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Terpsichores würdige Priesterin

Zum 100. Geburtstag von Lucile Grahn · Von Vesna Mlakar

„Zauberin! Bei Deinen Wunderspielen schwelgt Aug’ und Herz in Seligkeit...“ Im Nachlass von Lucile Grahn finden sich zahlreiche bedruckte Zettel, die in für die damalige Zeit typischen Verszeilen schwelgend von der Begeisterung ihrer Zuschauer zeugen: einfache Billets, die ihren Weggang bedauern oder ihre Wiederkehr erbitten. Über ihre tatsächliche Art zu tanzen, ihr Können auf Spitze oder ihre wahrhaftige Ausstrahlung verraten sie wenig. Doch es sind Relikte, die von der großen Verehrung für die Künstlerin sprechen. Noch heute wird Grahns zerbrechlich-ausgeblichen wirkender Ballettschirm mit anderen Nachlassgegenständen im Deutschen Theatermuseum München oder ein Paar ihrer zierlichen Spitzenschuhe in einer Privatsammlung gehütet. Denn die aus Dänemark stammende Primaballerina, die Deutschland zu ihrer zweiten Heimat erkor, war zuletzt von 1869 bis 1875 an der Münchner Hofoper tätig und überließ, da kinderlos, nach ihrem Tod ihren Besitz mittels einer Stiftung der Stadt. Am 4. April 2007 jährte sich ihr Todestag zum 100. Mal. Anlass, eine kleine Rückschau auf das Leben und die Karriere dieser Frau zu werfen, die sich in der – politisch wie künstlerisch vorrangig von Männern dominierten – zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur als Tänzerin, sondern darüber hinaus auch als Leiterin des Balletts in Leipzig (1858-1861) und München zu behaupten wusste.

Frühe Begabung

Lucile Grahn wurde am 30. Juni 1819 in Kopenhagen geboren und am 17. Juli in der Kirche der Garnisonsgemeinde auf die Namen Lucina Alexia getauft. Kurz vor ihrem vierten Geburtstag nahm der Vater das Mädchen erstmals zu einer Ballettaufführung mit, wodurch ihr frühes Interesse für die Tanzkunst geweckt wurde. Sie drangsalierte ihre Eltern so lange, bis diese sie in der königlich-dänischen Ballettschule einschrieben. Hier fiel ihr ausgesprochenes Talent schnell auf. Mit nur sieben Jahren ließ ihr erster Lehrer, Pierre Larcher, sie erstmals als Cupido öffentlich auftreten. Drei Jahre später, am 29. Mai 1829, vertraute er ihr die kleine Rolle des Zabi in seinem der Urfassung von Filippo Taglioni nachempfundenen Ballett „Danina, eller Joko, den brasilianske Abe“ an. Auch August Bournonville, dessen bis heute festgeschriebene, höchst virtuose Technik und abendfüllenden Hauptwerke den Grundstock des klassischen dänischen Repertoires bilden, erkannte das enorme Potential, das in der jungen Schülerin steckte und nahm sie unter seine Fittiche. Nachdem sie im September 1834 ihr offizielles Debüt in einem Pas de deux in der Oper „Die Stumme von Portici“ gegeben hatte, durfte sie 1835 die führende Rolle der Astrid in seinem Ballett „Valdemar“ verkörpern.

Erste Erfahrungen in Paris

August Bournonville hatte unter anderem bei August Vestris in Paris studiert und zwei Jahre als bevorzugter Partner von Marie Taglioni an der dortigen Opéra getanzt, bevor er 1830 nach Kopenhagen zurückkehrte und seinen Posten als Leiter und Choreograf des Königlichen Theaters antrat. Während eines erneuten Besuchs in der französischen Hauptstadt im Sommer 1834 sah er – zwei Jahre nach der sagenhaften Premiere am 12. März 1832 – Filippo Taglionis Ballett „La Sylphide“, zu dem Adolphe Nourrit das Libretto geliefert hatte. In seiner Begleitung befand sich die 15-jährige Lucile Grahn. Ohne zu zögern beschloss Bournonville, das Stück, das als wegweisend für das romantische Ballett gilt, für sie am heimischen Theater in Szene zu setzen. Da er aber die Rechte für die Originalmusik von Jean-Madeleine Schneitzhoeffer nicht bekommen konnte, gab er kurzerhand eine neue Partitur bei dem jungen norwegischen Komponisten Herman Severin von Løvenskjold in Auftrag, was ihm zugleich auch ermöglichte, die in Paris von Marie Taglioni kreierte Titelrolle choreografisch neu zu gestalten und ganz auf das Talent seines Schützlings abzustimmen. Außerdem maß er der Partie des James Reuben, die er selbst übernahm, mehr Gewicht bei. Trotz einer im Vergleich zur französischen Version bescheideneren Maschinerie für den Auftritt der Sylphiden im zweiten Akt wurde seine Neufassung mit der noch nicht volljährigen Grahn an der Spitze am 28. November 1836 ein Erfolg. Vergleichbar der „Giselle“ gehört „Sylfiden“ (so der dänische Originaltitel) seither in ungebrochener Tradition zum Prüfstein für jede junge Ballerina des Königlich-Dänischen Balletts.

Abschied von Dänemark

Doch das enge Verhältnis zu ihrem ersten Mentor sollte bald Brüche erleiden, der Aufenthalt in Paris für die heranwachsende Künstlerin prägend bleiben. Als sie 1837 die Kitri in Bournonvilles Einakter „Don Quichote“ tanzte, lag ihr ganz Kopenhagen zu Füßen. Doch persönliche Unstimmigkeiten führten dazu, dass sich Grahn, die die amourösen Avancen ihres Lehrers nicht länger ertragen wollte, mit Hilfe der Prinzessin Wilhelmina, der Tante des Königs, nach Paris beurlauben ließ, wo sie bei Jean-Baptiste Barrez für ihr Debüt an der Opéra trainierte. Ein Wunsch, den die Rückberufung in ihre Geburtsstadt für den Auftritt in einer Sondervorstellung zu Ehren der Königin vorläufig zunichte machte. Entschlossen, ihr Ziel dennoch zu erreichen, reiste Lucile Grahn im folgenden Sommer wieder nach Paris und reüssierte diesmal tatsächlich am 1. August 1838 mit einem Pas de deux in „Le Carnaval de Venise“ an der Seite von Guillaume Coustou. Nur ihr Lächeln sei etwas zu forciert, kritisierte der große Ballettliebhaber Théophile Gautier und lobte ansonsten ihren Charme und ihre natürliche Grazie.

Noch einmal zwang ihr Vertrag mit dem Königlichen Theater sie zurück nach Dänemark, aber der Konflikt mit dem Lehrmeister war nicht mehr lösbar. Am 23. Februar 1839 trat Lucile Grahn mit dem spanischen Charaktertanz „El Jaleo de Xeres“ ein letztes Mal vors Publikum, bevor sie Kopenhagen für immer den Rücken kehrte und ihre verheißungsvolle Theaterlaufbahn für die ungesicherte Zukunft einer gastierenden Tänzerin aufgab. Bereits am 1. Juni 1839 unterzeichnete die Zwanzigjährige ein Dreijahresengagement an der Pariser Opéra. Der einzige Kontakt zur fernen Heimat verblieb bis zu deren Tod 1885 ihre Mutter.

Konkurrentinnen

Es dauerte nicht lange und Grahns steigende Popularität ließ bei der österreichischen Kollegin Fanny Elssler die Alarmglocken schlagen. Nur weil diese kurzfristig erkrankte und Operndirektor Duponchel, anstatt das Programm (wie von der Elssler erwartet) zu ändern, die Hauptrolle in „La Sylphide“ an Lucile Grahn abgab, bekam sie die Chance, in einem eigenständigen Ballettwerk zu triumphieren. Wie wankelmütig das Glück allerdings sein kann, erfuhr die Gefeierte bald darauf am eigenen Leib: Kurz nachdem sie das Angebot angenommen hatte, in dem neuen Ballett von Joseph Mazilier „Le Diable amoureux“ die Hauptrolle zu interpretieren, verletzte sie sich während der Proben so schwer am Knie, dass sie – wohl auch bedingt durch die Konkurrenz ihrer Einspringerin Lisa Noblet – ihre Karriere für zwei Jahre unterbrechen musste, bevor sie wieder auf die Bühne zurückkehren konnte. In Paris jedoch tanzte sie nie wieder. Dennoch verhalf der Erfolg ihr zu einer Verpflichtung nach St. Petersburg. Noch im selben Jahr gastierte sie auch in Mailand an der Scala und debütierte 1844 in London am Drury Lane Theatre. 1845 wechselte sie ans Her Majesty’s Theatre, wo Jules Perrot Ballettmeister war, um in zweien seiner Stücke zu glänzen. Den Höhepunkt dieser Ballettsaison aber bildete Perrots legendäres „Pas de Quatre“, das bei Publikum wie Presse für Sensation sorgte: Zum ersten (und einzigen Mal) traten die vier größten Ballerinen ihrer Zeit gemeinsam in einem Divertissement auf. Die Reihenfolge ihrer Auftritte entsprach zwecks Vermeidung weiterer Rivalitäten ihrem Alter: Lucile Grahn (die jüngste und glückliche Vertreterin von Fanny Elssler, die ihrerseits die Mitwirkung verweigerte), Carlotta Grisi, Fanny Cerrito und Marie Taglioni. In dieser Originalbesetzung erlebte das Werk vier Aufführungen, wobei die dritte am 12. Juli 1845 von Queen Victoria und Prince Albert besucht wurde.

Eigene Choreografien

1846 eröffnete Lucile Grahn die Londoner Saison mit Perrots neuem dramatischem Ballett „Catarina, ou La Fille du Bandit“ (das sie später selbst immer wieder nachchoreografieren sollte) und „Le Jugement de Paris“. Stets bereit, sich anderen Herausforderungen zu stellen, begann sie danach, in Eigenregie als Tänzerin und Produzentin von ihr selbst stammender Werke (z. B. „Bacchus et Ariadne“) durch ganz Europa zu touren. Sie überzeugte durch kluge Entscheidungen, ausdauernden Arbeitselan und durch höchste tänzerische Qualität. Ein Jahr, nachdem sie ihrer Liebe zu Deutschland mit einem Umzug nach Hamburg Ausdruck verliehen hatte, reproduzierte sie 1849 Perrots „La Esmeralda“ in Berlin – ein Stück, das sie auch für ihren ersten Münchner Auftritt am 1. März 1851 wählte. „Giselle“, „Yelva“ und „Des Malers Traumbild“, die Neuproduktion „Undine“ oder „Die Wassernixe“ folgten. Von Anfang April bis Ende Oktober 1855 währte ihr dritter Aufenthalt in der bayerischen Stadt, während dem sie ihren berühmten Partien des ersten (1850/51) und zweiten Gastspiels (1851/52) noch die Neueinstudierung von „Catarina“ zu Musik von Ernest Deldevèze (anstelle von Cesare Pugni wie in der Urfassung) hinzufügte.

Zweite Karriere: Ballettmeisterin

Im Zuge ihrer Einstudierung für die Szenen der Bajaderen Ninka, Zoloé (getanzt von Lucile Grahn) und Fatmé in Aubers Ballettoper „Der Gott und die Bajadere“ lernte sie den englischen Tenor Friedrich Young kennen, den sie am 6. Januar 1856 heiratete. Damit zog sie sich im Alter von 37 Jahren von der Bühne zurück, schlug eine zweite Laufbahn als Ballettmeisterin am Leipziger Staatstheater (1858-1861) ein und begleitete ihren Mann zu seinen Engagements – bis dieser sich bei einem Sturz in eine offenstehende Versenkung ein schweres Rückenmarks- und Gehirnleiden zuzog, das ihn die verbleibenden Jahre an den Rollstuhl fesselte und trotz aller Fürsorge 1884 in der Irrenanstalt zu Kennering sterben ließ. Lucile Grahn überlebte ihn um 23 Jahre und kehrte – 13 Jahre nach ihrem letzten Gastspiel – als Ballettmeisterin und Direktorin des Opernballettinstituts nach München zurück (1869-1875). Die Begabung dafür hatte sie schon während ihrer aktiven Laufbahn als Tänzerin entwickeln können, seit sie im Herbst 1848 nach Deutschland gekommen war und die Ballette, deren Hauptrollen sie tanzte, selbstständig mit den jeweiligen Solisten und dem Ensemble vor Ort erarbeiten musste. In Hamburg, dann in Berlin, Dresden, Leipzig, München, Hannover, Frankfurt, Darmstadt und anderen Städten stellte sie sich auf die vorherrschenden Verhältnisse der Theater ein und passte ihre Einstudierungen dem Umfang und der Qualität des jeweiligen Ensembles, der Größe des Bühnenraums und den vorhandenen Ausstattungsmöglichkeiten an. Außerdem wirkte sie im Verlauf ihrer Münchner Zeit an Opernproduktionen mit. So choreografierte sie für die Erstaufführung von Richard Wagners „Tannhäuser“ (1873) das Bacchanal im ersten Akt und arbeitete auch bei „Rheingold“ und den „Meistersingern von Nürnberg“ mit dem Komponisten zusammen. Noch heute erinnert in der bayerischen Landeshauptstadt eine Straße neben dem Prinzregententheater an die erste international bekannte dänische Tänzerin und eine der faszinierendsten Persönlichkeiten der romantischen Ballettepoche.

Vesna Mlakar

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