Die Kraft der Musik
„Lohengrin“ in Chemnitz · Von Marie-Louise
Gilles
Die Neuproduktion eines bekannten und beliebten Werkes des Musiktheaters
stellt die Theaterleitung vor die Frage: Spielen wir das Stück
und ziehen uns damit den Spott der übersättigten Sensationshungrigen
zu oder folgen wir dem Trend der Zeit und dekonstruieren das Stück
zu Fetzen mit Nazi-Mänteln für die Politologen, mit Unbehaustheits-Koffern
für die Soziologen, Müll für die Ökologen, mit
ekelhaften Traum-Assoziationen für die Psychologen und unverständlichen
Sex-Symbolen für die Ethnologen? Dabei beinhaltet der „Lohengrin“
Mythos und Geschichte, Märchen und Tragödie, also Stoff
genug, um das Publikum zu fesseln, genauso wie es durch die Kraft
der Musik seit der Uraufführung durch Franz Lizst in Weimar
geschieht. Und so auch jetzt bei der Lohengrin-Premiere in der Oper
Chemnitz.
Die Robert-Schumann-Philharmonie unter der Leitung ihres GMD Niksa
Bareza zauberte die blau-silberne Vision der Grals-Welt mit filigraner
Zartheit und farbenreich, sei es schwelgerisch beim Brautgemach
oder beim martialischen Donner der kriegerischen Szene oder beim
Fest der Trompeten des außergewöhnlichen „Weckrufs“.
Das Orchester und sein erfahrener Chef tragen die Musik und die
Sänger, er hetzt sie nicht wie viele junge Pult-Technokraten.
Der bewährte Meister Reinhard Zimmermann baute ein praktikables
Bühnenbild, das reiche Staffelungen und Gänge erlaubt,
an denen die Spannungsverhältnisse der Figuren abzulesen sind.
Die Kostüme von Elke Eckardt deuten ein morbid-bürgerliches
19. Jahrhundert an, denn die Farben Schwarz und Lila legen Trauer
über die Gesellschaft. Lohengrins Silbermantel, der weiß-silbern
verpuppte Gottfried-Schwan und Elsas wunderbares Spitzengewand zur
Hochzeit sind die einzigen Farbtupfer, während der waldmeistergrüngrundige
Rosentapeten-Schleier und das Brautbett mit Rosenblättern bestreut
wohl ein augenzwinkernder Tribut an die Übersüße
des Brautchores sind. Regisseur Michael Heinicke formte aus dem
Ensemble intelligenter Sängerdarsteller Charaktere, die mit
sorgsamer Pädagogik aus den Fähigkeiten der Mitwirkenden
entwickelt wurden.
Gudjon Oskarsson, König Heinrich, ist ein Volkskönig,
dem die Realitäten der bevorstehenden Hunnenschlacht mehr am
Herzen liegen als die Seelenqualen eines Herzogstöchterleins.
Er singt mit prachtvollem Bass, von der Tiefe gleichmäßig
wohlklingend bis in die Höhen.
Lohengrin in Gestalt von John Charles Pierce, jeder Zoll ein uneinnehmbarer
Gotteskrieger, erfahrener Heldentenor, tut sich schwer mit Zärtlichkeiten
und der hohen Lage der Partie. Immer wieder aber singt er Phrasen
mit der außergewöhnlichen Schönheit seines Timbres.
Astrid Weber ist eine moderne Sing-Darstellerin von perfekter Körper-
und Stimmbeherrschung. Von der sehnsuchtsvollen Pantomime im Vorspiel
über die unterschiedlichen Situationen von Freud und Leid ihres
kurzen Lebens bis zum verzweiflungsvollen Wahnsinns-Ende zeigt ihre
Elas mit tadellos geführter Stimme und geschmeidiger Körpersprache
Richard Wagners träumerisches „Weib“, das für
die Erlösung des Mannes in den Tod geht.
Hannu Niemelä als Friedrich von Telramund ist ein hinreißendes
Ereignis. Glatzkopf, tiefer Brustausschnitt, Springerstiefel und
schnelle, hellwache Bewegungen weisen ihn als Meister in Kampfsportarten
aus. Die Darstellung dieses spannungsreichen Charakters ist ein
Bravourstück für einen intelligenten Heldenbariton. Wenn
man ihm zuschaut , vergisst man alles Getöne ringsum. In vollem
Besitz seines solide geschulten Stimmorgans meistert Hannu Niemelä
die Anstrengungen der Partie, gestaltet sie farbenreich und wohlklingend.
Wenn er erschlagen ist, verliert die Vorstellung an Spannung und
der Schluss mit Klein-Gottfried als Zukunftslösung ist unbefriedigend.
Nur eine Figur könnte einen Weg weisen: Ortrud, von Richard
Wagner als Hass-Figur seiner Angst vor der starken Frau gestaltet.
Es ist eine Freude, eine attraktive, charmante Yumi Koyama als Ortrud
zu erleben, die auch die athletischen Stellen ihrer Partie mit ihrer
Willenskraft so bändigt, dass sie völlig selbstverständlich
klingen. Perfekt ist ihre Diktion.
Dietrich Greve als Heerrufer brachte mit gut fokussierter Stimme,
gekonnter Diktion und dienstlichem Eifer beim Verlesen der Erlasse,
bei denen er sich manchmal durch ein Schlückchen Zielwasser
stärken musste, eine humorige Note ins männliche Macht-Getöse
und die prächtig singenden Chor-Kollegen der Opern Leipzig,
Dresden, Kassel und Berlin genossen offensichtlich den Betriebsausflug
als Meistersinger in Uniform. Die brabantischen Edlen agierten und
sangen engagiert und die vier Edelfrauen bildeten ein im Klang delikates
Quartett.
Fazit: Hingehen, hinhören, hinschauen, nachdenken! Lohengrin
ist und bleibt ein Wunder!
Marie-Louise Gilles
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