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Eine Stadt wird wachgerüttelt
Ein Porträt des Theaters Osnabrück · Von Christian
Tepe Eine typische Repertoirevorstellung der „Entführung
aus dem Serail“ am Theater Osnabrück: Die Abonnenten
bahnen sich ihren Weg durch die wogende Menge aufgeregter junger
Leute, darunter auch zwei, drei Mädchen, die ein Kopftuch
tragen. Als die Aufführung beginnt, verwandelt sich das erwartungsfreudige
Tuscheln flugs in gespannte Aufmerksamkeit. Viele der halbwüchsigen
Besucher waren noch nie im Theater. Für sie kommen die folgenden
drei Stunden der Eroberung eines neuen Kosmos‘ gleich. Sie
erfahren, dass die Opernbühne nichts mit einer vermotteten
Kulissenwelt gemein hat und erleben statt der von einigen befürchteten „schreienden
Fleischberge“ Sängerinnen und Sänger, die energiegeladen,
temperamentvoll und fesch agieren können. Vor allem jedoch
entdecken sie erstaunt, wie in den Konflikten der Protagonisten
und in der über 200 Jahre alten Musik plötzlich ihr eigenes
Seelenleben aufleuchtet und zur Bewusstheit drängt.
Theater
für alle Altersstufen
Knapp 14.000 Schüler besuchen pro Saison das Theater Osnabrück,
seitdem Intendant Holger Schultze die Schulen der Stadt für
sein ehrgeiziges Projekt gewinnen konnte, von der fünften
bis zur elften Klasse alle Pennäler jährlich einmal ins
Theater zu holen. Insgesamt liegt die Platzausnutzung bei knapp
80 Prozent. Das Repertoire mit Werken von Purcell, Mozart, Puccini,
Janácek, Lehár und Poulenc vereint die verschiedensten
Regiehandschriften zu einer gut ausbalancierten Gesamtschau auf
die Vielfalt zeitgenössischer Inszenierungsstile. „Ich
freue mich über jede Produktion, die anders ist. In einer
Stadt, wo es nur ein Theater gibt, ist es unsere Aufgabe, unterschiedliche Ästhetiken
und Stile an so einem Haus zuzulassen“, erläutert Schultze.
Auch dank seiner geradezu mephistophelisch anmutenden Umtriebigkeit
ist ihm in Osnabrück auf beispielgebende Weise gelungen, worauf
es in der deutschen Bühnenlandschaft künftig besonders
ankommen wird: auf die Identifikation aller Einwohner mit ihrem
Theater, auf die Klarstellung, dass das Theater den objektiven
Interessen der Bevölkerung dient. Das heißt für
Schultze nun keineswegs, sich einem vermeintlichen Publikumsgeschmack
anzubiedern. Wohl aber kommt es ihm darauf an, die Fülle der
menschlichen Ausdrucksformen, die das Theater bündelt, allen
Altersstufen zugänglich zu machen. Deshalb finden sich im
Programm des unter Schultze neu gegründeten Kinder- und Jugendtheaters „OSKAR“ auch
Kammeropern wie die schon mehrfach ausgezeichnete Produktion „Das
Tagebuch der Anne Frank“ von Grigori Frid oder das von vier
namhaften zeitgenössischen Komponisten eigens für junge
Menschen in den musikalischen Sprachen der Avantgarde verfasste
Musiktheater „Rotkäppchen, lauf!“. Lavinia A.
Seinen Anspruch, „das Theater zum kulturellen Zentrum der
Region auszubauen“, hat das Team um Holger Schultze rundherum
eingelöst, ja sogar übertroffen, indem das Haus zu einem
weithin beachteten Schauplatz des zeitgenössischen Musiktheaters
erblüht ist. Die jährlichen Opernuraufführungen
versteckt man nicht auf einer Experimentierbühne, sondern
präsentiert sie im „Großen Haus“ der neugierig
gewordenen Stadtöffentlichkeit. Die zuletzt herausgebrachte „Lavinia
A.“ von Komponist André Werner ist ein Parabelstück über
die allumfassende Gewaltakkumulation als letzter Kitt der modernen
Weltgesellschaft. An den Erfolg der „Bestmannoper“ vom
vergangenen Jahr (siehe „Oper&Tanz“ 3/2006) reicht
die Produktion nicht ganz heran. Die komplexe Klanganatomie Werners
zeugt zwar von einer bemerkenswerten technischen Kreativität,
doch fehlen der Oper – trotz aller Stichhaltigkeit bei der
musikalischen Vergegenwärtigung der unaufhaltsamen „Mechanik
des Grauens“ – das emphatische Moment und der unbedingte
Anklagegestus vergleichbarer Werke von Zimmermann oder Nono. Immerhin
beeindruckt die Aufführung durch den profunden Sachverstand,
den sich Ensemble, Chor und Orchester unter der sorgsamen Anleitung
von GMD Hermann Bäumer bei der Interpretation Neuer Musik
zu eigen gemacht haben. Nicht nur im zeitgenössischen Metier
zahlt es sich reichlich aus, dass in Osnabrück mit Bäumer
einer der selten gewordenen Chefdirigenten tätig ist, die
ihren Wirkungsmittelpunkt in der vorausschauenden, verantwortungsbewusst
gestaltenden Präsenz vor Ort statt nur in auswärtigen
Gastspielen sehen. Die Oper ist also bestens gerüstet für
die nächsten von Intendant Schultze anvisierten Uraufführungscoups: „Wir
halten es für ungeheuer wichtig im Musiktheater auch das Zeitgenössische
zu fördern und werden weitere Kompositionsaufträge erteilen.“ Chor und Ballettcompagnie
Zum unverzichtbaren Leistungsträger für solche Vorhaben
hat sich der aus aktuell 23 festangestellten Sängern bestehende
Chor entwickelt, der bei großen Partien der klassischen Literatur
oft von den 22 musikbegeisterten Damen und Herren des Extrachors
unterstützt wird. Chordirigent Peter Sommerer konnte die Klangqualität
des Vokalensembles in den letzten Jahren durch ein beharrliches
Feilen an Phrasierung, Dynamik und Artikulation nochmals steigern.
Zu seiner Methode verrät er, „dass man mit dem Chor
am einfachsten arbeitet, indem man die Sänger individualisiert.
Für mich sind die Sänger im Bewusstsein und in der Wahrnehmung
23 Künstler“. Dem kann der VdO-Ortsdelegierte Franz-Josef
Mertens nur beipflichten: „Man kennt die Fähigkeiten
der einzelnen Leute und die werden respektiert, geachtet und gefördert.“ Voraussetzung
für das erfolgreiche Bestehen des Wagnisses „Neue Musik“ ist
außerdem das gute Zusammenspiel von Chordirektion, Regie
und Dramaturgie, die stets gemeinsam darauf achten, dass die Sänger
mit ihren Kräften haushalten können, erläutert Chorvorstand
Stefan Kreimer mit Blick auf die „Lavinia A.“. Bei
dieser Oper mit ihrer zehnstimmig geteilten, rhythmisch höchst
vertrackten Chorpartitur agieren die Sänger fast unentwegt
auf der Bühne. Der Chor nimmt solche Herausforderungen mit „Leidenschaft
und Engagement“ an, berichtet Kreimer. Da wird schon mal
der Bus nach Hause vergessen, wenn nach der Probe oder Vorstellung
unter Kollegen das Stück weiterdiskutiert wird.
Ebenfalls durch ihre stark ausgeprägte künstlerische
Eigenart erregen die zehn Tänzer der Compagnie um Choreograf
Marco Santi Aufmerksamkeit, wobei allerdings bisweilen auch individuelle
Unterschiede bei der technischen Raffinesse beobachtbar sind. Das
mag zum Teil einer Auffassung von Tanztheater geschuldet sein,
bei der die Betonung weniger auf dem Tänzerischen als auf
dem Theatralischen liegt: Ein Bewegungstheater, das vom Misstrauen
am Althergebrachten, am sogenannten „guten Handwerk“ geprägt
ist. Santi hat erkannt, dass es um des authentischen Ausdrucks
willen notwendig ist, auch mit manchen Konventionen und lieb gewordenen
Sehgewohnheiten des inzwischen in die Jahre gekommenen Tanztheaters
zu brechen. Ob daraus ein kreativer Erneuerungsschub resultiert,
bleibt abzuwarten. Zuzutrauen wäre das Santi, der seine Potentiale
bisher eher zögernd genutzt hat. Am überzeugendsten vielleicht
bei der Studioproduktion „Silber“, einer Tanz-Hommage
an Andy Warhol und seine esoterische „factory“. Santis
Choreografie beschenkt das Publikum mit der entgrenzenden und entängstigenden
Fantasie dieser Freistätte produktiver Selbsterkundung. Die
Tänzer verwickeln die Zuschauer in körpernahe Interaktionen,
scheuen dabei nicht das Laute, Alberne und Vulgäre. Ein für
Santi sehr charakteristisches unterschwelliges Pathos verhindert
jedoch den Absturz des Ganzen in modische Trash-Akrobatik. Wem
das zu aufregend ist, der wird sich zumindest gerne von den regelmäßigen
Beiträgen der Compagnie für das Musiktheater wie unlängst
bei Purcells „The Fairy Queen“ verzaubern lassen. In
den Verbindungen der Künste sieht Holger Schultze ein eindeutiges
Statement, „um überhaupt nicht in die Situation einer
Spartendiskussion zu kommen“. Mit Arbeiten aller Sparten
wird das im Spätsommer zum zweiten Mal ausgerichtete Festival
für zeitgenössisches Theater „Spieltriebe“ aufwarten:
ein urbanes Gesamtkunstwerk, bei dem die ganze Stadt in einen ästhetischen
Ausnahmezustand versetzt wird. Das zeigt abermals: Wer sich für
innovatives Theater im deutschsprachigen Raum interessiert, der
muss Osnabrück auf seiner Rechnung haben.
Christian Tepe
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