Sehr frei nach Wedekind
Helene Hegemanns „Musik“ an der Oper Köln · Von Christoph Zimmermann
Die Kölner Opernintendantin Birgit Meyer hat im Zusammenhang mit der Uraufführung von „Musik“ (Musik: Michael Langemann, Text: Helene Hegemann) darauf hingewiesen, dass die Domstadt schon immer eine Plattform für zeitgenössische Musik war. Beispiele dafür sind das Elektronische Studio des WDR in den 1950er-Jahren, heute unter anderem das 8-Brücken-Festival. Erinnert sei auch an die spektakuläre Premiere von Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ anno 1965. Bei alledem war es jetzt naheliegend, sich auch einmal in die Arbeit des Fonds Experimentelles Musiktheater NRW einzuklinken.
Gloria Rehm als Klara vor einer der zahlreichen Videoprojektionen mit wiederum Gloria Rehm sowie Dalia Schaechter als Klaras Mutter. Foto: Paul Leclaire
Das in der Ausweichspielstätte „Palladium“ gezeigte Ergebnis ist ein Spektakel sehr frei nach Frank Wedekind. Sein frühes Stück liegt mittlerweile über hundert Jahre zurück. Die junge Schriftstellerin (und in Köln auch Regisseurin) Helene Hegemann räumt ein, nur wenige Sätze vom Original beibehalten zu haben, welches sie ohnehin als „extrem chauvinistisch und verlabert“ empfindet. Ähnlich schmissige Statements hatte sie auch parat, als man ihrem Roman „Axolotl Roadkill“ nicht gekennzeichnete Zitate vorwarf. Nach der damals entbrannten Debatte kamen Entlastungsargumente allerdings sogar von der Literaturkritik.
Nun also Wedekind als Zitatenpool. Warum dann nicht lieber gleich ein neues Stück, in welchem sich die Autorin über persönliche soziale und emotionale Standpunkte wesentlich besser hätte auslassen können! Wollte sie Wedekind und sein in der Tat schon etwas angegilbtes „Sittengemälde“ in den Orkus schicken? In Gänze wäre das freilich nicht gelungen. Zwar sind auch die anderen Bühnenwerke Wedekinds keine Renner im heutigen Bühnenrepertoire, doch ist der Autor insgesamt noch relativ präsent. Aber vielleicht fand Helene Hegemann die Schilderung doppelbödiger Moral in „Musik“ doch reizvoll.
Wie auch immer: Von Wedekinds Klara, einer ironisch gezeichneten Opernheroine in spe (nicht von ungefähr lautet ihr Nachname „Hühnerwadel“), ist nicht viel übrig geblieben. Man mag sie belächeln, aber auch in einer Karikatur kann Tragik verborgen sein. Bei Helene Hegemann wird jedoch alles in dieser Richtung neutralisiert, abgeblockt, findet gerade mal bescheidenen Ausdruck im (filmischen) Finale. Hier trauert Klara um ihr Kind, Frucht einer Affäre mit ihrem Musiklehrer Josef Reißner. So wie Henryk Böhm diesen ichbezogenen Professor gibt, mit potentem Bariton und Midlife-Attraktivität, wird zwar Klaras Verliebtheit nachvollziehbar, die nachfolgenden tragischen Ereignisse entwickeln sich aber nicht folgerichtig. Den „Zusammenstoß zwischen brutaler Intelligenz und blinder Leidenschaft“ (Wedekind über seinen inhaltlich ähnlichen Einakter „Der Kammersänger“) muss man sich einreden. Und wenn dann auch noch die durch die Liaison ihres Gatten gedemütigte Else Reißner zu einer kokett selbstbewussten Salon-Lady umfunktioniert wird, die ihre eigenen erotischen Wege geht, fällt ein wichtiger personaler Kontrast in sich zusammen. Die Schauspielerin Judith Rosmair stakst wie ein Nachwuchs-Model über die Bühne – ein uninteressanter Charakter, eine überflüssige Figur.
Klara ist weniger extravagant gezeichnet, dennoch machen das Musiktheater-Stück, von vielen Sprechpassagen durchsetzt, und die (prinzipiell souveräne) Inszenierung der Autorin in Janina Audicks unauffälliger Ausstattung nicht ganz klar, ob bei dem Mädchen Mitleid angebracht ist. Mit Blick auf die vokal und darstellerisch gloriose Leistung von Gloria Rehm wird man das wahrscheinlich bejahen wollen. Die junge Sopranistin, die ihren Weg durch das Kölner Opernstudio machte, besitzt neben superber Stimme eine starke körperliche Präsenz, welche selbst den vielen Video-Großaufnahmen standhält. Ein Besetzungsglücksfall. Persönlichkeitsstark sind auch die Auftritte der Mezzosopranistin Dalia Schaechter als Klaras Mutter; ohne gestischen Aufwand gestaltet sie einen festen Charakter. Weitere Nebenpartien sind mit John Heuzenroeder (Franz, ein auf Else eifersüchtiger Schriftsteller) und Lucas Singer (Arzt) ansprechend besetzt. Die Tanzszenen sind überflüssig.
Michael Langemanns ausdrucksstarke, mit Pop-Elementen arbeitende, dennoch mitunter etwas retrospektiv anmutende (deswegen aber sehr sympathische) Musik steht zum theatralischen, von Videos nachgerade zugematschten Bühnengeschehen in einem denkbar großen Kontrast. Das Gürzenich-Orchester unter dem wachsamen Walter Kobéra, Leiter der Neuen Oper Wien, zeigt sich seinen Aufgaben gewachsen. Von dem ganzen Unternehmen bleibt jedoch der Eindruck zurück, dass zwei kreative Geister sich gesucht, aber nicht gefunden haben.
Christoph Zimmermann |