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Es ist und bleibt ein Abenteuer
Thomas Hennig über Auslandserfahrungen eines Chorleiters
Thomas Hennig (geboren 1964), Chorleiter und Komponist, hat, wie
er selbst sagt, ein „Auslandssternchen“ in seiner Vita.
Sein Dirigier- und Kompositionsstudium in Hannover, das er 1989
abschloss, ergänzte er durch ein Studium der Musikwissenschaft
und Philosophie in Osnabrück. Ein Ruf als Chordirektor ans
Brandenburger Theater im Jahr 1990 hinderte ihn daran, dieses Studium
abzuschließen. 1998 beendete er seine Tätigkeit, weil
er vom Bundesland Brandenburg ein Kompositionsstipendium erhielt.
Seitdem ist Thomas Hennig freiberuflich tätig, mehrfach war
er im Ausland.
In Brasilien machte er als Chorleiter mit dem Kammerchor Brandenburg
verschiedene Konzertreisen und erhielt dort auch Kompositionsaufträge.
Später arbeitete er in den USA, kürzere Arbeitsaufenthalte
folgten im europäischen Ausland, zum Beispiel in der Schweiz,
in Frankreich und Tschechien. 2003 schließlich erhielt er
die Anfrage von der Staatsoper Antalya, dort als Chordirektor tätig
zu werden. Zunächst übergangsweise, dann fest ging er
in die Türkei und blieb insgesamt zwei Jahre dort. Über
seine Erfahrungen im fremden Land sprach für „Oper &
Tanz“ Barbara Haack mit dem vielseitigen Musiker.
Oper & Tanz: Sie haben einen Teil Ihres bisherigen
Berufslebens im Ausland verbracht. Was sind für Sie die Voraussetzungen
für eine gelungene Auslandstätigkeit? Welches ist die
Motivation?
Thomas Hennig: Wichtig sind zwei Dinge. Erst einmal
muss die eigene Biografie dazu passen. Man muss daran Spaß
haben, in der Welt herumzufahren und sich auf neue Situationen einzustellen.
Dazu kommt, dass die Arbeitsmarktsituation in Deutschland für
unsere Berufe nicht gerade rosig ist. Ich denke, ein Auslandsaufenthalt
ist eine gute Möglichkeit auszuweichen, sich etwas Neues aufzubauen
und auch zu sehen, dass andere Länder mit ganz anderen Wertschätzungen
daran gehen.
O&T: Wie sind die Strukturen der Oper in der
Türkei? Was ist ähnlich, was ist ganz anders?
Hennig: Die Strukturen sind ganz anders als bei
uns. Es gibt fünf türkische Staatsopern. Die Staatsoper
Antalya ist die jüngste, sie ist erst sieben Jahre alt. Es
gibt eine Generalintendanz in Ankara, die über allem wacht.
Das ist die Schaltzentrale. Die Entscheidungsbefugnisse bündeln
sich schlussendlich dort.
O&T: Gilt das auch für Repertoire-Entscheidungen?
Hennig: In die Repertoire-Entscheidung wird zumindest
hineingeredet. Das ist mit einer gewissen Problematik verbunden,
die einen hemmt. Auf der anderen Seite ist die straffe Organisationsstruktur,
wie wir sie zum Beispiel vom deutschen Stadttheater kennen, dort
nicht gegeben. Da fällt plötzlich irgendjemandem irgendetwas
ein, und dadurch kommt unter Umständen eine Opernproduktion
zu Fall. Problemlösungen müsste man vor Ort angehen, aber
dann greift die Generalintendanz in Ankara ein, und bestimmte Sachen
funktionieren nicht mehr.
Zentralistisch ist auch die Ausbildung der Chorsänger. Der
Abschluss des Studiums wird zusammen mit dem Kulturministerium abgenommen.
Dann gibt es Planstellen für das ganze Land. Ist die Planstelle
einmal besetzt, gibt es keinen Weg zurück; die Leute sind dann
sicher.
O&T: Wie Beamte also?
Hennig: Quasi wie Beamte. Von dieser Regelung ist
man abgerückt, weil man feststellte, dass mehr Personal benötigt
wird, als man bezahlen kann: Neben diesen Planstellen gibt es nun
Honorarstellen. Die Inhaber dieser Stellen werden für die Proben
und Auftritte bezahlt. Aber sie müssen immer wieder neu antreten
und verfügen nicht über diese große Sicherheit.
O&T: Würden Sie sagen, dass die Qualität
der Ausbildung beziehungsweise die Qualität der Chorsänger
ähnlich ist wie in Deutschland?
Hennig: Das kann man schon sagen. In Antalya habe
ich eine besondere Situation vorgefunden: Die Oper ist jung, neu,
und die Sänger, die sich dort vorstellen, müssen flexibel
sein. Ich hatte 50 Chorsänger, die zum größten Teil
jünger waren als ich selbst und stimmlich noch sehr unverbraucht.
Es sind sehr gute Sänger dabei, musikalisch wie auch stimmlich.
O&T: Gibt es generelle Unterschiede in der
musikalischen Arbeit im Vergleich zu Deutschland?
Hennig: Die gibt es. Das Entscheidende ist, dass
das Solfeggieren in der Arbeit eine sehr wichtige Bedeutung hat.
Das Do-Re-Mi-Fa-Sol-La-System funktioniert so, dass eigentlich alles
vom Blatt gesungen wird, und zwar immer mit diesen Tonsilben. Der
Text steht zunächst im Hintergrund. Es gibt deutsche Kollegen,
die dort arbeiten und damit nicht umgehen können oder wollen.
Damit macht man sich aber sicherlich keine Freunde, weil dies ein
System ist, dessen Basis bereits bei der Ausbildung in den Schulen
gelegt wird. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit mit
dieser Methode zunächst sehr langsam voran geht. Aber nach
zwei Proben fällt plötzlich der Groschen und man hat eine
ganz andere Ausgangsbasis. Versucht man, das zu brechen und es anders
zu machen, ist die Gefahr groß, dass man den Prozess verlangsamt.
Insofern habe ich gerne dazugelernt.
Wichtig ist auch, ist, dass es an einem solchen Haus immer eine
Gesangspädagogin gibt, die sich um die Sänger kümmert…
O&T: … mit der Sie dann auch zusammengearbeitet
haben?
Hennig: Ja, ich habe den Weg gleich gesucht. Die
Arbeit mit ihr ist natürlich insbesondere für junge Leute
sehr wichtig. Ich hatte dort auch einen Kinderchor mit 30 oder 40
Kindern. Da wäre so manches Stadttheater neidisch. Ich hatte
einen Extrachor und einen Kammerchor, mit dem ich eine Konzertreise
nach Nürnberg und Berlin gemacht habe. Ich kam übrigens
dorthin, und die Sänger wollten sofort das Mozart-Requiem machen.
Es gab ein Projekt, das ich leider nicht mehr realisieren konnte,
weil es an der türkischen Organisation gescheitert ist: Es
gibt einen großartigen Komponisten: Ahmed Ahnan Saygun, der
ein großes Oratorium, „Yunus Emre“, geschrieben
hat. Da hätte ich gerne die Brücke geschlagen.
O&T: Sie meinen Brückenschlag im musikalischen
Sinne?
Hennig: Ja, das war ohnehin mein Ziel – in
diesem Fall zwischen der türkischen Musik und einem Mozart-Werk.
Wichtig für die Arbeitsweise ist auch, dass es bestimmte Positionen
gibt, die mit Hierarchien zu tun haben und die man nach Möglichkeit
beachten soll, damit man niemanden verletzt und sich dann ins Fettnäpfchen
setzt. Diese Positionen dürfen nicht angetastet werden. Ein
Chordirektor ist in der Türkei ein Maestro. Er wird als solcher
angesprochen, und wenn man darauf lieber verzichtet, geht das schnell
schief, weil die Arbeitsweisen letztlich auf diesen Hierarchien
basieren.
Es ist auch üblich, dass bei allen Proben ein Korrepetitor
sitzt, so dass man als Chorleiter die Hände frei hat. Das bringt
nicht nur Vorteile; man muss dadurch seine Arbeit umstrukturieren.
In der Türkei wird der Chor übrigens vom Chordirektor
eingesungen. Das hat damit zu tun, dass einige Sänger zu faul
sind, sich zu Hause einzusingen. Bei uns ist es natürlich auch
so, dass die Leute sich nicht einsingen, aber man spricht nicht
darüber.
O&T: Welche praktischen Tipps haben Sie für
Kollegen, die Interesse an der Arbeit im Ausland haben?
Hennig: Das wichtigste ist, dass man hinsichtlich
der unterschiedlichen Mentalitäten flexibel ist. Einsatzbereitschaft
und grundsätzliche Lernbereitschaft muss man mitbringen und
möglichst schnell ein Gespür für ein ausgewogenes
Verhältnis zwischen Lehren und Lernen entwickeln.
Ganz wichtig ist der Umgang mit Sprache. Gutes Englisch ist Voraussetzung.
Wenn man nur die eigene Sprache spricht, hat man schon viele Negativpunkte.
Neben dem Englischen ist es auch wichtig, dass man sich um die Landessprache
bemüht.
O&T: Haben Sie Türkisch gelernt?
Hennig: Ich habe es nicht richtig gelernt, aber
ich konnte zumindest meine Proben damit bestücken. Vor allem
musikalische Terminologien sollte man sich aneignen.
Ich würde außerdem jedem, der in so ein Land fährt,
raten, auf keinen Fall den Anschluss an Deutschland völlig
aufzugeben. Man muss einfach wissen – gerade bei der jetzigen
Arbeitsmarktsituation in Deutschland –, dass man den Fuß
nicht wieder hinein bekommt. Wenn man nicht alle Brücken abbrechen
will, muss man sich damit abfinden, aus dem Koffer zu leben. Das
halte ich für wichtig, weil man sonst Entwicklungen in Deutschland
verpasst und sich dem anderen Land ausliefert.
O&T: Sie sind jetzt wieder in Deutschland?
Hennig: Ich habe meinen Vertrag zum Ende des letzten
Jahres gekündigt und versuche, mich hier wieder sesshaft zumachen.
Ich merke, wie schwierig das ist.
Auf der anderen Seite rate ich jedem, den Gästestatus in dem
Land, in dem man arbeitet, möglichst schnell zu verlassen.
Man sollte das Hotel aufgeben, sich eine eigene Bleibe suchen und
den Alltag leben. Sonst wird das immer eine unnatürliche Situation
bleiben und es wird auch in der Probenarbeit und im Umgang mit den
Leuten nie eine richtige Offenheit geben.
O&T: Wie sieht es mit der Honorierung beziehungsweise
Entlohnung aus?
Hennig: Man muss sich auf jeden Fall darauf einstellen, dass man
auf einem ganz anderen Lohnniveau arbeitet und dabei außerdem
viele zusätzliche Ausgaben hat. Es ist und bleibt ein Abenteuer,
und man muss sich diese Flexibilität leisten können. O&T:
Was erwartet der Arbeitgeber, was erwarten die Sänger von einem
deutschen Chordirektor?
Hennig: Von einem deutschen Chordirektor wird immer
etwas Besonderes erwartet. Vor allem natürlich die europäische
Standardliteratur. Man muss als Chordirektor damit rechnen, dass
die Leute als Erstes die Zauberflöte singen wollen oder etwas
anderes, das mit dem „deutschen Kulturerbe“ zu tun hat.
Dazu kommt, dass alle Welt weiß, dass Deutschland eine gewichtige
Theater- und Kulturtradition hat. Von der möchte man partizipieren.
Man möchte erfahren, wie dieses System funktioniert. Man erwartet
auch straffe Arbeitsweisen und diszipliniertes Verhalten. Ein deutscher
Chordirektor, der zu den Proben immer zu spät kommt, weil die
Leute auch zu spät kommen: Das ist nichts.
O&T: Was muss ein Chordirektor tun, der ins
Ausland gehen will? Muss man sich bewerben? Wird man gefragt?
Hennig: Ich bin von verschiedenen Seiten angesprochen
worden. Es war aber auch so, dass ich bei der ZBF ein „Auslands-Sternchen“
hatte. Es ist auf jeden Fall günstig, der ZBF zu signalisieren:
Ich gehe auch ins Ausland. Zudem sollte man Kontakte pflegen zu
Kollegen, die schon im Ausland waren. Ich selbst bin auch gerne
bereit zu vermitteln.
Vieles lässt sich nicht steuern, einiges ergibt sich einfach.
Es wird vielleicht auch nicht von heute auf morgen passieren. Aber
es gibt viele Leute, die im Ausland arbeiten. Das ist vor allem
etwas für junge Kollegen, die sich hier noch nicht fest eingerichtet
haben und ihre Flexibilität nutzen können.
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