx mit Gelächter sterben, in der Schwebe zwischen Verzweiflung über ihren Tod wie voller Hohn über die lächerliche Antwort. Als Retter Thebens lässt Oedipe sich zur Ehe mit der nicht erkannten Mutter verführen. Durch die Berichte von Phorbos wie dem Hirten, vor allem aber in der Auseinandersetzung mit dem blinden, alten Tiresias erkennt Oedipe sein Verhängnis. Neuenfels lässt den Seher als herrischen Greis und gefährlichen „Wahrheiten-Sager“ auftreten – deshalb in einem von Erynnien hereingerollten Gitterkäfig. Magnus Baldvinsson zeigt in Gesang und Spiel faszinierend, dass Wissen auch entsetzlich sein kann. Hier beeindruckt Bariton Simon Neal als Oedipe: Nach dem anfangs noch selbstbewusst Suchenden gelingt ihm der dramatisch große Bogen zum ausweglos Gescheiterten, der sich nun am Ende wissend selbst blendet. Mit ausgestochenen Augen lässt er sich von Tochter Antigone davonführen. Das setzt Neuenfels mit präziser Personenregie in teils heutigen, teils phantastisch ethno-antikisierenden Kostümen eindringlich gegen unsere wissenschaftlich fundierte Selbstgewissheit – und entlässt das beeindruckte Publikum mit der projizierten Herausforderung: „Es gibt keine Erkenntnis außer der Hoffnung.“
Dem mitdenkenden Musiktheaterfreund wird klar: Auch wenn wir mit Nelson Mandela eben einen beispielhaften Gegenentwurf zu Oedipe erlebt haben, unsere Kriegs- und Umweltkatastrophen lösen wir trotz all unseres Wissens nicht – es bleibt nur „Hoffnung auf…“
Wolf-Dieter Peter |