Im Guckkasten in den Tod
Younghi Pagh-Paans „Mondschatten“ in Stuttgart –
Von Marco Frei
Tonangebendes zeitgenössisches Musiktheater ist abstrakt.
Dieser Trend äußerte sich nicht zuletzt auf der diesjährigen
10. Münchener Biennale für neues Musiktheater. Von den
vier Hauptwerken, die zwischen dem 5. und 20. Mai uraufgeführt
wurden, folgten zwei dieser Richtung: José María Sánchez-Verdús
„Gramma. Gärten der Schrift“ sowie Aureliano Cattaneos
„La philosophie dans le labyrinthe“, das nach einem
Libretto von Edoardo Sanguineti mit dem Stiermenschen Minotaurus
der Ambiguität nachspürte. Zugleich zeigte Cattaneos Dreiakter
die große Bedeutung der klassisch-antiken Mythenwelt für
das heutige Musiktheater.
Im Juli war dies auch Thema des Symposions „Schweigen die
Sirenen?“ – in Anlehnung an Rolf Riehms Oper „Das
Schweigen der Sirenen“ – in der Tutzinger Evangelischen
Akademie. So gesehen folgt Younghi Pagh-Paans Kammermusiktheater
„Mondschatten“, das am 21. Juli beim ISCM World New
Music Festival als Auftrag der Staatsoper Stuttgart uraufgeführt
wurde, dem aktuellen Trend. Denn das Libretto, das die Stuttgarter
Chefdramaturgin Juliane Votteler in Zusammenarbeit mit der Komponistin
erarbeitet hat, geht auf Sophokles’ „Ödipus auf
Kolonos“ zurück: Nach seinen quälenden Irrfahrten
findet der frühere Herrscher von Theben im Eumenidenhain inneren
Frieden und wird zu den Göttern abberufen.
Darüber hinaus wurden Texte des koreanischen Philosophen Byung-Chul
Han sowie zen-buddhistische Haikus einbezogen. Doch bleiben diese
kulturellen Verflechtungen nicht abstrakter Selbstzweck, sondern
verweisen auf existenzielle Fragestellungen. Bevor nämlich
Ödipus seinen inneren Frieden findet und zu den Göttern
abberufen wird, sieht er sich gezwungen, sich unter dem Schutz des
Koloneer Landesherren Theseus gegen seinen Widersacher Kreon und
seinen Sohn Polyneikes zu behaupten. Die Quintessenz des Werkes
ist demzufolge die Frage, wie man in den Tod geht: mit Hass und
Rachegedanken oder innerlich befriedet und geläutert?
Diese spirituellen Keime bewogen Pagh-Paan zur Zusage, als sie
Ende der neunziger Jahre von Klaus Zehelein wegen des Projekts angesprochen
wurde. Deswegen wurden zudem die Texte von Han und die zen-buddhistischen
Haikus integriert, sieht doch die aus Korea stammende Bremer Kompositionsprofessorin
in Sophokles’ spätem Ödipus zahlreiche Bindeglieder
zum Taoismus, wie sie in einem Interview für Oper&Tanz
(Ausg. 3/06, S. 10) unlängst bemerkte. Doch gab es bei der
Uraufführung viele Probleme. Da wurde im Programmheft eine
„endgültige Fassung des Originallibrettos“ abgedruckt,
die von dem gesungenen Text vielfach abwich.
Offenkundig gab es Meinungsverschiedenheiten, obwohl Votteler und
Pagh-Paan bereits 2003 für „Moira“ für Mezzosopran
und Akkordeon nach Sophokles zusammengearbeitet hatten. Die Textabweichungen
waren verwirrend, man tappte im Dunkeln. Das zweite Dilemma war
die Inszenierung unter Ingrid von Wantoch-Rekowski, die bei der
Musikbiennale Berlin 2001 Salvatore Sciarrinos „Lohengrin“
umgesetzt hatte. Schon alleine die Kostüme (Regine Becker)
bedienten westliche Fernost-Klischees, was der Idee einer Verschmelzung
der Kulturen zu etwas Neuem zuwiderlief. In sinnlosen Tanzbewegungen,
die von der Metaphorik und Symbolik in der Partitur nicht einmal
etwas ahnten, schleppten sich die Darsteller durch das Guckkasten-Spektakel.
Das Bühnenbild (Stefan Heinrichs) mit dem in einem Wasserbecken
aufgestellten, Gaze umhüllten Kubus atmete IKEA-Katalog-Ästhetik.
In diesem Würfel hockte nun das Staatsorchester Stuttgart unter
Johannes Debus, obwohl die Musiker wegen der schlechten äußeren
Bedingungen schon genug zu kämpfen hatten. Denn man saß
auf dem Pariser Platz in einem zu der Gleisschneise des Stuttgarter
Hauptbahnhofs hin offenen Innenhof eines Bürokomplexes. Die
Züge ratterten, es rauschte der Verkehr, die Polizeisirenen
heulten: Vieles blieb ungehört. Eine filigrane Verschmelzung
westlicher und fernöstlicher Einflüsse, die eine eigene
Klangwelt und neue Hörerfahrung schafft, konnte nicht erwachsen.
Da Orchester und Sänger – mit Nigel Robson (Ödipus),
Gerd Grochowski (Theseus und Kreon), Katharina Rikus (Antigone)
und Anja Metzger (Polyneikes und Sphinx 1) sehr gut besetzt –
verstärkt wurden, kam es zu einer für Pagh-Paan ungewöhnlichen
Vordergründigkeit. Die „urbane Geräuschkulisse“
sei in das musikalische Konzept miteinbezogen worden, so der Pressetext.
Tatsächlich jedoch konnte sich ein Werk nicht entfalten, von
dem musikalisch wie textlich eine erneuernde Wirkung ausgehen könnte.
Eine Aufführung im geschlossenen Raum tut not.
Marco Frei
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